65. Berlinale

Scheuklappen blenden Wirklichkeit aus

Teil 1

Dies ist der erste einer Reihe von Artikeln zum jüngst beendeten internationalen Berliner Filmfestival, der 65. Berlinale, die vom 5. bis zum 15. Februar 2015 stattfand.

Einige der Hauptfilme der diesjährigen fünfundsechzigsten Berlinale hinterließen den unmissverständlichen Eindruck, dass bestimmte prominente amerikanische und europäische Regisseure sich bewusst Scheuklappen aufgesetzt haben, um auszublenden, was um sie herum passiert. Kriegstreiberei mitten in Europa, sich beschleunigende Ungleichheit, sozialer Absturz auf ein Niveau, das seit den 1930er Jahren nicht mehr vorkam … keines dieser Themen wurde von ihnen eines Blickes gewürdigt.

Stattdessen schotteten sie ihre Arbeit soweit wie nur möglich hermetisch gegen die sozialen und politischen Umwälzungen ab, die gegenwärtig auf dem gesamten Erdball stattfinden. So erhielten diese Regisseure den Freiraum, sich besonders selbstverliebt auf ihre Lieblingsthemen konzentrieren zu können: Identitätspolitik, Sex und Tod.

Niemand will die Nacht

Vor zwei Jahren warf ich bei der Besprechung des Beitrags der spanischen Filmemacherin Isabel Croixet (Jg. 1960) für die Berlinale 2013 der Regisseurin vor, ihre „Verwirrung“ mit ihrem Publikum teilen zu wollen. Croixets jüngster Film, Niemand will die Nacht, macht deutlich, dass sich hinter ihrer „Verwirrung“ ein eindeutiges Programm verbirgt, eines, das den Gefühlen der wohlhabenden Mittelklasse sehr nahe steht: Geschlechterfragen, die Erhebung des Primitivismus über die Zivilisation und … das Hinaufschrauben des eigenen Kontostandes.

In der Vergangenheit produzierte Croixet eine Reihe von Wahlwerbevideos für die Spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE), eine der beiden großen bürgerlichen Parteien Spaniens. Möglicherweise startet sie jetzt einen Versuch, sich von den durch und durch diskreditierten spanischen Sozialdemokraten zu distanzieren, und hat sich dabei für ihren neuen Film buchstäblich bis auf den Nordpol zurückgezogen.

In Niemand will die Nacht versucht die Amerikanerin Josephine Peary (Juliette Binoche) ihren Ehemann, den Forscher Robert Peary zu finden, der während einer Expedition zum Nordpol verschwand. Die Handlung spielt etwa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Verlauf ihrer Wanderung durch die gefrorene Tundra ist Peary schließlich auf die Hilfe eines Inuitmädchens (Rinko Kikuchi) angewiesen, das eigene Gründe hat, Josephines Ehemann zu finden, wie sich herausstellen soll. Die mühselig konstruierte zweite Filmhälfte konzentriert sich auf die Beziehung der beiden Frauen und Josephines Erkenntnis, dass ihre zivilisierte Erziehung in der arktischen Eiswüste nur von geringem Nutzen ist.

Die Schauspielerin Binoche sagte auf einer Pressekonferenz in Berlin: “Die weiße, gebildete Person geht in die Wildnis und entdeckt eine neue Art zu fühlen. Ich hatte das Bild eines Pfaus vor Augen, der zu einem Hund wurde…Niemand will die Nacht. Wir wollen nicht in diesen dunklen Ort hinausgehen, aber manchmal sind wir dazu gezwungen.“

Auf derselben Pressekonferenz, die sich der Aufführung ihres Filmes anschloss (der als prestigeträchtiger Eröffnungsfilm fungierte), bemerkte Croixet, dass ihre Hauptmotivation für den Film die Herausforderung der männerorientierten Geschichten der Arktis gewesen sei. „Niemand hat bisher die Geschichte des Nordpols vom Gesichtspunkt der Frau erzählt“, erklärte sie.

Als sie zu der Geschlechterpolitik befragt wurde, die im Mittelpunkt ihres Streifens steht, machte Croixet deutlich, dass ihre eigene Konzeption des Feminismus auf Geld basiert: „Ich will mehr Geld für die Frauen“, sagte sie den Journalisten. „Das ist es, was ich will! Mehr Einkommen als sie [die männlichen Regisseure] wäre großartig. Aber ich bin einverstanden, wenn es das gleiche Einkommen wäre.“

Croixet ging dann dazu über, der Tatsache zu huldigen, dass Deutschland einen weiblichen “Präsidenten” habe (sie meinte Bundeskanzlerin Angela Merkel) und enthüllte weiter ihren politischen Standpunkt, indem sie Hillary Clinton als US-Präsidentin befürwortete: „Vielleicht sollten wir mehr weibliche Präsidenten haben. Sie hier haben eine Präsidentin. Vielleicht wenn wir auch in Japan eine hätten und in den [Vereinigten] Staaten…vielleicht Hillary!“

Eisenstein in Guanajuato

Während Croixet den Gesichtspunkt der Frauen als das fehlende Verbindungsstück in der cinematischen Behandlung des Nordpols identifizierte, hat sich der 72-jährige britische Regisseur Peter Greenaway dafür entschieden, das Werk des herausragenden russischen Regisseurs Sergei Eisenstein zu ergründen, indem er sich auf dessen Sexualleben konzentrierte. Eisenstein in Guanajuato ist ein abstoßender Film, der weit mehr über die demoralisierten und eigenartigen Vorlieben Greenaways aussagt, als über den berühmten sowjetischen Filmemacher.

Eisenstein in Guanajuato [Photo: Strand Releasing]

Laut Greenaway, der das Drehbuch schrieb, ist der Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung von Eisensteins Filmwerk im Verlust seiner Jungfräulichkeit zu finden, die er im Alter von 33 Jahren an einen mexikanischen Mann verlor.

Der Hintergrund zu Greenaways albernem Machwerk war eine Reise Eisensteins im Jahr 1931 nach Mexiko, wo er den FilmQue Viva Mexico! plante, der von prokommunistischen Sympathisanten in den Vereinigten Staaten finanziert werden sollte. Wie ein Kritiker zu Greenaways Film bemerkte, erfährt man nicht viel über die Probleme, denen Eisenstein in Mexiko begegnete, da er kaum einmal sein Schlafzimmer verlässt!

Dieser Rezensent verließ die Vorführung bereits in der ersten Filmstunde, nachdem Eisensteins Genitalien zum fünften Mal eingeblendet worden waren.

In der anschließenden Pressekonferenz suhlte sich Greenaway im Applaus der versammelten Journalisten und fuhr damit fort, die Macht von Eros und Thanatos im Kino zu preisen. „Es ist ganz sicher, sicher, sicher, dass Kino vollständig von Sex und Tod handelt, nicht wahr? Die westliche Kunst handelt größtenteils von Sex und Tod, vom allerersten Beginn an bis ganz zum Schluss.“

Greenaways Filme und seine Perspektive sprechen eine ganz bestimmte soziale Schicht an, die eifrig bemüht ist, die soziale Wirklichkeit auszublenden, indem sie vor allem „universelle“ und „zeitlose“ Motive wie Sex und Tod betonen und insbesondere die Quelle des eigenen Wohlstands und der sozialen Stellung verschleiern.

Knight of Cups

Bezüglich eines der letzten Filme des amerikanischen Regisseurs Terrence Malick, The Tree of Life, war diese Website, zu dem Schluss gekommen, dass das Werk zwar zahlreiche beeindruckende Bilder biete, es aber doch „mit einer Art intellektueller Spiegelfechterei [aufwartet], die als solche einige Probleme des intellektuellen Lebens der vergangen Jahrzehnte reflektiert.“

Diese intellektuelle Spiegelfechterei erklimmt in Malicks jüngstem Film, der auf der Berlinale seine Premiere hatte, neue Höhen oder vielmehr Tiefen. Knight of Cups (Ritter der Kelche) hat keine erkennbare Handlung. Sein Hauptprotagonist, der Drehbuchschreiber Rick (Christian Bale) zieht apathisch in Los Angeles umher und grübelt über die Wertlosigkeit seines eigenen und des Lebens im Allgemeinen nach – mitgeteilt wird dies durch eine Off-Stimme. Rick selbst sagt sehr wenig. Rick hat alles: Reichtum, Armani-Anzüge, einen Karrierehöhepunkt, schöne Frauen stehen ihm zur Auswahl (zumeist halbausgezogen oder nackt) – doch all dies erscheint ihm leer.

Der Film ist überladen mit pseudo-philosophierendem Geschwätz wie: „wenn man älter wird, glaubt man, die Verwirrung würde nachlassen, in Wirklichkeit aber nimmt sie zu“, und: „wir sind alle nur Fragmente, die vor der unmöglichen Aufgabe stehen, die Fragmente zusammenzufügen“.

Ebenso wie Greenaway hat auch Malick (Jg. 1943) seine huldigungsvollen Bewunderer, die bereitwillig jeglichen Anspruch auf eine kohärente Schilderung oder Charakterzeichnung aufgeben, um dafür ein paar überwältigende Bilder zu erhalten. Ein Verehrer nennt Knights of Cups ein “prachtvolles, hypnotisierendes, nachdenkliches, erlesenes Gegenstück zu The Tree of Life ”. Andere behaupten, Malicks neuer Film sei eine Kritik an der Traumfabrik Hollywood.

In Wirklichkeit zeigt sich unter der Oberfläche (und da ist nicht viel mehr als Oberfläche vorhanden) Malicks offensichtlich wachsende Verdrossenheit über die Menschheit. In einer Sequenz in Knight of Cups spaziert Rick an Obdachlosen im Armenviertel von Los Angeles vorüber, die mit Pappkartons bedeckt sind. Die Off-Stimme erklärt: „Manchmal wünsche ich mir eine Sintflut, die alles hinwegspült.“

Queen of the Desert

Der erfahrene deutsche Regisseur Werner Herzog (Jg. 1942), umgeht die schlimmsten Auswüchse von Greenaway und Malick. Sein neuer Film Queen of the Desert, der als Gegenstück zu David Leans Klassiker Lawrence von Arabien (1962) beschrieben wurde, handelt von der historischen Person Gertrude Bell (gespielt von Nicole Kidman), die mit der traditionellen Frauenolle bricht, die ihr als Angehörige der englischen Oberschicht zufiel, und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als Forscherin in den Nahen Osten geht, wo sie später zur Diplomatin wird.

Durch ihre Diplomatentätigkeit spielte Bell eine Schlüsselrolle bei den Grenzziehungen im Nahen Osten, vor allem bei jenen des Iraks und Jordaniens. Damit half sie dem britischen Imperialismus, seinen Einfluss in der Region aufrechtzuerhalten. Die wiederholten Interventionen, die die westlichen imperialistischen Mächte in den vergangenen Jahren dort erneut unternahmen, brachten der Region Chaos und unermessliches Leid. Fraglos gibt es ausreichend Gründe, eindeutige historische Parallelen zu der verheerenden Rolle zu zeichnen, die die Großmächte im Nahen Osten spielen, und daraus Schlossfolgerungen zu ziehen.

Allerdings ist dies nicht der Weg, den Herzog einschlägt. Bells Rolle bei der Festlegung der Grenzen des Iraks und Jordaniens wird am Ende des Films nur kurz erwähnt. Herzog aber zieht es vor, den größten Teil seines Werks auf Bells frustrierende Beziehungen zu verschiedenen ihrer männlichen Zeitgenossen zu konzentrieren, wobei er die „natürliche Schönheit“ der Region betont, wie er selbst sagt.

Ermüdend erläuterte Herzog in vorhersagbarer Weise der Presse, seine Absicht sei gewesen, „eine Geschichte zu erzählen, und nicht, eine Geschichtsstunde zu halten“. Als Nicole Kidman auf der Pressekonferenz in Berlin zur Politik in der Region befragt wurde, spielte sie den Ball zurück zu Herzog und sagte: „Ich versuchte, von Werner eine Geschichtslektion zu erhalten, aber er sagte nur: ‘Nicole, das führt zu weit.”

Herzog ist bekannt dafür, dass er die Verteufelung der Muslime durch die Medien kritisiert, doch in dem Maße, in dem er in seinem neuen Film einem authentischen historischen Ansatz ausweicht, liefert er den westlichen Mächten Schützenhilfe. Diese tragen die Verantwortung für den vollständigen Zusammenbruch der sozialen, politischen und ethnischen Verhältnisse im Nahen Osten.

Diese Rezension befasste sich mit einigen der meistmissratenen Filme dieser Berlinale und führte dazu ideologische und künstlerische Hindernisse an, die Filmemachern im Wege stehen. Gleichzeitig gab es auf dem Festival aber auch Filme, neue und alte, die einen authentischen Zugang zur Geschichte und dem sozialen Leben wählten. Am bemerkenswertesten ist der Dokumentarfilm The Memory of Justice (1976) (dt. Nicht schuldig) des französischen Regisseurs Marcel Ophüls, der von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg handelt.

Die nachfolgenden Artikel werden The Memory of Justice und einige der interessanteren Filme besprechen, die auf dem Festival zu sehen waren.

Wird fortgesetzt

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