Am 18. Dezember letzten Jahres hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Beschwerde dreier Männer zurückgewiesen, die durch Lockspitzel der Polizei zum Drogenhandel angestiftet und dann zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Nun hat das BVerfG seine Entscheidungsgründe veröffentlicht, die weitgehende Folgen haben.
Die offizielle Pressemitteilung des Gerichts trägt die Überschrift: „Die rechtsstaatswidrige Tatprovokation steht einer Verurteilung nicht zwingend entgegen“, wobei das Wort „zwingend“ das Urteil beschönigt, denn der von den Richtern konstruierte „extreme Ausnahmefall“, in dem der „rechtsstaatswidrige“ Einsatz von Lockspitzeln und Polizeiagenten einer Verurteilung entgegensteht, dürfte in der Praxis nicht vorkommen.
Das Landgericht Berlin hatte die drei Beschuldigten zu Gefängnisstrafen von jeweils um die vier Jahre verurteilt, obwohl es selbst zum Schluss gelangt war, dass sie Opfer einer „rechtsstaatswidrigen Tatprovokation“ waren und die Polizei gegen den Grundsatz des „fairen Verfahrens“ (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention) verstoßen hatte.
Das Landgericht billigte den Angeklagten lediglich eine Strafminderung zu. Hätten sie aus eigenem Antrieb gehandelt, hätte das Strafmaß bei sieben bis zehn Jahren gelegen.
Das BVerfG hat sich nun dieser Auffassung angeschlossen. In seiner Urteilsbegründung schildert es detailliert, wie die Lockspitzel ihre Opfer monatelang bearbeiteten und keine Kosten und Mühen scheuten, um ihren anfänglichen Widerstand zu überwinden und sie in die Falle zu locken.
Gegen den „Haupttäter“ habe es seit September 2009 Beschuldigungen aus dem kriminellen Milieu gegeben, „aus einem Café heraus in großem Umfang mit Heroin zu handeln“, heißt es in der Begründung. Der Verdacht habe sich zunächst nicht bestätigt.
Ab November 2009 sei dann eine „Vertrauensperson“ (d.h. ein V-Mann, der üblicherweise selbst aus dem jeweiligen Milieu kommt) mit Ermittlungen beauftragt worden. Die „Vertrauensperson“ wurde dafür gut bezahlt. Sie „sollte für ihre Tätigkeit über die Auslagenerstattung hinaus Honorare für die jeweiligen Einsatztage sowie eine – vom Umfang der sichergestellten Menge abhängige – Erfolgsprämie erhalten.“
Die Vertrauensperson suchte nun häufig das fragliche Café auf, um mit dem Opfer Kontakt aufzunehmen. Sie wurde, erläutert das BVerfG, „mit einer Legende ausgestattet, der zufolge sie selbst mit Heroin handle, das über Bremerhaven in Containern eingeführt und durch einen Kontakt zu einem Hafenarbeiter – bei dem es sich um einen verdeckten Ermittler handelte – an der Zollkontrolle vorbei aus dem Hafenbereich geschafft werden könne.“
Der später Verurteilte ließ sich aber nicht darauf ein, sondern sagte dem Lockspitzel, er wolle „mit dem ‚Dreckszeug Heroin‘ nichts zu tun haben“. Er habe allerdings erkennen lassen, „dass Haschisch und Kokain für ihn etwas anderes seien“.
Nun änderte die Polizei ihre Taktik und versuchte das Opfer mit diesen Drogen in die Falle zu locken. „Nach fast neun Monaten ohne Anhaltspunkte für eigene Kokain- oder gar – dem Anfangsverdacht entsprechend – Heroingeschäfte des Beschwerdeführers wurde der Einsatz der Vertrauensperson nun mit Blick auf die polizeilich konstruierte Bremer Einfuhrmöglichkeit fortgesetzt.“
Im August schaltete sich auch ein verdeckter Ermittler der Polizei ein, der ebenfalls als Drogenhändler auftrat und den „Haupttäter“ ebenfalls zur Tat animierte. Nach etwa anderthalb Jahren, nachdem immer wieder auf ihn eingeredet worden war, kam es dann zur eigentlichen Tat, einem Deal über fast 100 kg Kokain.
Das BVerfG spart zwar nicht mit Kritik an Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Ermittler sollten „Straftaten aufklären, nicht selbst herbeiführen“. Wenn die Staatsanwaltschaft ihrer Kontrollfunktion nicht in ausreichendem Maße nachkomme oder sich die Polizei bewusst dieser Kontrolle entziehe, seien Rechtsstaatlichkeit und gesetzmäßige Verfahrensabläufe nicht mehr sichergestellt. Das zeige der vorliegende Fall. Die Staatsanwaltschaft habe bei der Kontrolle der Polizei „versagt“.
Trotzdem lehnte das BVerfG die Beschwerde des Mannes ab, der auf diese Weise in die Falle gelockt worden war. Denn schließlich habe es sich nicht um einen unschuldigen Bürger gehandelt, er sei vor der Tatprovokation nicht unverdächtig gewesen, die V-Leute der Polizei hätten ihn nicht bedroht, und er habe eine „Tatgeneigtheit“ zu Geschäften mit Kokain und Haschisch „angedeutet“.
Es ist also laut BVerfG rechtens, wenn der Staat nach einer „rechtsstaatswidrigen Tatprovokation“ jemanden ins Gefängnis bringt, dessen Pech darin besteht, aufgrund falscher Beschuldigungen aus dem kriminellen Milieu der Polizei verdächtig erschienen zu sein und dann nach „einem sehr langen Zeitraum“ den „erheblichen Verlockungen und Druck“ der Polizeiprovokateure nachgegeben zu haben.
Begründet wird dies – in typisch deutscher Manier – mit den Bedürfnissen des „Rechtstaats“, die einen höheren Rang besitzen als die demokratischen Rechten des Einzelnen. Wörtlich heißt es in der Urteilsbegründung des BVerfG:
„Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden. Verfahrensgestaltungen, die den Erfordernissen einer wirksamen Strafrechtspflege dienen, verletzen daher nicht schon dann den grundrechtlichen Anspruch auf ein faires Strafverfahren, wenn verfahrensrechtliche Positionen des Angeklagten oder Beschuldigten dabei, gemessen am früheren Zustand, eine Zurücksetzung zugunsten einer wirksameren Strafrechtspflege erfahren.“
Weniger verquast und hochgestochen heißt das: Wenn der Rechtsstaat jemanden ins Gefängnis stecken will, dann muss er das auch dürfen und dann müssen Grundsätze des fairen Verfahrens eben zurückstehen.
Das Urteil des BVerfG öffnet jeder Form staatlicher Provokation Tür und Tor. Wenn V-Leute im Drogenmilieu „rechtstaatswidrig“ so lange provozieren dürfen, bis jemand als „Täter“ verurteilt werden kann, weshalb nicht auch politische Provokateure. Es würde dann beispielsweise genügen, dass ein Lockspitzel ein Mitglied einer politischen Organisation zu einer Straftat verleitet, oder als Mitglied dieser Organisation selbst eine solche begeht, um sie als „terroristische Vereinigung“ zu verfolgen und zu verbieten.