Joseph Mallord William Turner (1775-1851), zumeist als J.M.W. Turner bekannt, war eines der Kunstgenies des neunzehnten Jahrhunderts. Mike Leigh, einer der Nestoren unter den britischen Regisseuren, stellte in seinem jüngsten Film Mr. Turner – Meister des Lichts Turners Leben und Kunst eindringlich und bewegend dar.
Es ist erst das zweite Mal innerhalb einer über vierzig Jahre andauernden Karriere, dass Leigh sich der Geschichte und einer Biographie annahm: Erstmals tat er dies mit Topsy-Turvy – Auf den Kopf gestellt (1999), der Geschichte der Beziehung zwischen Gilbert und Sullivan. In Mr. Turner erhalten wir von Timothy Spall eine wunderbare künstlerische Darbietung, welche uns erlaubt, einen Blick auf diesen Mann zu werfen, der einen solch dauerhaften Einfluss auf die Geschichte der Malerei genommen hat. Turner war ein Landschaftsmaler, dem niemand ebenbürtig war. Indessen bevölkern seine Landschaftsbilder Menschen, die mit den Ereignissen des Alltagslebens beschäftigt sind. Die Faszination, die die Wirkung des natürlichen Lichtes auf Turner ausübte, ließ ihn einige der bemerkenswertesten Kunstwerke seiner und darüber hinausgehender Epochen erschaffen, die höchst einprägsam und typisch für ihn sind.
Turner war eine ungewöhnliche Persönlichkeit innerhalb der Kunstwelt, und man darf wohl annehmen, dass es teils dies war, was Leigh an ihm so anziehend fand. Der Maler hatte einen plebejischen Hintergrund und ebensolche Manieren: Turner war der Sohn eines Barbiers aus dem Londoner Bezirk Covent Garden. Er verleugnete niemals seine „niedrige“ Herkunft, und tatsächlich ist die gegenseitige hingebungsvolle Zuneigung von Vater und Sohn eines der Themen des Films.
Leigh befasst sich in Mr. Turner lediglichmit dem letzen Vierteljahrhundert im langen Lebens des Künstlers. Für seine Epoche hat der Maler zu dieser Zeit längst seine mittleren Lebensjahre überschritten. Sein Vater (Paul Jesson) lebt noch und arbeitet bis zu seinem Tod im Jahr 1829 als treuer und fleißiger Assistent seines Sohnes.
Turners Charakter galt als ungehobelt, seine Erscheinung zu diesem Lebenszeitpunkt war nicht sehr einnehmend. Er hatte rüde Angewohnheiten und seine Sprache zeichnete sich durch eine gewisse Unverblümtheit sowie undiplomatische Direktheit aus. (Manchmal übertreiben Leigh und Spall dies etwas – wir kommen darauf zu sprechen.) Einer der Widersprüche, mit denen Leigh sich auseinandersetzt, ist die Frage, wie dieser recht einfache Londoner zu einem weltberühmten Künstler werden konnte. Dieses Thema, welches die Fähigkeiten und das immense Potenzial „einfacher“ Menschen berührt, hat Leigh in vielen seiner Filme angeschnitten.
Mr. Turner folgt keinem konventionellen Erzählstrang, was ungeduldige Zuschauern veranlasst hat zu beklagen, dass „nichts passiert“. Im Gegenteil: die verschiedenen Szenen aus dem Leben des Malers, die in etwa chronologisch bis zu seinem Tod aufeinander folgen, vermitteln dem Zuschauer allmählich, aber stetig ein Verständnis des Charakters dieses Menschen und wie er seine Kunst erschuf. Wir sehen, wie er planmäßig und akribisch Farben und anderes Material erwirbt, wie er bei der Suche nach der richtigen Landschaft an die Küste von Kent, nach Margate, reist, und sogar ein Bordell aufsucht, um eine Prostituierte zu malen.
Hinzu kommen die Bemühungen, Diskussionen mit angehenden Käufern und Förderern darzustellen, daneben werden intellektuelle und künstlerische Auseinandersetzungen mit Konkurrenten und Kollegen wie John Constable (1776-1837) eingestreut. Letztgenannter gilt zumeist als zweitwichtigster englischer Maler nach Turner in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Charakter der Epoche, in der Turner lebte, wird nicht ausführlich thematisiert und Leighs halbimprovisierende Methode bei der Gestaltung des Drehbuchs (wiewohl er es in diesem Falle offensichtlich mit einer Menge Recherchearbeit sattelfest machte), steht mit den Erfordernissen, die der historische Kontext stellt, etwas im Widerspruch. Dessen ungeachtet aber wird der anspruchsvolle Zuschauer über einige der historischen Themen nachzudenken haben, die im Hintergrund ihre Wirkung entfalten.
Turner kam im Verlauf seiner Arbeit mit verschiedenen Schichten der Gesellschaft in Berührung. Wenn es erforderlich war, verstand er es, sich bliebt zu machen. Vermögende Mäzene suchten ihn auf, und ihre Unterstützung verschaffte ihm Ruhm und finanzielle Anerkennung.
Solche Überlegungen aber, wie der Film aufzeigt, standen für Turner niemals im Vordergrund. Er war ein Mann, der unzweifelhaft wusste, wer er war. Der kompromisslose Künstler, vom Schaffensdrang getrieben, ähnelte auf gewisse Weise der Persönlichkeit seines Zeitgenossen Beethoven (1770-1827). Turners früheste Versuche datieren aus der Zeit als er zehn Jahre war. Im Jahr 1789 (ein bedeutendes Jahr!) wurde er Mitglied der Royal Academy und stellte bald darauf Aquarelle und kurze Zeit später auch Ölgemälde aus.
Die Epoche, die Turner prägte, war ein Zeitalter revolutionärer Erhebungen; diese waren zwar zunächst auf Frankreich beschränkt, doch sie breiteten sich bald über ganz Europa aus. Zugleich war dies eine Zeit gewaltiger Entwicklungen in Wissenschaft und Industrie, welche sich zumeist auf England konzentrierten. In die Periode, die der Film umspannt, fiel das rapide Wachstum der Eisenbahn (ab 1830), der Industrie, des Welthandels und der Arbeiterklasse.
In England waren dies die Jahre des Peterloo-Massakers in Manchester (1819), der Parlamentswahlreform von 1832 und der Chartistenbewegung, die 1838 begründet wurde. In den 1830er Jahren begann die Karriere von Charles Dickens. Zwei Jahre vor Turners Tod traf Karl Marx in London ein, das für ihn zum endgültigen Exil wurde. Obwohl es zu keinem dieser Ereignisse Bezüge in Mr. Turner gibt, liegen diese Veränderungen, Krisen und Kämpfe gleichsam in der Luft.
Der Künstler war zum Teil noch vom Erbe der Aufklärung geprägt. Einige der Künstler und Schriftsteller der Romantischen Epoche schreckten vor den schnellen sozialen und ökonomischen Veränderungen ihrer Zeit zurück. Turner indessen vertrat jenen Flügel der Romantik, der nicht zurückschreckte, sondern vielmehr die Bedeutung dieses Wandels begrüßte und seine Wichtigkeit erfasste. Turner versuchte mithilfe aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel die Welt so darzustellen, wie sie war.
Der Film vermittelt zudem ein Bild von einigen der persönlichen Schwierigkeiten, die zu Turners schroffer Persönlichkeit beigetragen haben. Als Turner zehn Jahre alt war, zeigten sich bei seiner Mutter erstmals Anzeichen einer Geisteskrankheit; zu diesem Zeitpunkt wurde er dann zu seinem Onkel mütterlicherseits geschickt, um dort aufgezogen zu werden. Auf seinem Sterbebett besprach der Vater des Malers einige dieser familiären Prüfungen mit seinem Sohn.
Den größten Teil seines Lebens hatte der Künstler problematische Beziehungen zu Frauen. Seine frühere Geliebte Sarah Danby (Ruth Sheen) hat einen schmerzvollen gelegentlichen Auftritt im Film. Ihre Nichte Hannah (Dorothy Atkinson), Turners ergebene Hauswirtschafterin, die gemeinsam mit dem alten Turner und dem Künstler unter einem Dach wohnt, steht bereit, um Turner von Zeit zu Zeit sexuelle Erleichterung zu verschaffen.
Auf einer erneuten Reise nach Margate erfährt er, dass seine frühere Vermieterin Sophia Booth (Marion Bailey) verwitwet ist. Eine schwierige Romanze entwickelt sich, möglicherweise die einzige echte Beziehung, die der Maler jemals hatte. Jahrelang lebte Turner gemeinsam mit seiner Geliebten als „Mr. Booth“, offenbar aus Rücksicht auf Privatheit und viktorianische Moralvorstellungen.
Die Kunstkritikerin Roberta Smith bezeichnete Mr. Turner als einen ihrer Lieblingsfilme zum Thema Kunst, weil er zeige, behauptet sie, wie Kunst entstehe. Obzwar die technischen Gesichtspunkte und mühsame Arbeit offensichtlich entscheidend sind, so sei die Malerei vor allen Dingen ein Produkt des Betrachtens, des Beobachtens, hält Smith fest. Zumeist sehen wir in Mr. Turner die Szenen, wie sie vom Gesichtspunkt des Künstlers erscheinen und weniger das Kunstwerk selbst.
Das möglicherweise bedeutendste Thema in dieser Behandlung von Turners Kunst ist die Beziehung zwischen Mensch und Natur, die in Zusammenhang mit den zwischenmenschlichen Beziehungen steht. Viele Bilder Turners setzen sich mit diesem Thema auseinander. Das Gemälde Das Sklavenschiff, welches 1840 entstand und sich jetzt im Bostoner Museum of Fine Arts befindet, hatte ursprünglich den Titel Sklavenhändler werfen die Toten und Sterbenden über Bord – ein Taifun nähert sich. Der Künstler bezog seine Inspiration aus der Lektüre eines Buches über die Geschichte und Aufhebung des Sklavenhandels. Diese Schilderung enthielt auch einen Vorfall, bei dem ein der Kapitän eines Sklavenschiffs Sklaven über Bord warf, um sich eine Versicherungssumme ausstellen zu lassen. Im Film wird diese Idee auf mehr allgemeiner Ebene behandelt. Turners Vermieter in Margate, Mr. Booth (Karl Johnson), erzählt dem Maler von seinen Jugenderfahrungen aus der Zeit, als er Zimmermann auf einem Sklavenschiff war: „Dergleichen schreckliches Leid sah ich…Es veränderte mein Leben.“
Turners berühmtes Gemälde The Fighting Temeraire, das auch im Film gezeigt wird, datiert aus dem Jahr 1838, welches das alte Kriegsschiff zeigt, das zu seinem letzten Ankerplatz abgeschleppt wird, wo es abgewrackt werden soll.
Ein näherer Blick auf zwei der berühmtesten Gemälde Turners, die sich in der New Yorker Frick-Sammlung befinden, The Harbor of Dieppe und Cologne: The Arrival of a Packet Boat, unterstreicht die Beharrlichkeit, mit welcher der Künstler seine Studien von Landschaft und Licht mit dem Studium des gesellschaftlichen Lebens verband. Beide Werke, welche im Jahr 1826 entstanden (etwa zu Beginn der Geschichte, die Mr. Turner erzählt), sind zauberhafte Studien des Lichts. Zugleich aber sind beide buchstäblich massenhaft mit Menschen bevölkert: Fährenpassagiere, Stadtbewohner, Fischersleute und andere Arbeiter am Hafen, sie alle stehen im Existenzkampf und bilden einen Bestandteil der Natur, die sie zu bezwingen suchen.
Ebenso erhalten wir eine Vorstellung von Turners Faszination für die Wissenschaft, sowie einige spannende Hinweise auf die eigene wissenschaftliche Sichtweise des Künstlers. Er begegnet Mary Somerville (1780-1872, dargestellt von Leslie Manville), der berühmten schottischen Wissenschaftlerin, und einer der ersten Frauen in der Royal Astronomical Society, mit welcher er an Experimenten zu Magnetismus und weiteren Themen teilnimmt und darüber diskutiert. „Alle Dinge auf dieser Erde sind miteinander verbunden,“ erläutert Mrs. Somerville und Turner stimmt offenkundig zu. „Nichts auf dieser Erde existiert isoliert.“
Der einzige ins Auge fallende Missgriff in Mr. Turner ist sein Versuch etwas „befreiende Komik“ hineinzubringen. Der junge John Ruskin (Joshua McGuire), der bereits einer der großen Turner ebenbürtigen Zeitgenossen war, reist mit seinen Eltern an, um den Maler zu treffen und einige seiner Werke zu erwerben. Anscheinend sucht Leigh den Kontrast zwischen einem geckenhaften, lispelnden und verweichlichten Ruskin einerseits und Turners Ernsthaftigkeit, Erfahrung und festem plebejischen Sinn andererseits. Doch Ruskin, der Schriftsteller und Kritiker, der noch über ein weiteres halbes Jahrhundert nach der im Film geschilderten Szene weiterlebte, war eine bedeutende Persönlichkeit, die diesen Hohn nicht verdiente.
Besondere Erwähnung verdienen auch einige der anderen darstellerischen Leistungen in Mr. Turner. Paul Jesson als Vater des Malers und Dorothy Atkinson als glücklose Hannah Danby sind ausgezeichnet, ebenso Marion Bailey, die Witwe, die etwas Geselligkeit und Stabilität in das Leben Turners brachte. Ruth Sheen und Leslie Manville, in den kleinen aber sehr bemerkenswerten Rollen der Sarah Danby und Mary Somerville, traten in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren regelmäßig in Leighs Filmen auf (in fünf von ihnen sogar gemeinsam: Another Year, Vera Drake, All or Nothing, Lügen und Geheimnisse und Hohe Erwartungen).
Dick Popes Kamerakunst trägt ebenfalls zur exzellenten Qualität des Films bei. Pope nutzte eine Technik, die Mr. Turner den großartigen Gemälden recht ähnlich macht. Statt eines Verweilens auf dem fertig gestellten Erzeugnis, sehen wir den Künstler bei seiner Arbeit, wir sehen die Welt so, wie Turner sie sah.
Zu seinem Lebensende bildete Turner einen Stil heraus, der beinahe abstrakt wirkt, eine Entwicklung, die mit Befremdung, wenn nicht offener Ablehnung, aufgenommen wurde. Doch obwohl der Künstler die Gunst des Publikums etwas verlor, hatte er noch seine Bewunderer. Ein wohlhabender Geschäftsmann bietet ihm für sein gesamtes Werk eine großzügige Summe, doch Turner fühlt sich noch nicht einmal in Versuchung. Er erklärt, dass er sein Werk der britischen Bevölkerung im Ganzen überlassen wolle.
Obgleich Turners Wünsche nicht gänzlich erfüllt wurden, so beherbergt die Clore Gallery des Tate Museum’s in London etwa 20.000 seiner Werke, darunter Gemälde, Aquarelle und Skizzenbücher. Einige von Turners Werken hängen in den bereits erwähnten amerikanischen Museen, außerdem im New Yorker Metropolitan Museum of Art, der National Gallery of Art in Washington, dem Yale Center for British Art in New Haven (Connecticut) und im Philadelphia Museum of Art.
Der in Deutschland zu Zeit nur noch in wenigen Programmkinos gezeigte Film ist ab dem 28. April als DVD erhältlich.