Das militärische Eingreifen der Türkei in den syrischen Bürgerkrieg eröffnet ein neues Stadium der imperialistischen Neuaufteilung des Mittleren Ostens. Das mit Washington abgestimmte Vorgehen Ankaras verschärft die Konflikte in der Region und innerhalb der Türkei und beinhaltet enorme Gefahren für die Arbeiterklasse.
Die Türkei hat sich Ende letzter Woche dem US-geführten Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) in Syrien angeschlossen. Vorangegangen waren mehrwöchige Verhandlungen mit einer hochrangigen US-Delegation und ein Telefongespräch zwischen Tayyip Erdoğan und Barack Obama, dem türkischen und dem amerikanischen Präsidenten.
Die US-Luftwaffe darf jetzt ihre Stützpunkte im türkischen İncirlik und Diyarbakir für Aufklärungsflüge und Angriffe auf den IS in Syrien und dem Irak benutzen, die türkischen Streitkräfte beteiligen sich selbst am Krieg gegen den IS in Syrien und in der Türkei selbst ließ die Regierung hunderte angebliche IS-Unterstützer verhaften.
Die Vereinbarung zwischen Washington und Ankara beruht auf einem schmutzigen Deal: Als Gegenleistung für die Beteiligung Ankaras am Krieg gegen den IS gab Washington grünes Licht für Angriffe auf kurdische Organisationen, die bisher im Kampf gegen den IS an vorderster Front standen und teilweise von den USA militärisch unterstützt wurden.
Hauptziel der türkischen Angriffe vom Wochenende war nicht der IS, sondern die kurdische Arbeiterpartei PKK und ihr syrischer Ableger PYD/YPG. Während die türkische Luftwaffe nach eigenen Angaben den IS beschoss, ohne den syrischen Luftraum zu verletzen, drang sie am Samstag und Sonntag tief in den Nordirak ein, um Stellungen der PKK zu bombardieren, die dort ihr Hauptquartier hat. Sie hat damit den seit sechs Jahren andauernden „Friedensprozess“ mit der PKK praktisch beendet.
Laut Berichten der Kurdenmiliz YPG, die von der Syrischen Beobachtungstelle für Menschenrechte bestätigt wurden, haben türkische Panzer auch deren Stellungen im nordsyrischen Dorf Sor Maghar angegriffen. Die türkische Regierung bestreitet allerdings, dass die PYD/YPG zu ihren militärischen Zielen gehöre.
Washington bezeichnete die Angriffe auf die PKK, die in den USA offiziell als „terroristische Vereinigung“ gilt, als legitim. Die Türkei habe ein Recht darauf, sich gegen terroristische Angriffe durch Kurden zu verteidigen, hieß es aus dem Weißen Haus.
Aus der Europa kam dagegen Kritik. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen forderten die türkische Regierung auf, den friedlichen Prozess mit den Kurden nicht zu gefährden. Deutschland beliefert die irakische Kurdenmiliz Peschmerga – und damit indirekt auch die syrischen Kurden – mit Waffen und bildet sie aus.
Ein Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bezeichnete die Differenzen zwischen Amerikanern und Europäern als „ziemlich massiv“. „Offenbar ist man in Washington gewillt, eine türkische Eskalation im Kurdenkonflikt als Preis für eine höhere Durchschlagskraft gegen den IS in Kauf zu nehmen“, schrieb Nikolas Busse. „Die Europäer dagegen haben stärker den Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden im Auge, auch wenn der in jüngster Zeit nicht mehr recht vorangekommen ist.“ Er warnte: „Es wäre besser, wenn dieser transatlantische Dissens nicht auf die Spitze getrieben würde.“
Am heutigen Dienstag soll auf türkisches Ersuchen ein Nato-Gipfel stattfinden, um die wachsenden Differenzen zu klären.
Die türkische Regierung verbindet ihre Angriffe auf kurdische Stellungen in Syrien und im Nordirak mit einem massiven Vorgehen gegen die Opposition im Innern. Unter den Hunderten, die am Wochenende verhaftet wurden, befinden sich neben IS-Anhängern auch zahlreiche Unterstützer der PKK sowie linke Aktivisten.
Am Sonntag verbot die Regierung einen „Friedensmarsch“ in Istanbul, mit dem die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) den Opfern des Anschlags von Suruç gedenken wollte. Ein Selbstmordattentäter des IS hatte dort 32 Menschen getötet und rund hundert verletzt, die zum Wiederaufbau in die syrisch-kurdische Stadt Kobane fahren wollten. Der Regierung hatte mit diesem Anschlag ihr militärisches Vorgehen gegen den IS gerechtfertigt.
Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und Präsident Tayyip Erdoğan reagieren mit dem militärischen Eingreifen in Syrien und der Unterdrückung der Opposition auf eine wachsende innen- und außenpolitische Krise.
Die türkische Wirtschaft, deren hohe Wachstumsraten der AKP bisher sichere Mehrheiten garantierten, ist schwer angeschlagen. Das angepeilte Wachstum von 4 Prozent wird in diesem Jahr nicht mehr erreicht, und für das kommende Jahr liegen die Prognosen nur bei 3 Prozent. Die Sanktionen gegen Russland, fallende Warenpreise und die unsichere Lage in der Region lassen Exporte und Tourismus einbrechen. Aufgrund der hohen Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizite ist die Türkei auf den ständigen Zustrom von Auslandsinvestitionen angewiesen, sonst drohen Währungszerfall und galoppierende Inflation. Hinzu kommt der Zustrom von zwei Millionen Flüchtlingen aus dem Irak und Syrien, der die Regierung nach eigenen Angaben bisher 6 Milliarden Dollar gekostet hat.
Bei der Parlamentswahl im Juni verlor die seit 2002 regierende AKP ihre absolute Mehrheit, weil die pro-kurdische HDP unter ihrem neuen Führer Selahattin Demirtaş die Zehn-Prozent-Hürde überwand und ins Parlament einzog. Regierungschef Davutoglu muss bis zum 23. August einen Koalitionspartner finden, was ihm bisher nicht gelungen ist. Danach kann Präsident Erdogan das Parlament auflösen und Neuwahlen anordnen.
Viele Beobachter gehen davon aus, dass Erdogan mit dem Vorgehen gegen die PKK, die ihrerseits mit Anschlägen in der Türkei antwortet, und dem Eingreifen in Syrien eine Kriegs- und Bürgerkriegshysterie schüren will, die es der AKP ermöglicht, bei Neuwahlen wieder die Mehrheit zu gewinnen.
Erdogan und die AKP stecken aber auch außenpolitisch in einer Sackgasse. Ihre Perspektive, auf den Spuren des Osmanischen Reichs zur führenden Regionalmacht im arabischen Raum aufzusteigen, erhielt einen ersten schweren Schlag, als das Militär in Ägypten vor zwei Jahren Präsident Mohammed Mursi stürzte, mit dessen Moslembrüder die AKP zusammenarbeitete.
In Syrien setzte Ankara auf den Sturz des Assad-Regimes. Es unterstützte dessen Gegner, einschließlich des IS, die aus der Türkei fast ungehindert agieren konnten. Das war ursprünglich auch der Kurs der USA, die in Zusammenarbeit mit den Golfmonarchien die islamistischen Milizen bewaffneten und unterstützten.
Als der IS dann in den Irak vorrückte und das Regime in Bagdad gefährdete, vollzog Washington eine Kehrtwende, flog Luftangriffe gegen den IS und unterstützte dessen Gegner – hielt aber gleichzeitig am Ziel fest, das Assad-Regime zu stürzen. Ankara machte diesen Kurswechsel nicht mit, weil es die Entstehung eines unabhängigen Kurdenstaats im Norden des Iraks und Syriens fürchtete.
Teil der Vereinbarung mit Washington ist nun die Einrichtung einer Pufferzone in Nordsyrien, die die Entstehung eines solchen Kurdenstaats verhindern soll. Die beiden Regierungen halten zwar mit Informationen zurück und verweisen auf laufende Verhandlungen, da die Errichtung einer offiziellen Flugverbotszone die Einwilligung des UN-Sicherheitsrats und damit Russlands und Chinas erfordern würde. Dass es aber eine entsprechende Vereinbarung gibt, berichten zahlreiche Meiden.
So schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Die den Amerikanern erteilte Erlaubnis, den Luftwaffenstützpunkt im südtürkischen Incirlik für Angriffe gegen den IS zu nutzen, wird mit den (mutmaßlichen) türkischen Plänen zur Errichtung einer 90 Kilometer langen und bis zu 50 Kilometer tiefen Flugverbotszone in Nordsyrien in Verbindung gebracht.“
Die F.A.Z. zitieret aus einer eben erschienenen Analyse des „Zentrums für strategische Nahoststudien“ (Orsam) in Ankara, in der es heißt: „Ohne eine militärische Intervention der Türkei (in Syrien) ist es höchst wahrscheinlich, dass die Kurden mit amerikanischer Luftunterstützung die Gegenden zwischen den (kurdisch kontrollierten) Städten Afrin und Kobane (in Syrien) erobern werden.“
„Ein durchgehender, kurdisch kontrollierter Gürtel vom Irak im Osten bis nach Syrien im Westen“, so die F.A.Z., „werde jedoch ‚die geographische Verbindung zwischen der Türkei und der arabischen Welt durchtrennen.‘“ Da sich die Gefahr „eines aus einem irakischen Staatszerfall hervorgehenden unabhängigen Kurdenstaates“ vergrößere, wolle „Ankara wenigstens die Entstehung eines weiteren zusammenhängenden kurdischen Herrschaftsgebiets in Syrien unterbinden“.
Ein weiterer Anlass, der Ankara zu einem Kurswechsel in Syrien bewogen hat, ist das in Wien am 14. Juli vereinbarte Nuklearabkommen mit dem Iran. Die türkische Wirtschaft dürfte von der Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran zwar profitieren, da das Nachbarland zu ihren wichtigsten Handelspartnern zählt. Aber für die Regionalmachtambitionen Ankaras ist das Abkommen ein weiterer Schlag.
Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu kommentierte es mit den Worten: „Der Iran sollte konstruktiv sein und den politischen Dialog wichtig nehmen… Insbesondere sollte er seine Rolle in Syrien, Irak und im Libanon überdenken.“ Die auf den Mittleren Osten spezialisierte Website Al-Monitor interpretierte den zweiten Teil dieser Aussage so: „Die Türkei und der Iran stehen vom Golf bis zum Mittelmeer, in Mesopotamien und der Levante im Konflikt. Ein vom Westen gestärkter Iran wird den regionalen Status der Türkei weiter untergraben.“