Die wirtschaftlichen Vorschläge von Jeremy Corbyn, der für den Vorsitz der Labour Party kandidiert, lösten in einigen Kreisen Entsetzen aus.
Der stellvertretende Chefredakteur des Daily Telegraph, Allister Heath, sagte eine „Katastrophe für Großbritannien“ voraus, sollte der „unbelehrbare Sozialist“ Corbyn Vorsitzender der Labour Party werden. Sein Wahlsieg würde „der pro-kapitalistischen Seite einen schweren Schlag versetzen und eine Rückkehr in die kämpferischen 1980er Jahre bedeuten ... Klassenkampf, extreme Sprache und unsinnige Positionen.“ Der Finanzminister des Labour Schattenkabinetts Chris Leslie verurteilte Corbyns angeblich „blauäugigen, linksradikalen“ Plan.
In Wirklichkeit basieren Corbyns Wahlkampf und seine politischen Rezepte auf zwei miteinander verknüpften Erwägungen.
Er hatte nach Labours katastrophalem Wahlergebnis bei der Parlamentswahl im Mai beschlossen, zur Wahl des Parteivorsitzenden anzutreten. Da der weit verbreitete Widerstand gegen die Sparpolitik Labours der Hauptgrund für die massiven Stimmenverluste war, versucht Corbyn, mit einer „linken“ Fassade Wähler zurückzugewinnen. Doch Corbyn hat immer darauf beharrt, dass nicht mehr zu erreichen sein wird als geringfügige Reformen durch eben die Labour Party, die er doch so kritisiert.
Angesichts einer immer tieferen Systemkrise ist es sein Ziel, „den Kapitalismus vor sich selbst zu retten“, wie es der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis formuliert hatte. Er spricht für einen Teil der herrschenden politischen Kreise, die der Auffassung sind, eine Fortsetzung des uneingeschränkten Sparkurses könnte den britischen und den Weltkapitalismus in eine zweite Wirtschaftskrise führen.
In seinem Strategiepapier „Die Wirtschaft im Jahr 2020“ heißt es: "Labour muss für Ausgleich in der Wirtschaft und für eine gleichberechtigte Beteiligung von Arbeitern und Regierung im Prozess der Vermögensbildung sorgen. Wichtig ist, in jedem Wirtschaftssektor Innovationen zu fördern, sowie Investitionen in Qualifikationen und Infrastruktur, um größere Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Gleichheit zu erreichen."
Corbyn erklärt, er werde statt der Haushaltskürzungen des konservativen Finanzministers George Osborne eine Form von „quantitativer Lockerung [QL] für Menschen anstatt für die Banken“ einführen. Sein Plan sieht vor, die Bank of England zu ermächtigen, Geld zu drucken, das an eine neue staatlich kontrollierte Investmentbank weitergegeben werden soll, um öffentliche Hightech-Infrastruktur zu finanzieren.
Corbyns Programm richtet sich weder gegen die Marktwirtschaft, noch gegen die großen Konzerne und Banken. Er betonte, er wolle nicht mehr als „einige der reichsten Personen und der größten Konzerne“ dazu bringen, einen „gerechten Anteil“ beizusteuern. Die Körperschaftssteuern werden bei etwa zwanzig Prozent bleiben – unter Thatcher lagen sie noch bei 34 Prozent – und der Einkommenssteuer-Spitzensatz wird bei 50 Prozent bleiben. Um überhaupt Geld von den Unternehmen einzutreiben, soll ein neues Gesetz gegen Steuerhinterziehung und Steuerflucht verabschiedet werden, das angeblich die geschätzten 120 Milliarden Pfund Mehreinnahmen bringen soll, die jedes Jahr verloren gehen – dazu sollen weitere 50 bis 60 Milliarden Pfund für eine Ausweitung bestehender und weitaus größerer QL-Programme kommen.
Corbyns Programm basiert zu einem großen Teil auf den Arbeiten von Richard Murphy von der Green New Deal Group, die eng mit dem Trades Union Congress verbunden ist. Murphy fordert in seinen Schriften effizientere Steuererhebung und quantitative Lockerung als Ausweg aus der Wirtschaftskrise. In einem Buch aus dem Jahr 2011 sprach sich Murphy für das Konzept „mutiger Staaten“ aus. Damit meinte er Regierungen, die bereit sind, „die Welt der ungezügelten Finanzwirtschaft einzudämmen [und] die Rolle des Staates bei der Unterstützung echter wirtschaftlicher Aktivität wiederherzustellen.“
Im Januar appellierte Murphy sogar an Osborne, vor der Wahl im Mai ein Programm „quantitativer Lockerung für grüne Infrastruktur“ in seinen endgültigen Haushaltsplan aufzunehmen. Mit höflichem Verweis auf die Tatsache, dass das QL-Programm in Höhe von 375 Mrd. Pfund zur Rettung der Banken nicht für Investitionen gesorgt, sondern nur die Kurse für Wertpapiere in die Höhe getrieben habe, versicherte Murphy dem Finanzminister, seine Vorschläge könnte man „durchführen, ohne neue Schulden aufzunehmen, die in der Zukunft zurückgezahlt werden müssten.“
Mittlerweile behauptet Murphy, seine „Ideen für eine derartige quantitative Lockerung gehören in Europa bereits zum Mainstream ... Ich glaube, diese Wirtschaftspolitik wird den Unternehmergeist in Großbritannien wiederbeleben, indem sie gleiche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen schafft und die nötige Infrastruktur für ihren Erfolg bereitstellt.“ [Hervorhebung hinzugefügt].
Ungeachtet der rechten Hysterie gegen Corbyns Vorschläge zur Stimulierung der Wirtschaft wurden sie von anderen als das anerkannt, was sie sind. Der Ökonom Alan Shipman von der Open University schrieb: „Wer eine Ansammlung von undurchdachten populistischen Versprechungen erwartet hat, wird feststellen, dass Jeremy Corbyns Wirtschaftsprogramm im Tonfall überraschend vernünftig ist. Es beginnt mit einem Loblied auf die Vermögensbildung und dreht sich um die Verpflichtung, das britische Haushaltsdefizit effektiver anzugehen, als es die Konservativen getan haben.“
Corbyns so überaus „vernünftige“ Vorschläge sind in Wirklichkeit die unrealistischste Reaktion auf die derzeitige Krise, die man sich nur denken kann.
John McDonnell, der Vorsitzende der Socialist Campaign Group, der Corbyn angehört, argumentiert: „Labour wird sich unter Jeremy Corbyn verpflichten, das Defizit abzubauen und eine Wirtschaft zu schaffen, die unseren Möglichkeiten entspricht.“
Weiter sagt er, „Kürzungen der öffentlichen Ausgaben werden helfen, das Defizit abzubauen ... unsere Kürzungen werden jedoch die Subventionen für Vermieter betreffen, die die staatlichen Zuschüsse für Wohnungen ausnutzen, sowie die 93 Milliarden Pfund Subventionen an Konzerne. Sie werden sich gegen Arbeitgeber richten, die Arbeiter mit niedrigen Löhnen ausbeuten und uns die Zeche zahlen lassen.“
Er betont, das alles sei nötig, damit nicht „irgendein Funke wie [der Sturm auf die Bank] Northern Rock wieder alles ins Chaos stürzt.“
Corbyn und seine Anhänger tun weiterhin so, als sei es nur ein Versehen gewesen, dass statt der Öffentlichkeit die Banken von der QL profitiert haben. Das war jedoch kein Fehler.
Seit 2008 wurden Billionen Dollar, Euro und Pfund direkt in das Bankensystem gepumpt, um den Reichtum der Banken und der Superreichen zu retten. Die Kosten werden seither bei der arbeitenden Bevölkerung eingetrieben. Der Austeritätspolitik liegt nicht etwa ein irrtümlicher Glaube zugrunde, sie werde zu einem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung führen. Sie ist in Wirklichkeit eine Strategie des Klassenkampfs, die die hart erkämpften sozialen und demokratischen Rechte der Arbeiterklasse rückgängig machen soll.
Regierungen jeder Couleur haben dafür gesorgt, dass dieser Raubzug durch brutale Lohnsenkungen und die Abschaffung von großen Teilen der wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen und Sozialleistungen finanziert wird. Das gleiche gilt für die angebliche „Unfähigkeit“ aller Regierungen der Welt, Steuern von Unternehmen einzutreiben.
Zahlreiche Ökonomen haben gewarnt, dass eine neue Katastrophe droht und die Weltwirtschaft vor einem neuen Zusammenbruch steht. Doch die Finanzoligarchie diktiert weiterhin rücksichtslos alle Aspekte der Wirtschafts- und Sozialpolitik -- und wird dies tun, egal ob eine konservative oder eine Labour-Regierung im Amt ist.
Während Corbyn sich verhält, als führe er eine freundschaftliche Diskussion über den richtigen politischen Kurs, reagieren seine Gegner in der Labour Party mit einer Zermürbungskampagne und Sabotage und drohen mit Spaltung im Falle seines Sieges. Ihr rabiates Vorgehen liefert nur einen blassen Schimmer auf die Reaktion, mit der die herrschende Klasse jedem Versuch einer noch so geringen Einschränkung der Vermögenskonzentration am oberen Ende der Gesellschaft entgegentreten wird.
Die arbeitende Bevölkerung muss die Bedeutung von Corbyns Politik und Programm auf der Grundlage der Lehren aus Griechenland einschätzen. Alle seine Gegner, darunter die allgemein verachtete Kandidatin und Blair-Anhängerin Liz Kendall, haben gewarnt, Corbyns Wahlsieg wäre eine katastrophale Wiederholung von Syrizas gescheitertem Versuch, die Austerität mit „linken" Argumenten abzulehnen.
Das ist ein Angriff von den Rechten, die durchsetzen wollen, dass Labour einen Pro-Austeritätskurs ohne jede Abstriche verfolgt. Doch Corbyn kann dies nicht zurückweisen, weil für ihn Syriza das erstrebenswerte Modell ist.
Als die griechischen Arbeiter bei einem Referendum mit einer Zweidrittelmehrheit gegen den Sparkurs stimmten, verteidigte Corbyn öffentlich Syrizas Behauptung, das Ergebnis könnte benutzt werden, um ein besseres Ergebnis mit der Europäischen Union (EU) auszuhandeln. „In Griechenland hat die Demokratie gesprochen. Die Bevölkerung, und nicht die Finanzmärkte müssen regieren. Das ist auch eine Gelegenheit für die Europäische Kommission, zur Besinnung zu kommen, sich zu einem Europa der Solidarität zu bekennen und das menschliche Leid in Griechenland zu beenden.“
Nur wenige Tage später zeigten Syriza und die EU unmissverständlich ihre Verachtung für die demokratisch geäußerten Wünsche der griechischen Wähler. Syriza, die die unabhängige Mobilisierung der Arbeiter und Jugendlichen gegen das Profitsystem erbittert ablehnt, ist jetzt ein Werkzeug zur Durchsetzung weiterer Sparmaßnahmen.
Griechenland beweist, dass eine erfolgreiche Strategie gegen die Sparpolitik einen Kampf gegen die herrschende Klasse, ihren Staatsapparat und den Kapitalismus selbst erfordert. Corbyns Wahlkampagne bemüht sich dagegen, Illusionen in kleine Reformschritte durch eine Labour-Regierung zu schüren, und dient dazu, die Arbeiterklasse angesichts der politischen Realitäten zu entwaffnen.