Perspektive

Das Flüchtlingsdrama und das unmenschliche Gesicht des europäischen Kapitalismus

Der Flüchtlingstreck, der seit Wochen über den Balkan und Italien ins Zentrum Europas zieht, zeigt das brutale und unmenschliche Gesicht des europäischen Kapitalismus. Verzweifelte Menschen, die aus den kriegszerstörten Regionen des Nahen Ostens und Nordafrikas um ihr nacktes Leben fliehen, erleben eine unbarmherzige Tortur.

Jeder Tag liefert neue Bilder des Schreckens: Leichen, die im Mittelmeer treiben; Flüchtlinge, die ohne ausreichend Wasser und Nahrung eng zusammengepfercht in unhaltbaren sanitären Zuständen hausen; Familien mit Kleinkindern, die hunderte Kilometer zu Fuß zurücklegen; Polizisten, die mit Schlagstöcken und Tränengas gegen Wehrlose vorgehen; und immer wieder Grenzen, abgesperrt durch Stacheldraht und Sicherheitskräfte, die die Flüchtlinge gewaltsam zurückdrängen.

Erst gestern wurden in einem Lastwagen auf einer österreichischen Autobahn bis zu 50 Leichen von syrischen Flüchtlingen entdeckt, die anscheinend auf der Fahrt erstickt waren. Das abgestellte Fahrzeug fiel einem Autobahnarbeiter auf, weil Verwesungsflüssigkeit von der Ladefläche tropfte.

Die Regierungschefs und Außenminister von Österreich, Deutschland und sechs westlichen Balkanstaaten, die wenige Kilometer entfernt im beschaulichen Wien tagten, reagierten auf den grausigen Fund, indem sie die Flucht nach Europa weiter erschwerten. So soll die Außengrenze der Europäischen Union stärker abgeschottet und die Fluchtroute durch den Westbalkan besser überwacht werden. Die Schuld für das Massensterben schoben sie „kriminellen Schleppern“ zu, deren Geschäft erst dank ihrer Abschottungspolitik blüht.

Die Flüchtlingskrise führt den Mythos ad absurdum, dass die Europäische Union ein Hort des Friedens, des Wohlstands und der Völkerverständigung sei. Während die Regierungen eng zusammenarbeiten, um Europa in eine Festung zu verwandeln, an deren Grenzen Tausende sterben, liefern sie sich einen erbitterten Wettkampf, wer Flüchtlinge am wirkungsvollsten abschrecken oder möglichst schnell weiterschieben kann. Mittlerweile warnen besorgte Kommentare, das Hochziehen neuer Grenzen und der Streit um Flüchtlingsquoten könnte die EU sprengen.

Großbritannien, das bisher gerade ein Prozent der nach Europa gelangten syrischen Flüchtlinge aufnahm, gibt Millionen aus, um den Eingang zum Eurotunnel in Calais abzuschotten, wo Tausende Flüchtlinge ausharren und in diesem Jahr bereits zwölf ums Leben kamen. Immigranten, die ohne Erlaubnis arbeiten, drohen drakonische Strafen.

Ungarn, ein Durchgangsland auf der Westbalkan-Route, hat einen 3,50 Meter hohen Zaun an der EU-Außengrenze zu Serbien errichtet und erwägt, den illegalen Grenzübertritt mit jahrelanger Haft zu bestrafen.

Deutschland und Österreich, Zielländer vieler Flüchtlinge, versuchen, diese durch unerträgliche Zustände in den Aufnahmezentren, beschleunigte Abschiebeverfahren und die Kürzung von Leistungen abzuschrecken. Vor allem Deutschland übt in Zusammenarbeit mit Frankreich massiven Druck aus, die Flüchtlinge über ein Quotensystem auf andere EU-Mitglieder zu verteilen.

Das stößt insbesondere in Osteuropa auf erbitterten Widerstand. So lehnt der polnische Präsident Andrzej Duda die Aufnahme weiterer Flüchtlinge kategorisch ab. Er begründet dies unter anderem damit, dass sein Land mit einer neuen Flüchtlingswelle aus der Ukraine rechne, wo sich der Bürgerkrieg zwischen dem vom Westen gestützten Poroschenko-Regime und den prorussischen Rebellen verschärft.

Der tschechische Vizepremier Andrej Babis, ein milliardenschwerer Unternehmer, fordert den Einsatz der Nato, um „den Schengenraum nach außen abzuschließen“. Er bezeichnet den Zustrom von Flüchtlingen als „größte Gefahr für Europa“.

Die Antwort großer Teile der Bevölkerung steht in scharfem Gegensatz zur Reaktion der herrschenden Eliten. Vor allem in Deutschland schlägt den Flüchtlingen eine Welle der Hilfsbereitschaft entgegen, die die offizielle Politik überrascht und schockiert.

So wurden in einer Hamburger Messehalle, in der seit zwei Wochen 1100 Flüchtlinge aus Syrien und Eritrea leben, mehrere Tonnen Sachspenden angeliefert. Tausende von Hamburgern spendeten Kleidung, Spielzeug, Decken oder kauften fehlende Hygieneartikel. Während die Behörden die Flüchtlinge schikanieren und dies mit ihrer angeblichen „Überforderung“ begründen, haben hunderte freiwillige Helfer eine Versorgungskette aufgebaut, die die Spenden im ganzen Bundesgebiet verteilt und Sprachkurse und medizinische Versorgung organisiert.

Über diese Hilfsbereitschaft berichten die Medien nur sporadisch, während ausländerfeindliche Demonstrationen neonazistischer Gruppen, die von den Geheimdiensten durchsetzt sind, und die Taten nächtlicher Brandstifter die Schlagzeilen füllen. Das hat aber die Welle der Hilfsbereitschaft nicht geschwächt, sondern eher noch verstärkt.

Das Ausmaß der Unterstützung für die Flüchtlinge ist nicht nur ein Ausdruck elementarer Humanität. Viele verstehen instinktiv, dass die Flüchtlinge Opfer eines Gesellschaftsystems sind, das auch ihr Leben bedroht.

Die imperialistischen Kriege im Irak, in Afghanistan, in Libyen und in Syrien, die ganze Gesellschaften zerstörten und die Hauptursache für die Flüchtlingswelle sind, fanden nie Rückhalt in der Bevölkerung. Hinzu kommt, dass Arbeiter in ganz Europa seit Jahren erleben, wie ihr Lebensstandard sinkt, während sich eine kleine Minderheit an der Spitze der Gesellschaft grenzenlos bereichert.

Das Flüchtlingsdrama ist der schärfste Ausdruck der Krise eines Gesellschaftssystems, das mit den elementarsten Lebensbedürfnissen der überwiegenden Mehrheit der Menschheit nicht mehr zu vereinbaren ist.

1940, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, erklärte die Vierte Internationale: „Die Welt des verfaulenden Kapitalismus ist überfüllt. Die Frage der Zulassung von hundert zusätzlichen Flüchtlingen wird ein großes Problem für eine Weltmacht vom Range der Vereinigten Staaten. In der Zeit des Flugzeugs, Telegraphs, Radios, Fernsehens wird das Reisen von Land zu Land durch Pässe und Visen lahmgelegt. Die Periode des schwindenden Außenhandels und verfallenden inneren Marktes ist gleichzeitig die Periode der monströsen Steigerung des Chauvinismus, insbesondere des Antisemitismus.“

Diese Worte sind heute hochaktuell. Der Kapitalismus, der auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruht und jeden Aspekt des wirtschaftlichen Lebens den Profitansprüchen der Finanzoligarchie unterordnet, ist nicht mit den Bedürfnissen einer Weltgesellschaft vereinbar, die aus sieben Milliarden Menschen besteht, die wirtschaftlich eng verflochten und voneinander abhängig sind. Der Nationalstaat, auf dem der Kapitalismus beruht, steht in unversöhnlichem Gegensatz zur Weltwirtschaft, die auf internationaler Arbeitsteilung beruht.

Der unmenschliche Umgang mit Flüchtlingen, die Errichtung neuer, unüberwindlicher Grenzen, die Aufrüstung des Staatsapparats und das Wachstum des Militarismus sind die Antwort der herrschenden Eliten auf die unlösbaren Widersprüche des Kapitalismus. Die Inhumanität gegenüber den Flüchtlingen ist keine individuelle Frage, sie ist Ausdruck eines zutiefst inhumanen Systems.

Loading