Perspektive

Nach dem Fall von Ramadi: Was steckt hinter den gegenseitigen Vorwürfen?

Die Eroberung von Ramadi, Hauptstadt der irakischen Provinz Anbar, durch den Islamischen Staat (IS) hat zu einer Reihe von Vorwürfen und Gegenvorwürfen geführt, wer dafür verantwortlich sei.

Ein ähnliches Debakel der irakischen Sicherheitskräfte gab es bereits von knapp einem Jahr, als die Armee bei Mossul unterlag, der zweitgrößten Stadt im Irak. Seit fast zehn Monaten führen die USA Luftangriffe durch, rüsten das irakische Militär auf und haben 3.000 Soldaten entsandt, um Bagdad zu unterstützen – doch dies alles hat offensichtlich kaum dazu geführt, den IS zurückzudrängen oder gar zu besiegen.

US-Verteidigungsminister Ashton Carter erklärte höchst unverblümt, dass es den irakischen Streitkräften an „Kampfeswillen“ fehle, da sie sich angesichts der IS-Offensive einfach auflösten. Ähnlich erklärte US-Generalstabschef Martin Dempsey, die irakischen Sicherheitskräfte seien „nicht aus Ramadi vertrieben worden. Sie sind aus Ramadi abgehauen.“

Aus den Reihen der irakischen Regierung und Streitkräfte wie auch aus dem Iran ist eine andere Erklärung zu vernehmen. Der IS konnte demnach durch die im August letzten Jahres begonnene US-Intervention nicht besiegt werden, da Washington, ungeachtet des „Kriegs gegen den Terror“, in Wirklichkeit nicht vorhabe, die islamistischen Kräfte zu vernichten.

Dass diese Auffassung weit verbreitet ist, wurde auch deutlich, als letzte Woche der Oberste Kommandeurs der Spezialstreitkräfte im Irak, Brigadegeneral Kurt Crytzer eine Rede hielt. Er sprach in Tampa, Florida auf der Wirtschaftstagung Spezialstreitkräfte, einem Forum für den militärisch industriellen Komplex, und berichtete, dass man im Irak, auch in dessen Sicherheitsapparat, allgemein glaube, das Pentagon würde den IS „wieder aufrüsten“.

„Ohne effektive Gegensteuerung machte diese Sichtweise rasch überall im Irak die Runde“, erklärte Crytzer. „Nicht nur die Armen und Ungebildeten glauben das.“ Das Ergebnis sei, so fügte er hinzu, dass die US-Streitkräfte Gefahr liefen, von Irakern angegriffen zu werden, die gegen den IS kämpfen. Als Beispiele führte er Spannungen zwischen amerikanischen und irakischen Truppen an und berichtete von einem Angriff auf einen US-Hubschrauber, von dem angenommen wurde, dass er die Islamisten mit Waffen beliefere.

Crytzer erklärte nicht, warum ein derartiges „Gerücht” auf so breiten Widerhall in der irakischen Bevölkerung treffen konnte. Die Medien berichteten über seine Rede und nannten den Vorwurf, die USA würden den IS unterstützen, eine „Verschwörungstheorie“.

Zweifellos gibt es „Verschwörungstheorien“ - historische Entwicklungen und Ereignisse erscheinen demnach als Ergebnis von Komplotten, die durch Intrigen an der Spitze der Gesellschaft ausgebrütet wurden. Aber es gibt durchaus auch gut dokumentierte Verschwörungen des US-Imperialismus im Nahen Osten. Diese Verschwörungen, die nicht immer zu den gewünschten Resultaten führten, haben in den letzten zehn Jahren ganze Gesellschaften zerstört.

Ganz als ob sie den irakischen Verdacht bestätigen wolle, auf den General Crytzer sich bezog, hat die US-Regierung auf Antrag der rechtsgerichteten Vereinigung Judicial Watch im Rahmen des Rechts auf Informationsfreiheit der Öffentlichkeit eine Reihe von geheimen Dokumenten zugänglich gemacht. Darunter befindet sich ein Geheimbericht der US Defense Intelligence Agency (DIA) vom 12. August 2012.

Judicial Watch sucht in diesem Dokument eine Bestätigung für die Behauptung der Republikaner, dass die Obama-Regierung – insbesondere Hillary Clinton – in Zusammenhang mit dem Angriff auf das Konsulat und die CIA-Einrichtungen in Bengasi gelogen haben. Verbohrt in ihre rechten Ansichten ignorieren sie geflissentlich die weit aufschlussreicheren Inhalte des Berichts von 12. August 2012.

Das stark bearbeitete siebenseitige DIA-Dokument stellt fest, dass „die Salafisten, die Muslimbruderschaft und AQI [al-Qaida im Irak] die wichtigsten Triebkräfte des Aufstands in Syrien sind“. Außerdem wird darin vermerkt, dass „der Westen, die Golfstaaten und die Türkei“ die Opposition unterstützen, während „Russland, China und der Iran“ das [Assad-] Regime unterstützen“.

In dem Dokument wird präzise vorhergesagt: „Wenn sich die Lage entwirrt, könnte ein offizieller oder inoffizieller salafistischer Zwergstaat in Ost-Syrien entstehen. […] Und genau dies wollen die Mächte, die die Opposition unterstützen, um das syrische Regime zu isolieren.“

Und zum Irak heißt es in dem Geheimbericht weiter: „Dadurch entsteht eine ideale Atmosphäre für die AQI, um in ihre ehemaligen Gebiete, nach Mossul und Ramadi zurückzukehren. […] Der ISI [Islamischer Staat im Irak] könnte auch in Verbindung mit anderen Terror-Organisationen im Irak und Syrien einen islamischen Staat ausrufen, was in Hinblick auf die Einheit des Iraks und die Sicherung seines Territoriums eine große Gefahr bedeuten würde.“

Bemerkenswerterweise entstand dieses Dokument, während die Vereinigten Staaten beständig ihre Unterstützung für die sogenannten „Rebellen” in Syrien verstärkten und die CIA in der Türkei nahe der syrischen Grenze in der Türkei einen geheimen Umschlagplatz unterhielt, um diese Kräfte mit Waffen, Geld und anderen Gütern zu versorgen. Dabei war zu diesem Zeitpunkt sehr wohl bekannt, dass die Rebellen von islamistischen Elementen wie al-Qaida dominiert wurden.

Der Bericht macht klar, dass Washington und seine Verbündeten eben jene Kräfte unterstützten, aus denen der Islamische Staat in Syrien entstand. Und sie erkannten ebenfalls, dass dieser Staat in der Nachbarschaft eine mögliche Gefahr für den Irak darstellte. Dennoch betrachteten sie ihn als wertvolle Chance, um einen Regimewechsel in Damaskus herbeizuführen und den Stellvertreterkrieg gegen die Unterstützer Syriens – den Iran, Russland und China – für sich zu entscheiden.

Man sollte nicht vergessen, dass dieses Dokument zu einem Zeitpunkt erstellt wurde, als die gesamte kleinbürgerliche Sippschaft pseudolinker Organisationen – die Socialist Organization in den USA, die Neue Antikapitalistische Partei in Frankreich, die Socialist Workers Party in Großbritannien und Linkspartei in Deutschland – diesen Stellvertreterkrieg der USA in Syrien als „Revolution“ begrüßte und sogar Waffenlieferungen der USA an die Islamisten rechtfertigte.

Wenn Washington sich jetzt im angeblichen Krieg gegen den IS zurückhält, dann nicht, wie die New York Times absurderweise in dieser Woche behauptete, weil man befürchtet, ansonsten Zivilisten zu töten. Die USA haben in den letzten zwölf Jahren Hundertausende abgeschlachtet. Vielmehr möchten sie die islamistischen Milizen schützen, die in ihrem Stellvertreterkrieg zum Sturz Assads die wichtigsten Kampfeinheiten stellen. Auch in Libyen haben sie auf ähnliche Kräfte gesetzt, um Gaddafi zu stürzen und zu ermorden.

Der militärisch-geheimdienstliche Komplex der USA mit Barack Obama an der Spitze schert sich nicht um das ungeheure menschliche Elend, das diese Politik über die Bevölkerung der Region bringt. Er trifft seine Entscheidungen auf der Grundlage strategischer Kalkulationen, in denen solche Elemente wie al-Qaida und der IS bloß Schachfiguren im größeren Plan sind, durch Aggression und Krieg die Vorherrschaft der USA zu sichern.

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