Bundesweiter Kita-Streik

Wer je in die Lage kam, eine größere Kleinkinderschar zu betreuen, wird dem Beruf der Erzieherin mit Respekt begegnen. Ihre verantwortungsvolle Arbeit wird allgemein anerkannt. So ist es kein Wunder, dass auch der aktuelle Kita-Streik trotz der Belastung, die er für Eltern bedeutet, ein hohes Maß an gesellschaftlicher Unterstützung genießt.

Seit Freitag beteiligen sich bundesweit mehr als vierzigtausend Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst an dem unbefristeten Streik, den die Gewerkschaften Verdi, GEW und dbb Beamtenbund ausgerufen haben. Zuvor war die fünfte Verhandlungsrunde mit dem Verband der Kommunalen Arbeitgeber gescheitert, und eine Urabstimmung Anfang Mai hatte eine Zustimmung zum Arbeitskampf von weit über neunzig Prozent (93,5 bei Verdi, 96 beim dbb) ergeben.

Außer den Kita-Erzieherinnen sind auch Sozialarbeiter in Behindertenschulen und -werkstätten und Sozialpädagogen im Schuldienst, in den Jugendzentren und in Kinderheimen am Streik beteiligt. Ihre Forderungen belaufen sich auf rund zehn Prozent mehr Gehalt. Wie die Gewerkschaftsführer vorrechnen, soll dies durch eine Höhergruppierung der Fachkräfte im Erziehungs- und Sozialwesen erreicht werden.

Die Arbeitgeber lehnen die Forderung rundheraus ab, da sie angeblich Mehrkosten von 1,2 Milliarden Euro bedeuten würde. „Unbezahlbar“, nannte Thomas Böhle, Präsident der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber VKA, diese Forderung, und der VKA-Hauptgeschäftsführer Manfred Hoffmann sagte der Rheinischen Post-online: „Die Erzieherinnen stehen finanziell gut da.“

In Wirklichkeit reicht das Erzieherinnen-Gehalt in vielen Fällen kaum zu einem vernünftigen Leben, besonders nicht in Großstädten wie Frankfurt, Köln oder Hamburg. Ihr Durchschnittsgehalt liegt nach dem Lohnspiegel der Hans-Böckler-Stiftung in Westdeutschland bei monatlich 2540 Euro und in Ostdeutschland bei 2340 Euro brutto.

Aber noch stärker als unter dem knappen Lohn leiden die Kita-Beschäftigten unter Stress und wachsender Belastung. Die Betreuerteams sind chronisch unterbesetzt und die Gruppen zu groß, während der Bildungsanspruch steigt. So ist die Kampfbereitschaft groß, wie wir am ersten Streiktag in Frankfurt am Main im Gespräch mit den streikenden Erzieherinnen feststellten.

„Unsere Einrichtung ist seit zwei Jahren überbelegt“, sagt Ann-Katrin Witkowski, die in der Kita der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Frankfurt-Hausen arbeitet. Diese Einrichtung, die dem städtischen Tarif angegliedert ist, hat sechzehn Kitas und Krippen. „Respektlos und frech“ findet Ann-Katrin, dass den Erzieherinnen in fünf Verhandlungsrunden kein Angebot gemacht wurde.

„Überall wird betont, wie wichtig die Bildung doch sei, aber bei uns kommt nichts an. Meine Ausbildung hat fünf Jahre gedauert, nun verdiene ich so wenig, dass ich einen Zweitjob an der Tankstelle machen muss, um über die Runden zu kommen. Dabei ist unsere Arbeit als Erzieherin wirklich anspruchsvoll.“

Eigentlich müsste ein Schlüssel von einer Erzieherin auf 7,5 Kinder gelten. Aber, so Ann-Katrin: „Das ist nicht die Realität.“ Die Gruppe bestätigt, dass im AWO-Kindergarten zurzeit eine Erzieherin zusammen mit einem Berufspraktikanten eine Gruppe von zwanzig Kindern betreut.

„Bei uns wurde die Gruppenzahl erhöht“, berichtet eine andere Erzieherin, die im Hort arbeitet. „Auf 45 bis 50 Kinder kommen drei Erzieherinnen, und oft sind wir nur zu zweit und müssen dazu noch den Küchendienst selbst erledigen.“ Oft seien nur zwei Erzieherinnen im Haus, da jemand krank sei oder sonst ausfalle. Wenn es um Kinder gehe, sei es sehr schwer, Überstunden abzulehnen, fährt sie fort. „Auch die Anerkennung der Vorbereitungszeit außer Haus wurde gestrichen.“

Besonders groß ist die Belastung in den inklusiven Einrichtungen, wie die Erzieherin Ursula berichtet. Sie arbeitet mit einer Gruppe von fünfzehn Kindern, von denen fünf besonderen Förderbedarf haben.

„Auch epileptische Kinder sind darunter. Wir sind im Ganzen zu viert, drei ausgebildete Fachkräfte und eine Berufspraktikantin. Wir müssen wirklich alles machen und zum Beispiel bei Kindern, die über eine Sonde ernährt werden, auch die Sonde wechseln. Obwohl wir keine Spezialausbildung haben, tragen wir eine Riesenverantwortung.“

Solche Kinder dürften dann auch nichts trinken, erklärt sie: „Also darf ihnen auch kein anderes Kind einen Becher Wasser reichen. Da müssen wir ständig aufpassen.“

Mindestens zehn Prozent mehr Gehalt, das wäre schon dringend notwendig, sagt Ursula weiter, schon allein, damit sich mehr Leute für den Beruf interessierten. „Wir arbeiten auf hohem Niveau, bieten ein qualitativ hochwertiges Bildungsprogramm: Zum Beispiel nutzen wir [das musikpädagogische Programm] Primacanta und eine bestimmte Form der Beobachtungsschulung, die Mattemeo heißt.“

Die Anforderungen seien insgesamt gestiegen, und der Druck auf die Beschäftigten wachse: „Die Regierung hat den Bildungsanspruch sehr hoch gehängt, aber unser Lohn macht es uns schwer, in einer Stadt wie Frankfurt die Lebenskosten zu bestreiten.“

Die streikenden Erzieherinnen und Sozialpädagogen sind hoch motiviert. Doch sie stehen vor einem gewaltigen Problem: Bleibt der Arbeitskampf unter der Kontrolle der DGB-Gewerkschaften, ist sein Scheitern vorprogrammiert.

Denn die Gewerkschaften haben die schlechten Bedingungen, unter denen die Erzieherinnen leiden, seit Jahren selbst mit organisiert. Alle Verträge über Personalabbau und Bedingungen in Ländern und Kommunen tragen die Unterschriften der Vertreter von Verdi und GEW.

Viele Gewerkschaftsführer sind Mitglied der SPD, der Grünen oder der Linkspartei und über diese Parteien aufs Engste mit den öffentlichen Arbeitgebern verbunden. So ist der Verhandlungsführer von Verdi, Achim Meerkamp, wie Bundesarbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles und Familienministerin Manuela Schwesig Mitglied der SPD. Verdi-Chef Frank Bsirske ist Mitglied der Grünen und war von 1997 bis 2000 in der Stadt Hannover für den Abbau jedes sechsten Arbeitsplatzes zuständig, bevor er an die Spitze der Gewerkschaft wechselte.

Der aktuelle Kita-Streik ist nicht der erste seiner Art. Im Frühsommer 2009 hatten über zweihunderttausend Beschäftigte im Erziehungs- und Sozialdienst mehrere Wochen lang bundesweit gestreikt. Sie forderten eine Behebung der Nachteile, die die Umstellung auf neue Tarifverträge gebracht hatte. Die Ablösung des Bundesangestelltentarifs (BAT) durch den Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) und den Tarifvertrag der Länder (TV-L) hatte 2005 zu drastischen Gehaltseinbußen geführt.

Die Gewerkschaften hatten diesen Streik damals bewusst abgewürgt, wie Verhandlungsführer Meerkamp am Montag in Frankfurt offen zugab: „Wir wissen, dass wir 2009 einen Kompromiss eingehen mussten. Der Kompromiss war notwendig, denn wir sind [damals] in eine Finanzkrise gerutscht.“

Meerkamp ist seit seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär und seit acht Jahren Mitglied des Verdi-Bundesvorstandes. Er sitzt auf mehreren hochdotierten Aufsichtsratsposten, unter anderem beim Energiekonzern RheinEnergie AG.

Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass Verdi und die GEW diesmal anders handeln werden als 2009. Damals half der Abschluss den Städten und Gemeinden, ihren Haushalt auf Kosten der Beschäftigten zu sanieren. Auch diesmal führen die öffentlichen Arbeitgeber tausende Gründe an, im sozialen Bereich zu sparen. Sie reichen von der Schuldenbremse (welche die SPD, die Grünen und im Wesentlichen auch die Linkspartei unterstützen), über die langfristigen Auswirkungen der Wirtschaftskrise bis hin zu der aktuellen militärischen Aufrüstung, die Milliarden verschlingt.

Die Situation des aktuellen Kita-Streiks macht deutlich, wie sehr GEW, Verdi und der Beamtenbund darauf bedacht sind, die Streikenden unter Kontrolle zu halten: Von insgesamt rund einer Viertelmillion Berufskolleginnen und -Kollegen wurden nur 40.000 Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst der Kommunen zum Streik aufgerufen. Private oder kirchliche Einrichtungen und die dem Tarifvertrag der Länder (TV-L) unterstellten Einrichtungen wurden von vorneherein nicht in den Arbeitskampf einbezogen, was zum Beispiel auf die Kitas in Berlin zutrifft.

Inmitten der aktuellen und schwelenden Arbeitskämpfe der Lokführer, der Post-, Telekom- und Postbank-Beschäftigten, des Flughafenpersonals, der Lehrerinnen und Lehrer, der Krankenschwestern und -Pfleger, der Karstadt-Verkäuferinnen, des Amazon-Personals, der Hebammen und Psychotherapeuten und vieler anderer Berufsgruppen – inmitten all dieser Konflikte braucht es schon eine wahrhaft raffinierte strategische Planung, um einen gemeinsamen Streik zu verhindern.

Doch GEW, Verdi und der ganze DGB orientieren sich nicht an einem Sieg der Beschäftigten, weil sie nicht auf Seiten der Arbeiterklasse stehen. Sie sind Stützen der bürgerlichen Ordnung. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn DGB und Verdi die Bundeswehr und den Militarismus unterstützen. So hat Verdi-Chef Frank Bsirske, Mitglied der Grünen, anlässlich der massiven Rekrutenwerbung der Bundeswehr erklärt: „Es ist für Verdi selbstverständlich, dass für den Eintritt in die Bundeswehr auch geworben wird.“

So überrascht es nicht wirklich, dass aus Bsirskes Büro schon am zweiten Tag des „unbefristeten“ Streiks die Meldung kam: „Wenn die VKA ein echtes Angebot macht, könnten die unbefristeten Streiks binnen Tagesfrist ausgesetzt werden.“

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