Am Wochenende fand in Washington die Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank statt. Während die Realwirtschaft weiterhin stagniert, nehmen Finanzparasitismus und soziale Ungleichheit ein beispielloses Ausmaß an.
Die Aktienkurse in den USA, Europa und Asien befinden sich auf Rekordhochs, und die internationalen Konzerne haben durch billige Kredite der Zentralbanken und Angriffe auf Löhne und den Lebensstandard der Arbeiter - auch von staatlicher Seite - ein Vermögen von insgesamt etwa 1,3 Billionen Dollar angehäuft. Trotzdem hatte der IWF letzte Woche in seinem aktuellen Weltwirtschaftsausblick gewarnt, die Weltwirtschaft werde noch lange Zeit von niedrigem Wachstum, hoher Arbeitslosigkeit und hoher Verschuldung geprägt sein.
Der IWF räumt ein, dass Wachstumsraten wie vor dem Finanzcrash 2008 kaum wieder zu erreichen seien, obwohl die Finanzmärkte Billionen Dollar öffentliche Gelder erhalten haben. Damit rückt der IWF nicht nur deutlich von seinen früheren Wirtschaftsprognosen ab, sondern gibt auch stillschweigend zu, dass die Krise, die vor fast sieben Jahren mit dem Börsenkrach an der Wall Street begann, grundlegenden und historischen Charakter hat, und dass die dem System des Weltkapitalismus zugrundeliegenden Probleme immer noch ungelöst sind.
Ein Blick über die Schlagzeilen von Artikeln der Financial Times aus der letzten Woche vermittelt einen Eindruck von dem zunehmenden Unbehagen. Sie lauten u.a.: „Eine wirtschaftliche Zukunft ohne Aussicht auf Besserung“, „IWF warnt vor langfristig niedrigem Wachstum“, „Europas Schuldnerparadies wird ein böses Ende nehmen“, „Quantitative Lockerung schürt Angst vor Liquiditätsengpass in Eurozone“ oder „Angst vor globaler Immobilienblase durch Preis- und Ertragssteigerungen wächst“.
Der Bericht des IWF betont den starken und dauerhaften Niedergang der Investitionen in die Privatwirtschaft, vor allem in den Industrienationen in Nordamerika, Europa und Asien. Er kommt zu folgendem Schluss: „Das potenzielle Wachstum in Industrienationen wird vermutlich unter dem Vorkrisenniveau bleiben, in den Schwellenländern wird es sich mittelfristig noch weiter verringern.“
Weiter heißt es: „Im Gegensatz zu früheren Finanzkrisen bringt die globale Finanzkrise nicht nur einen Rückgang der Wirtschaftskraft mit sich, sondern auch eine niedrigere Wachstumsrate... Kurz nach Beginn der Krise im September 2008 brach die wirtschaftliche Aktivität weitgehend ein, und mehr als sechs Jahre danach ist das Wachstum noch immer niedriger, als vor der Krise erwartet wurde.“
Das bestätigt auf spektakuläre Weise die Analyse der World Socialist Web Site und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI). Am 16. Januar 2008, neun Monate vor dem Bankrott von Lehmann Brothers, erschien auf der WSWS eine Erklärung, in der es heißt:
„Das Jahr 2008 wird von einer bedeutenden Verschärfung der ökonomischen und politischen Krise des kapitalistischen Weltsystems geprägt sein. Die Unruhe auf den Weltfinanzmärkten ist nicht bloß Ausdruck eines konjunkturellen Abschwungs, sie zeigt vielmehr eine tief greifende Störung des Systems an, die bereits die internationale Politik destabilisiert.“
Der IWF-Bericht fügt hinzu: „Diese Erkenntnisse bedeuten, dass der Lebensstandard in Zukunft langsamer ansteigt. Auch finanzielle Nachhaltigkeit wird schwieriger aufrechtzuerhalten sein, da Steuereinnahmen langsamer ansteigen werden.“ Diese euphemistischen Formulierungen bedeuten, dass weltweit die Angriffe auf den Lebensstandard und die demokratischen Rechte der Arbeiterklasse unbegrenzt weitergehen werden.
Die Austeritätspolitik, die bereits viele Millionen Menschen in Armut gestürzt hat, ist keine vorübergehende Erscheinung. Sie wird bleiben, solange der Kapitalismus weiter besteht.
Der ebenfalls diese Woche erschienene Global Financial Stability Report des IWF, räumt ein, dass die Niedrigzinspolitik der Zentralbanken und die Bereitstellung von billigem Geld in Billionenhöhe für die Banken (Quantitative Lockerung), also das Drucken von Geld, kaum Einfluss auf die Realwirtschaft haben, dafür aber die finanziellen Risiken erhöhen. Der Bericht spricht von einer Zunahme finanzieller Risiken in den sechs Monaten seit dem letzten Bericht vom Oktober 2014.
Im World Economic Outlook widmet der IWF dem Einbruch bei der privaten Investitionstätigkeit ein ganzes Kapitel. Sie verharrt demnach in den wichtigen kapitalistischen Volkswirtschaften, die entscheidend für das weltweite Wirtschaftswachstum sind, auf historischem Tiefstand. In Prozenten des Bruttoinlandsprodukts gemessen, ist sie niedriger als nach jeder bisherigen Rezession der Nachkriegsgeschichte.
Doch der Bericht, der die Grundlage bildete für die Diskussionen am Wochenende zwischen den Finanzministern und Notenbankchefs der 20 großen Industrie- und Schwellenländer und ihren unzähligen Wirtschaftsberatern, weigert sich die ungeheure Rolle der Finanzspekulationen und des Finanzparasitismus für den Einbruch der Investitionstätigkeit und der Krise insgesamt zu thematisieren. Statt in die Produktion zu investieren, nutzen Banken und Unternehmen weltweit ihre massiven Profite und liquiden Mittel, um die Aktiendividenden zu erhöhen und die Aktienpreise durch Rückkauf ihrer eigenen Aktien in die Höhe zu treiben. Rekordverdächtige Aktienrückkäufe und Fusionen befeuern dabei den Spekulationsrausch.
Diese ökonomischen Aktivitäten sind völlig parasitär. Sie leisten keinerlei Beitrag zur Entwicklung der Produktivkräfte, sondern ziehen stattdessen ökonomische Ressourcen aus der Produktion ab, um eine winzige globale Aristokratie von Bankern, Konzernchefs und Spekulanten noch weiter zu bereichern.
Die Tagung von IWF und Weltbank findet statt, während der Finanzparasitismus exponentiell anwächst, wie es in diesem Ausmaß einmalig ist in der Geschichte des Kapitalismus. Laut einem Artikel in der Financial Times von letzter Woche sind allein im vergangenen Jahr etwa eine Billion Dollar an Aktienbesitzer – viele von ihnen milliardenschwere Hedgefonds und Investmentunternehmen – in Form von Aktienrückkäufen und erhöhten Dividenden zurückgeflossen.
In den vergangenen zehn Jahren haben Unternehmen, die im Aktienindex der 500 größten börsennotierten US-Unternehmen notiert sind (S&P-500) Aktien im Wert von ca. vier Milliarden Dollar zurückgekauft. Bedeutende Unternehmen wie Apple, Intel, IBM und General Electric sind an dem anhaltenden Rückkauf-Rausch maßgeblich beteiligt.
Allein letzte Woche wurden drei Firmenübernahmen bekannt, darunter die des britischen Gaskonzerns BG durch Royal Shell. Die bisherigen Übernahmen belaufen sich auf einen Wert von mehr als einer Billion Dollar, sodass 2015 ein Rekordjahr für Fusionen und Firmenübernahmen in der Geschichte werden könnte.
Das Ergebnis sind stark aufgeblähte Aktienkurse deren Erlöse überwiegend an die Reichen fließen. Im Verlauf des letzten Jahres ist der DAX um 24 Prozent, der französische Aktienindex CAC um 16 und Japans Nikkei um 36 Prozent gestiegen.
Auch die Profite der Banken steigen. JPMorgan Chase, Citigroup und Goldman Sachs haben die Marktprognosen übertroffen und für das erste Quartal 2015 Beinahe-Rekordprofite bekanntgegeben, die vor allem durch Spekulationsgeschäfte erzielt wurden.
Während die Realwirtschaft ihrer Ressourcen beraubt wird, mit der Folge sinkender Löhne, des Rückgangs von Stellenangeboten, steigender Arbeitslosigkeit und geringfügiger oder Teilzeitbeschäftigung statt Vollzeitstellen, rafft die Finanzaristokratie sagenhafte Vermögen zusammen.
Im beispiellosen Anwachsen des Finanzparasitismus in der Weltwirtschaft, zeigt sich der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der diesjährigen Jahrestagung des IWF lässt künftige Entwicklungen ahnen. Sieben Jahrzehnte lang waren IWF und Weltbank zwei Säulen, auf denen die wirtschaftliche Hegemonie der USA ruhte. Doch die Nachkriegsordnung weist deutliche Risse auf.
China gab letzte Woche bekannt, dass sich 57 Länder – 37 asiatische und 20 andere – an der von China initiierten Entwicklungsbank (Asian Infrastructure Investment Bank) beteiligen. Die Obama-Regierung wehrte sich heftig gegen eine Beteiligung ihrer strategischen Verbündeten an der Bank, da sie fürchtet, die Bank werde die von den USA unterstützten globalen Finanzinstitutionen untergraben. Doch nach der Entscheidung Großbritanniens, Gründungsmitglied der Bank zu werden, folgten viele andere Länder diesem Schritt.
Das Aufbrechen der Nachkriegsordnung vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Krise ist ein sicheres Anzeichen, dass die kapitalistischen Großmächte ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen entschlossen verfolgen, wenn nötig auch gegen die USA. Nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse der 1930er Jahre kehren zurück, sonder auch die politischen und wirtschaftlichen Konflikte, die zum Weltkrieg führten.