Dies ist der zweite Teil einer Artikelreihe über die Berlinale, das internationale Filmfestival in Berlin, das vom 5. bis 15. Februar stattfand. Der erste Teil wurde am 28. Februar veröffentlicht.
Der Filmregisseur Marcel Ophüls (1927 in Frankfurt geboren) widmete einen großen Teil seines Lebenswerks der Dokumentation über die Verbrechen, die im Zweiten Weltkrieg begangen wurden. Das Schicksal derer, die entweder mit den Nazis kollaborierten oder Widerstand leisteten, ließ ihn nicht los.
Als Sohn des Filmemachers, Max Ophüls, machte er sich einen eigenen Namen mit seinem Film Das Haus nebenan (1969). Darin dokumentierte er das Leben im Frankreich des Vichy-Regimes, das mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierte. Für seinen wohl besten Film: Hotel Terminus: Leben und Zeit von Klaus Barbie erhielt er 1988 einen Oscar in der Kategorie bester Dokumentarfilm. Der Film hat die vom amerikanischen Geheimdienst unterstützte Flucht des berüchtigten Nazi-Folterers zum Inhalt.
Dieses Jahr wurde in Berlin eine neu restaurierte Version von Ophüls' Dokumentarfilm Nicht schuldig? von 1976 erstmals gezeigt. Außerdem wurde Ophüls der Kamera-Preis der Berlinale überreicht. Er geht an Künstler, die „einen einzigartigen Beitrag zur Filmkunst geliefert haben, und denen sich das Filmfestival besonders verbunden fühlt“.
Wie fast immer bei Ophüls, so handelt es sich bei Nicht schuldig? um einen langen Film: Er dauert fast fünf Stunden. Ein weites Themenspektrum wird darin behandelt; es reicht von den Nürnberger Prozessen über die Bombardierung Dresdens durch die US-Armee und amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam bis hin zur Unmenschlichkeit der französischen Kolonialherrschaft in Algerien.
Vieles in dem Film ist von hohem Wert. Ophüls ernsthafte Behandlung historischer Fragen, besonders seine Untersuchung der Grundlagen, auf denen die Nachkriegsgesellschaft wiederaufgebaut wurde, sind für heutige Zuschauer von immenser Bedeutung. Vor dem Hintergrund der aktuellen Kampagne in Deutschland zur Geschichtsrevision und Relativierung der Nazi-Verbrechen kam die Präsentation dieses Films in Berlin zur rechten Zeit.
Der erste Teil von Nicht schuldig? konzentriert sich auf die Nürnberger Prozesse und zeigt Filmmaterial aus den Verhandlungen. Nicht nur der pensionierte amerikanische Brigadegeneral, Telford Taylor, kommt ausführlich zu Wort, der bei den meisten Prozessen Chefberater des Strafgerichts war. Befragt werden auch die Verteidiger von Albert Speer und Karl Dönitz, die wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurden.
Marinekommandeur, Karl Dönitz, der nach Hitlers Selbstmord kurzzeitig dessen Nachfolger als Staatschef war, zeigt keine Reue und tritt in dem Film dreist auf. Speer, Architekt und Minister für Waffenbeschaffung und Kriegsproduktion für das Dritte Reich, der zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen seine 20jährige Gefängnisstrafe schon abgesessen hatte, war damals schon weitgehend „rehabilitiert“. Aber er konnte mit seinen Aussagen die Zuschauer niemals von seiner angeblichen Reue über seine Funktion im Naziregime überzeugen.
Der zweite Teil des Films befasst sich mit Vietnam und Algerien und zeigt Vorgehensweisen, die den in Nürnberg aufgestellten Prinzipien diametral zuwiderlaufen. Dieser Teil präsentiert ausführliche Interviews mit dem Whistleblower Daniel Ellsberg, der die Pentagon-Papiere an die Öffentlichkeit brachte und die Kriegspläne der amerikanischen Regierung aufdeckte, sowie Interviews mit Henri Alleg, der in seinem Buch La Question beschrieb, wie er von der französischen Armee in Algerien gefoltert wurde.
In einer eindringlichen Szene konfrontiert Ophüls den Radikalsozialisten, Edgar Faure, damals Präsident der französischen Nationalversammlung, mit den Verbrechen in Algerien. Bei den Nürnberger Prozessen war Faure Berater der Staatsanwaltschaft, doch die Frage Ophüls‘ nach der Art und Weise, wie sich Frankreich in Algerien gebärdete, tut er als „unfair“ ab. Er behauptet, die Methoden Frankreichs, das seine Kolonien systematisch über längere Zeit ausbaute, seien mit dem Verhalten der nationalsozialistischen Interventionsmacht auf keinen Fall zu vergleichen.
Meisterhaft nimmt Ophüls viele seiner Interview-Partner ins Kreuzverhör. Am stärksten ist der Filmemacher jedoch, wenn er ganz normale Menschen in Gruppensituationen über sich selbst zu Wort kommen lässt, wenn sie ihre verschiedenen Erfahrungen mit historischen Ereignissen und deren Implikationen diskutieren. Man bekommt einen lebendigen Eindruck, welche Meinungen damals vorherrschten, und wie sehr die Suche nach Antworten oftmals ins Leere lief.
So erzählt ein Schauspieler am Theater seinen Kollegen, wie ihm ein Entnazifizierungsbeauftragter einst die Frage stellte: „Weshalb hast du dich nicht auf die Bühne gestellt und die Nazis angeklagt?“ – „Sie hätten uns am nächsten Tag aufgehängt!“, habe er entgegnet. Bemerkenswert ist eine Sequenz über Nazikollaborateure, die während des Dritten Reichs zu Vermögen kamen und auch nach dem Krieg weiter Unmengen Geld scheffelten.
Zum Beispiel beklagt Taylor, dass der Industrielle, Friedrich Flick, der sich durch Sklavenarbeit in den Konzentrationslagern bereicherte, vorzeitig aus seiner ohnehin schon kurzen Haft von sieben Jahren entlassen wurde.
Eine andere Person weist darauf hin, dass SS-Oberst, Kurt Becher, der kurz vor Kriegsende zum Kommissar für alle deutschen Konzentrationslager ernannt worden war, inzwischen als Großindustrieller in Bremen lebe.
Diese beiden verurteilten Kriegsverbrecher gehörten in den 1970ern wirklich zu den reichsten Männern Westdeutschlands. Flick war, als er 1972 starb, sogar einer der reichsten Männer der Welt.
Zwar entlarvt Ophüls, wie verlogen alle Rechtfertigungsversuche für die Verbrechen in Vietnam und Algerien besonders nach den Erfahrungen von Nürnberg sind und liefert Erklärungsversuche zu den sozialen Wurzeln des Faschismus in Deutschland, aber er schreckt vor einer tieferen Analyse zurück, die unabdingbar wäre, um die in seinem Werk dokumentierten Verbrechen wirklich zu verstehen.
Ophüls mag zwar dem Musiker Yehudi Menuhin nicht zustimmen, der in einem Interview am Anfang des Films erklärt: „Meiner Meinung nach sind alle schuldig.“ Doch als die Mutter von Mike Ransom, eines in Vietnam gefallenen Soldaten, laut darüber nachdenkt, was denn im Zweiten Weltkrieg wirklich erreicht worden sei, fragt Ophüls: „Was wäre die Alternative gewesen? Dem Hass das Feld zu überlassen?“ Hier bekommt man den Eindruck, dass sich der Regisseur zu viele offizielle Klischees über den Zweiten Weltkrieg zu Eigen gemacht hat.
Letztendlich steht man vor dem Film wie vor einem riesigen Wandteppich: Einige Fäden halten nicht richtig zusammen, andere dagegen sind grandios miteinander verknüpft. Ophüls hat nicht die ganze Geschichte erzählt, er hat jedoch viel zu unserem Wissen über mehrere besonders barbarische Verbrechen des Imperialismus im zwanzigsten Jahrhundert beigetragen.
Weitere Dokumentarfilme
Neben dem Film Iraqi Odyssey (Irakische Odyssee), den wir letztes Jahr in der Besprechung des Internationalen Filmfestvals von Toronto rezensierten, war Tell Spring Not to Come This Year (Sag dem Frühling, er solle dieses Jahr nicht kommen) einer der wichtigeren Filme der Berlinale. Regie führten Saeed Taji Farouky und Michael McEvoy. Der Film zeigt ein Jahr im Leben von Soldaten der Afghanischen Nationalen Armee in der Provinz Helmand nach dem Rückzug der Nato-Truppen.
Die meisten Soldaten sind furchtbar arm und deshalb in die Armee gegangen. Einer beschwert sich allerdings, weil er seit neun Monaten keinen Sold bekommen hat. Ein nachdenklicher Film: Die Regisseure sind in der Lage, viele Momente einzufangen – ein kurzer Blick etwa, eine dahin geworfene Bemerkung – die Bände sprechen.
Die Sequenzen, in denen die Soldaten gegen Dorfbewohner eingesetzt werden, sind schauderhaft. Ein Soldat mit Gesichtsmaske sagt einer Gruppe einheimischer Polizisten, dass die Soldaten „hierher zurückkommen und euch alle zehn töten werden“, falls sie diejenigen nicht ausfindig machen, die ihr Militärlager angegriffen haben. Auf Patrouillengängen treten sie Wohnungstüren ein und führen Gefangene mit verbundenen Augen ab. Ein Opium-Farmer protestiert gegen die Schikanen: „ Wenn die Regierung den Weizen gut bezahlen würde, dann würde jeder Weizen anbauen.“
Die Soldaten sehen ihre Aufgabe darin, die Bevölkerung einzuschüchtern und in die Knie zu zwingen. Die Frage stellt sich: Was hat die Nato diesen Soldaten beigebracht?
Mit seiner Erklärung trifft ein Soldat ins Schwarze: „Jeder kommt nur wegen seines eigenen Vorteils nach Afghanistan. Ich lebe in einem Dorf auf einem Hügel. Eines Tages kamen zwei Fremde und sagten: 'Das ist unser Hügel'. Sie wollten nur, was unter dem Hügel liegt.“
Die Filme Kurt Cobain: Montage of Heck und Fassbinder: Lieben ohne zu fordern behandeln das Leben des Nirvana-Sängers, Kurt Cobain, beziehungsweise das des deutschen Filmemachers Rainer Werner Fassbinder, die beide früh starben.
Von Fassbinder stammen einige bessere Filme der 1970er Jahre, darunter Angst essen Seele auf (1974), Fuchs und seine Freunde (1975) und Mutter Küsters Fahrt zum Himmel (1975). Regisseur Christian Braad Thomsen, der Fassbinder persönlich kannte, präsentiert ein Psychogramm, das Fassbinders offensichtliche Neigung zu Eifersucht und extremer Ich-Bezogenheit zeigt. Mehrere Interviews mit Fassbinders ehemaligen Mitarbeitern, Irm Hermann und Harry Baer, bestätigen diesen Eindruck. Fassbinder, so erfahren wir, verhielt sich wie das Kind, das er selbst nie hatte. Das Ganze ist ein weiterer Beitrag zur Beschreibung des Kult-Regisseurs als „enfant terrible“ des Filmmilieus.
Was die Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland betrifft, so hatten „Wirtschaftswunder“ und die Bewegung radikalisierter Schichten in den 1960er und 1970er Jahren Einfluss auf Fassbinders Persönlichkeit und die Ausrichtung seiner Arbeit – mit all ihren Stärken und Schwächen. Thomsen macht sich leider nie die Mühe, danach zu fragen.
Wer jedoch nur Thomsens Dokumentation kennt, wird nicht verstehen können, weshalb Fassbinder auch heute noch unser Interesse verdient.
Auch Kurt Cobain: Montage of Heck legt sein Sujet, den Leadsänger von Nirvana, auf die Couch eines Analytikers. Der Film konzentriert sich auf Cobains heikles Privatleben, seine Heroinsucht und die oft schwierige Beziehung zu seiner Frau, der Sängerin Courtney Love.
Auszüge aus Cobains Tagebuchaufzeichnungen, in denen er gegen Scheinheiligkeit, die Reagan-Regierung und alles, was er am öffentlichen Leben für verlogen hielt, wettert, geben zumindest einen Eindruck davon, wie sich der verzweifelte Künstler oft fühlte. Die Wut und die Unzufriedenheit (und vor allem der Pessimismus) einer Generation, die in den 1980er und 1990er Jahren aufgewachsen ist, fanden ihren Ausdruck in seiner Musik.
Am Anfang des Films beschreibt Cobains Mutter, wie es in der Stadt Aberdeen im Staat Washington vor der Geburt Cobains 1967 aussah: eine boomende Stadt, in der „das, was man hatte immer ausreichte, auch wenn es nicht viel war“. Cobain selbst bezeichnet Aberdeen später als „gottverlassenes Nest“.
Welche Umstände waren es, die zu diesen allzu bekannten Veränderungen führten? Und welche Auswirkungen hatten sie auf Menschen, die damals jung waren? Der Film vermeidet es, diese Frage zu stellen. Dieses Glied fehlt in sämtlichen Biographien über den Sänger, die in all den Jahren erschienen sind.
wird fortgesetzt