Proteste gegen Polizeigewalt in den USA

St. Louis County im US-Bundesstaat Missouri ruft Notstand aus

Am Montag eskalierten Proteste anlässlich des ersten Jahrestages des Polizeimordes an Michael Brown, nachdem am Sonntagabend zuvor der achtzehnjährige Tyrone Harris niedergeschossen wurde. Der Bezirkschef von St. Louis County, Steve Stenger, rief daraufhin am Montag den Notstand aus.

Die Umstände, unter denen Harris niedergeschossen wurde, sind noch nicht geklärt, aber es ist bekannt, dass vier Polizeibeamte in Zivil ihn am Rande einer Demonstration in der West Florissant Street in Ferguson, Missouri, mit mehreren Kugeln niederstreckten.

Harris schwebt noch immer in Lebensgefahr, nachdem seine Schusswunden operiert wurden. Bisher wurden seit Sonntagabend mehr als einhundert Menschen in der Region St. Louis verhaftet, während schwer bewaffnete Polizeibeamte in die Stadt beordert wurden. Sie setzten Tränengas und Gummigeschosse gegen Demonstranten ein.

Bezirkschef Stenger erklärte, die Ausrufung des Notstandes sei notwendig, um „mögliche Schäden an Personen und Eigentum“ zu verhindern. Er fügte hinzu: „Die derzeitigen Gewalttaten werden nicht toleriert.“

In Wirklichkeit blieben die Demonstranten weitgehend friedlich, Gewalt ging nur von der Polizei aus. Es wird in den USA zunehmend üblich, präventiv den Notstand auszurufen und diese Maßnahme mit der hypothetischen Möglichkeit zu rechtfertigen, es könnte zu Gewalttätigkeiten kommen.

Die Ankündigung erinnert an die präventive Verhängung des Notstandes durch den Gouverneur von Missouri, Jay Nixon, im letzten Jahr im Vorfeld der Entscheidung einer Grand Jury vom 25. November, keine Anklage gegen Michael Browns Mörder, den Polizeibeamten Darren Wilson, zu erheben. Nixon mobilisierte gleichzeitig die Nationalgarde, die Massenverhaftungen von Demonstranten durchführte.

Die Washington Post enthüllte am Montag außerdem, dass einer ihrer Reporter namens Wesley Lowery des Hausfriedensbruchs und der Behinderung eines Polizeibeamten beschuldigt werde, nachdem er letztes Jahr schon unter haltlosen Vorwürfen festgenommen worden war, und am 24. August vor einem städtischen Gericht in St. Louis County erscheinen muss. Er war nur einer von mehr als einem Dutzend Journalisten, die festgenommen wurden, weil sie das Vorgehen der Polizei in Ferguson vor einem Jahr dokumentiert hatten.

Weniger als eine Stunde nachdem Stenger den Notstand ausgerufen hatte, wurden 57 Teilnehmer an einer Demonstration vor dem Bundesgerichtsgebäude von St. Louis County festgenommen. Dass die friedlichen Demonstranten bezeichnenderweise von Beamten des Ministeriums für Heimatschutz festgenommen wurden, zeigt, wie eng die staatlichen Geheimdienste mit lokalen Polizeibehörden zusammenarbeiten.

Dem Polizeichef von St. Louis County, Jon Belmar, wurde für die Dauer des Notstandes die Leitung der Polizei von Ferguson übertragen.

Tyrone Harris wurde am Sonntag um 23:15 Uhr in den Arm, die Beine, den Rücken, die Brust, die Leber und den Leistenbereich geschossen und in das jüdische Krankenhaus gebracht; seiner Familie wurde später der Zutritt verwehrt. Die offizielle Darstellung der Polizei, wie es zu den Schüssen auf Harris kam, wird von der Familie des Jugendlichen seither intensiv geprüft. Sein Vater, Tyrone Harris Senior, behauptet, sein Sohn sei unbewaffnet gewesen und bezeichnete die Darstellung der Polizei als einen „Haufen Lügen.“ Er verriet außerdem, dass sein Sohn eng mit Michael Brown befreundet war und an den Protesten anlässlich seines Todestages teilgenommen hatte.

Harris Sr. behauptet, zwei Zeugen, die mit seinem Sohn zusammen waren, hätten ihm bestätigt, dass er unbewaffnet war und nur in eine Streiterei zwischen zwei Gruppen von Jugendlichen geraten war. Die beiden Zeugen erklärten Harris Sr., sein Sohn sei „um sein Leben gerannt“, als die Polizisten acht bis zwölfmal auf ihn schossen. Die Beschreibung erinnert beängstigend an die Ermordung des unbewaffneten Michael Brown durch den Beamten Darren Wilson vor einem Jahr.

Harris' Freundin Qunesha Coley erklärte der Washington Post, sie und Harris seien nach Ferguson gekommen, um Browns Tod zu gedenken und hätten sich nach der Ankunft mit ein paar Freunden getroffen, die einen Fernseher gestohlen hatten. Coley sagte, als sie versuchten, den Fernseher an eine andere Gruppe von Jugendlichen zu verkaufen, hätten diese stattdessen begonnen zu schießen, Harris und Coley seien daraufhin geflohen.

Harris Sr. sagte: „Mein Sohn lief zur Polizei und suchte Hilfe, und er wurde niedergeschossen. Es sind alles Lügen... Sie stellen meinen Sohn als Verbrecher hin.“

Belmar behauptete am Montagmorgen auf einer Pressekonferenz, Harris Jr. sei bewaffnet gewesen und habe zu einer Gruppe von etwa sechs Menschen gehört, die sich am Sonntagabend nahe der Protestveranstaltung eine Schießerei geliefert hätten. Weiter erklärte er, Harris habe versucht zu fliehen und sei von einem Zivilfahrzeug mit vier Zivilpolizisten verfolgt worden. Daraufhin habe Harris das Feuer auf das Fahrzeug eröffnet. Belmar erklärte, die vier Beamten hätten Harris zu Fuß weiter verfolgt und erst auf ihn geschossen, als er erneut auf sie schoss. Keiner der vier Beamten erlitt während des angeblichen Feuergefechtes Verletzungen.

Belmar behauptet, bei Harris sei eine 9mm-Pistole gefunden worden, sein Vater bestreitet diesen Vorwurf. Er sagte dazu: „Die Fingerabdrücke meines Sohnes sind nicht auf dieser Waffe. Er wurde niedergeschossen wie ein Tier.“

Praktischerweise trug keiner der beteiligten Beamten eine Körperkamera, und auch in dem Zivilauto befand sich keine Kamera am Armaturenbrett.

Die Staatsanwaltschaft von St. Louis County kündigte ein Strafverfahren in zehn Anklagepunkten gegen Harris an, darunter tätlicher Angriff ersten Grades auf einen Polizeibeamten, fünf Anklagepunkte wegen bewaffneter Kriminalität und einen wegen der angeblichen Schüsse auf das Fahrzeug. Seine Kaution wurde auf 250.000 Dollar festgesetzt. Alle vier beteiligten Beamten wurden in bezahlten Urlaub geschickt.

Von den Polizisten, die gegen Demonstranten eingesetzt wurden, trugen die meisten Schutzwesten und wurden von minensicheren, vor Hinterhalten geschützten Panzern und anderem Kriegsgerät unterstützt. Gleich nachdem Harris niedergeschossen wurde, trieb die Polizei die restlichen Demonstranten unter massivem Einsatz von Tränengas und Rauchgranaten auseinander.

Das brutale Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten bildete einen krassen Gegensatz zu den friedlichen Gedenkmärschen am Sonntag. Mehr als eintausend Menschen aus dem ganzen Land versammelten sich um die Mittagszeit an der Stelle in dem Apartmentkomplex Canfield Green, wo Brown getötet wurde. Danach begannen sie einen 3,5 Kilometer langen „Schweigemarsch“ mit Browns Familie zur West Florissant Avenue.

Etwa 300 Menschen versammelten sich in der Kirche Greater St. Mark Family Church zu einer viereinhalbminütigen Schweigeminute - symbolisch für die viereinhalb Stunden, die Browns Leiche auf der Straße lag, nachdem er erschossen wurde. Erica Garner, die Tochter von Eric Garner, der letztes Jahr auf Staten Island in New York erdrosselt wurde, hielt in der Kirche eine Rede. Auch Verwandte von Oscar Grant, einem weiteren Jugendlichen, der 2009 in Oakland, Kalifornien, von der Polizei ermordet wurde, waren anwesend.

Am Sonntag fanden im ganzen Land Solidaritätsdemonstrationen statt, u.a. in New York City, Pittsburgh, Denver, Olympia, Washington, St. Petersburg, Florida, Cambridge, Massachussetts, Ypsilanti, Michigan und im Gefängnis von Waller County in Hempstead, Texas, wo letzten Monat Sandra Bland tot aufgefunden wurde. In London versammelten sich Demonstranten vor der amerikanischen Botschaft. Für den Rest der Woche sind zahlreiche weitere Demonstrationen geplant.

In den zwölf Monaten seit dem Polizeimord an Michael Brown am 9. August wurden mindestens 1.159 weitere Menschen in den USA von Polizisten ermordet. Die Obama-Regierung hat alles in ihrer Macht stehende getan, um sicherzustellen, dass keiner der uniformierten Mörder mit einer Anklage rechnen muss. Das Justizministerium besiegelte im März die Straffreiheit des Mörders von Michael Brown, indem es ihn nicht wegen Verstoßes gegen Browns Bürgerrechte anzeigte. Damit bestätigte das Ministerium de facto, dass die Polizei das Recht hat, ungestraft zu morden.

Derweil hat die Obama-Regierung hinter dem Rücken der Bevölkerung lokalen Polizeibehörden weitere Militärausrüstung im Wert von Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt, darunter Panzerfahrzeuge und Sturmgewehre, die auch jetzt wieder in Ferguson zum Einsatz kommen.

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