Die Ende März beschlossenen Veränderungen am Berliner „Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz“ (ASOG) stärken die Vollmachten der Polizei und höhlen bürgerliche Grundrechte aus. Sie sind ein weiterer Stein auf dem Weg der Bundesrepublik zu einem Polizei- und Überwachungsstaat.
Die erste Änderung betrifft das automatische, massenhafte Scannen von Autokennzeichen, das nun auch in Berlin erlaubt ist. Die Scanner, die ähnlich wie Blitzer sowohl mobil als auch stationär eingesetzt werden können, lesen die Kennzeichen aller vorbeifahrenden Autos und gleichen sie automatisch mit den Datenbanken der Polizei und des Schengener Informationssystems II ab. Auf diese Weise können mit geringstem Personaleinsatz unzählige unbescholtene Menschen auf ihre Identität überprüft werden.
Mit den Kennzeichenscannern, die in verschiedenen Bundesländern bereits eingesetzt werden, hat die Möglichkeit der Überwachung breiter Bevölkerungsschichten neue Dimensionen angenommen. Seit 2006 kommen die Scanner auf bayerischen Autobahnen zum Einsatz, wo sie monatlich acht Millionen Kennzeichen erfassen und an einen Computer weiterleiten, der sie mit der Fahndungsdatei „INPOL“ abgleicht
Auslöser für den Drang der herrschen Politik nach immer umfassenderer Überwachung der Zivilbevölkerung war der 11. September 2001. Die in Deutschland eingeleitete Rasterfahndung nach sogenannten „Schläfern“ erfasste zahlreiche ausländische Studenten als Terror-Verdächtigte. Nach einer Klage stellte das Verfassungsgericht 2006 die Verfassungswidrigkeit der Maßnahme fest, weil eine „konkrete Gefahrensituation“ fehlte.
Der Einsatz von Scannern führte ebenfalls zu Verfassungsklagen, zunächst gegen die Länder Hessen und Schleswig-Holstein. 2008 erklärte das Verfassungsgericht auch hier das „anlasslose“ Scannen für verfassungswidrig. In Berlin sollen die Scanner deshalb nur „anlassbezogen“ zum Einsatz kommen. Bei der Definition solcher Anlässe hat die Polizei aber einen weiten Spielraum.
Das Urteil des Verfassungsgerichts wurde seither zudem wieder aufgeweicht.
2012 wiesen Richter des Bayerischen Verwaltungshofes die Klage eines Autofahrers gegen die Verletzung des „Grundrechts der informationellen Selbstbestimmung“ ab. Die massenhafte Erfassung Unschuldiger durch die Fehleranfälligkeit der Geräte betrachtete das Gericht als Bagatelle, ohne Grundrechtsrelevanz. Die abschreckende Wirkung des Massenscannens wurde dagegen als wünschenswert begrüßt, z.B. „vor der Teilnahme an einer Demonstration“.
2014 wies das Bundesverwaltungsgericht denselben Kläger ab. Auch diese höhere Instanz vertrat die Ansicht, das Grundgesetz werde nicht beeinträchtigt, da die erfassten Daten nach dem Abgleich bei Nichtübereinstimmung sofort gelöscht würden. Die Datenerfassung durch technische Fehler war auch hier ohne Belang.
Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) fordert inzwischen einen Zugriff auch auf die Autobahnmaut-Datenbank. Eine weitere potentielle Datenquelle könnten in Zukunft private Firmen darstellen. In vielen deutschen Parkhäusern, Campingplatz-Zufahrten, Waschanlagen und auf Firmenparkplätzen werden Autokennzeichen automatisch gescannt. Aber auch die in modernen Verkehrsampeln verwendeten Kameras zur Steuerung der Ampeln sind technisch in der Lage, Autokennzeichen aufzunehmen und an eine Überwachungszentrale weiterzugeben.
Die zweite Berliner Änderung betrifft die Vorsorgehaft. Der sogenannte „Unterbindungsgewahrsam“ ermächtigt die Polizei, Personen ohne ein Gerichtsverfahren, selbst ohne begangene Straftat auf bloßen Verdacht hin festzuhalten. Sie dient, wie es offiziell heißt, der „Verhinderung von Straftaten“. In Berlin wurde die Möglichkeit der Vorsorgehaft von zwei auf vier Tage verlängert. In anderen Bundesländern liegt sie meist höher, mitunter bis zu 14 Tagen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die gängige deutsche Praxis stets abgelehnt. Ein Freiheitsentzug außerhalb der Strafverfolgung, d.h. ohne Gerichtsurteil, sei unzulässig. Allerdings verteidigte er 2013 den mehrstündigen Freiheitsentzug ohne Gerichtsurteil im Fall eines deutschen Hooligan-Anführers während eines Fußballspiels. Dieser wollte sich scheinbar mit dem Chef gegnerischer Hooligans treffen und mit ihm die Konditionen einer Schlägerei zwischen den Gruppen nach dem Spiel festzulegen. Es hätte keine Hinweise gegeben, so das Gericht, dass der Betreffende beabsichtigte, die „möglicherweise bevorstehenden Straftaten“ zu unterlassen.
Die dritte wichtige Änderung betrifft Auslandseinsätze der Berliner Polizei sowie Einsätze ausländischer Polizisten in Berlin. Zur Unterstützung der einheimischen Polizei ausländische Polizisten anzufordern, ist gängige Praxis. Das gilt zum Beispiel für Länderspiele, Staatsbesuche und andere internationale Events.
Bisher galten ausländische Polizisten als „Beobachter“ und durften weder ein Hoheitsrecht ausüben, noch Waffen benutzen oder tragen. Daher war 2010 der Einsatz französischer Elite-Polizisten bei den Protesten gegen den Castor-Transport auf Empörung gestoßen. Mindestens ein Polizist hatte einen Schlagstock gegen Demonstranten erhoben. Nach dem geänderten Gesetz ist dies in Berlin nicht mehr illegal. Das gilt auch für den Waffeneinsatz Berliner Polizisten im Ausland.
Die Veränderungen des Berliner Polizeigesetzes lassen eine Mentalität erkennen, die sogenannte Sicherheitsbedürfnisse über den Schutz bürgerlicher Freiheiten stellt. Schon jetzt ist der Staat im Rahmen der „Gefahrenvorsoge“ ermächtigt, die Bürgerrechte „gefährlicher Individuen“ stark einzuschränken, bzw. außer Kraft zu setzen. Betroffen ist etwa die Unschuldsvermutung.
Auch die präventive Massenüberprüfung von Autokennzeichen, die Vorsorgehaft oder polizeiliche Sondervollmachten in von der Polizei selbst bestimmten „Gefahrengebieten“ gehören dazu. Die neuen Antiterror-Gesetz der Bundesregierung gestatten, auf Verdacht Pässe einzuziehen und das Einreisen in bestimmte Länder zu verbieten.
Rechtsanwalt Udo Kauss, der die Verfassungsklagen gegen Hessen, Schleswig-Holstein und Bayern führte und seit Januar wegen des Massenscannens erneut vor das Karlsruher Verfassungsgericht gezogen ist, warnt vor einer „einseitigen Fixierung auf das staatliche Eingriffsinteresse“. Grundrechte würden so unter einen „Staatsvorbehalt“ gestellt. Nicht mehr der Staat sei dem Bürger gegenüber in der Pflicht, sondern umgekehrt habe der Bürger sich permanent einer „Unbedenklichkeitsprüfung“ zu unterziehen.
Das Verneinen jeglichen Grundrechtseingriffs durch den fehleranfälligen Massenabgleich, so der Rechtsanwalt, führe „bei konsequenter Durchführung dazu, dass der Staat ohne gesetzliche Grundlage und ohne jegliche Einschränkung Informationen über menschliches Verhalten erfassen und auswerten kann“. Das bedeute das Ende einer Privatsphäre.