Nachdem ein jüdischer Mann vor der Hauptsynagoge in Kopenhagen ermordet wurde, hat Premierminister Benjamin Netanjahu erneut an die europäischen Juden appelliert, Europa zu verlassen und nach Israel auszuwandern. Das Gleiche tat er bereits nach dem Angriff auf einen jüdischen Supermarkt in Paris, bei dem nach dem Überfall auf Charlie Hebdo vier Juden ermordet worden waren. Die vier Leichname waren nach Israel ausgeflogen und dort beerdigt worden.
Die Bemühungen der Likud-Partei Netanjahus und des zionistischen Establishments, mehr jüdische Emigranten aus Europa anzulocken, ist Teil einer umfassenderen Kampagne, mit der die Terrorangriffe in zwei europäischen Hauptstädten ausgenutzt werden.
Nach dem Angriff von Kopenhagen erklärte Netanjahu: „Israel ist eure Heimat. Wir bereiten uns auf eine Massenauswanderung aus Europa vor und rufen dazu auf.“ Und weiter: „Wieder wurden Juden auf europäischem Boden ermordet, nur weil sie Juden waren.“
Nach der Pariser Attacke verbreitete er letzten Monat einen ähnlichen Aufruf über Twitter: „An alle Juden in Frankreich, alle Juden in Europa, Israel ist nicht nur der Ort, in dessen Richtung ihr betet, der israelische Staat ist eure Heimat.“
Netanjahu sagte, seine Regierung habe ein 45-Millionen-Dollar-Projekt „zur Aufnahme von Auswanderern aus Frankreich, Belgien und der Ukraine“ gestartet. Israel biete jüdischen Einwanderern schon jetzt erhebliche Anreize, wie Fördermittel, Steuererleichterungen, Unterstützungsgelder und Kredite. Er fügte hinzu: „ An die Juden Europas und an die Juden in der ganzen Welt, ich sage euch, dass Israel euch mit offenen Armen erwartet.“
Nach einem Bericht der Ha'aretz bildet die Regierung ein „ministerielles Sonderkomitee“, das „einberufen wird... um Schritte zu diskutieren, die zur Auswanderung aus Frankreich und aus Europa generell ermutigen.“
Zielscheibe ist vor allem die eine halbe Million zählende jüdische Gemeinde in Frankreich, die größte in Europa. 2014, so die Jewish Agency, kamen 7.000 Auswanderer aus Frankreich, dreimal so viele wie 2012. Sofa Landver, die israelische Integrationsministerin, erwartet für dieses Jahr mehr als 10.000 Einwanderer. Sie sagte, die Regierung werde fortfahren „die Aufnahme von Exilanten zu fördern, eine Vision, die das Volk von Israel seit der Staatsgründung hat.“
Teilweise sind Netanjahus Maßnahmen durch schlichte wahltaktische Überlegungen motiviert. Außerdem sollen sie seine politischen Gegner ausstechen, die sich um das Image von Beschützern der Juden bemühen. „Ich bin nicht nur als israelischer Premierminister, sondern auch als Vertreter des ganzen jüdischen Volkes nach Paris gegangen“, sagte er und bezog sich dabei auf seinen Paris-Besuch nach den Terrorangriffen auf Charlie Hebdo und einen koscheren Supermarkt in der Stadt.
Zu seiner umstrittenen Rede vor einer gemeinsamen Sitzung des amerikanischen Kongresses, zu der er vom Sprecher des Repräsentantenhauses, John Boehner, eingeladen worden war, sagte Netanjahu, er spreche im Interesse aller Juden: „So wie ich nach Paris gegangen bin, gehe ich überall hin, wohin ich eingeladen werde, um die israelische Position gegenüber unseren Todfeinden darzulegen.“
Netanjahus Aufforderung an Juden, nach Israel auszuwandern, die auch von seinen politischen Gegnern in der israelischen Elite unterstützt wird, resultiert aus der Sorge über die demographische Entwicklung in Israel und Palästina.
20 Prozent oder 1,6 Millionen der acht Millionen-Bevölkerung Israels sind Palästinenser und weitere 4,5 Millionen Palästinenser leben im Westjordanland und in Gaza. Ohne einen palästinensischen Kleinstaat wird die palästinensische Bevölkerung, deren Geburtenrate höher als die der israelischen Juden ist, bald größer als die israelische sein. Jüdische Zuwanderung nach Israel ist von entscheidender Bedeutung, wenn die Juden in Groß-Israel nicht in die Minderheit geraten wollen.
Nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center 2001 sagte Netanjahu, dass dies „sehr gut“ für Israel sei, weil es „unmittelbar Sympathie“ für seinen Krieg gegen die Palästinenser wecken werde.
Deshalb traten Netanjahu und seinesgleichen eine hysterische Kampagne in den israelischen Medien los und behaupteten, Juden könnten in Europa nie sicher sein. Europa werde geradezu von einer dschihadistischen Flut überschwemmt, die das Ziel habe, den christlichen Westen zu zerstören und zu erobern. Seine reaktionäre und spalterische Kampagne ist die Kehrseite einer anderen, ebenso reaktionären Agenda mit dem Ziel die internationale Arbeiterklasse auseinanderzudividieren.
Verschiedene Studien haben auf die Zunahme von Überfällen auf jüdisches Eigentum und Einrichtungen in Westeuropa hingewiesen. Das Wiederaufleben von Antisemitismus wird allerdings weitgehend durch das Verhalten der israelischen Regierungen angeheizt: von ihren mörderischen Kriegen gegen Gaza 2006, 2008-2009, 2012 und wieder letztes Jahr, von den tagtäglichen Erniedrigungen der Palästinenser im Westjordanland und Ost-Jerusalem, von der Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland und Ostjerusalem, von der Torpedierung der Friedensgespräche mit den Palästinensern und der Missachtung zahlloser UN-Resolutionen. Diese Politik hat international auch bei vielen Juden Entsetzen ausgelöst.
Die verbreitete Verärgerung gegenüber Israel wird von Islamisten und anderen reaktionären rechten Kräften nicht gegen die Täter gelenkt, sondern gegen das jüdische Volk.
Mehr als ein israelischer Kommentator hat dargelegt, dass Juden in Europa sicherer als in Israel leben, wo sie ständig mit den Gefahren des Krieges gegen die Palästinenser konfrontiert sind. Sie müssen ständig damit rechnen, von dem bösartigen sektiererischen Krieg in Syrien eingeholt zu werden, wo Israel die Islamisten aktiv unterstützt, ganz zu schweigen von den ständigen Kriegsdrohungen gegen den Iran.
Führende Vertreter der europäischen Juden kritisieren Netanjahus Auswanderungsappelle. Rabbi Jair Melchior, Chefrabbiner in Dänemark, sagte, er sei „enttäuscht“ über Netanjahus Aufruf an die europäischen Juden nach Israel auszuwandern. „Terror ist kein Grund zur Auswanderung nach Israel.“
Andere Kritiker greifen Netanjahus rechte Agenda auf, indem sie zusätzliche Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen forderten. Rabbi Menachem Margolin, Direktor der Europäischen Jüdischen Vereinigung, sagte, er bedauere, dass „nach jeder anti-semitischen Attacke in Europa die israelische Regierung die gleichen Stellungnahmen über die Bedeutung von aliyah (Auswanderung nach Israel) abgibt, anstatt alle zur Verfügung stehenden diplomatischen und informationellen Mittel einzusetzen, um das Leben der Juden in Europa sicherer zu machen.“
Margolin beschuldigt die europäischen Führer, nicht genug für die Bekämpfung anti- semitischer Angriffe und Vorurteile zu tun, und sagt, es sei nötig „alle jüdische Einrichtungen zu sichern.“ Er forderte von den europäischen Regierungen und den EU-Institutionen, eine europäische Arbeitsgruppe zum Schutz jüdischer Einrichtungen zu bilden und ihre Bemühungen im Bildungsbereich gegen den „zügellosen Antisemitismus“ zu verstärken. Er fügte noch hinzu: „Die europäischen Führer müssen uns in unserem Kampf gegen den Terror in unserer Heimat unterstützen.“
Die Antwort auf die zunehmenden Angriffe auf Juden ist nicht der Ausbau der Polizei und die Stärkung des Staatsapparates. Denn Polizei und Sicherheitskräfte dienen nicht der Verteidigung von Arbeitern, gleich welcher Religionszugehörigkeit und werden nicht zum Schutz unterdrückter Volksgruppen eingesetzt. Sondern sie verstärken die Unterdrückung.
Die Ereignisse zeigen, wie dringend der Zusammenschluss der Arbeiterklasse ist, egal ob muslimisch oder jüdisch, über nationale und religiöse Grenzen hinweg im Kampf gegen den Imperialismus und seine zionistischen und arabischen Statthalter. Der Kampf muss sich gegen die Kriegstreiberei richten und eine Sozialistische Föderation des Nahen Ostens anstreben.