Mit ihrer Reaktion auf das Wahlergebnis in Griechenland haben deutsche Medien und Politiker ihre Verachtung für demokratische Entscheidungen zur Schau gestellt. Die Tatsache, dass die griechischen Wähler einer Regierung an die Macht verhalfen, die im Wahlkampf ein Ende des Brüsseler Spardiktats versprach, hat eine wahre Flut von Beschimpfungen ausgelöst.
Typisch ist ein Kommentar der Deutschen Welle vom vergangenen Freitag unter dem Titel „Griechenland läuft Amok“. Die Brüsseler Korrespondentin Barbara Wesel fordert darin „schnelle Gegenstrategien“, bevor „Griechenlands Chaostruppe“ ganz Europa mit in den Abgrund reißt. An die griechische Bevölkerungen gerichtet schimpft sie: „Niemand ist Schuld außer ihr selbst! Hört auf, euch in der Opferrolle zu suhlen.“
Sie bringt den Rauswurf Griechenlands aus dem Euro ins Gespräch und schreibt: „Man kann ja glauben, dass Frechheit siegt“ und auch „besoffen sein von seiner neuen Macht“. Aber, wenn man am Rande des Staatsbankrotts stehe, dürfe man die internationalen Geldgeber nicht „pausenlos beleidigen“.
Der neuen griechischen Regierung warf sie vor, sie ersetze „Vernunft und Realitätssinn durch Unverschämtheit und schlechte Manieren“. Die EU solle sehr schnell über Mechanismen nachdenken, „wie man der Abrisstruppe in Athen vielleicht den ‚Grexit‘ möglich machen kann, bevor sie ganz Europa mit sich reißt. Reisende soll man nämlich nicht aufhalten, vor allem diese Sorte nicht.“
Führende deutsche Politiker betonten, dass sie sich von der Entscheidung der griechischen Wähler nicht in ihrem Spardiktat beirren ließen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) erklärte in zahlreichen Interviews, die neue Regierung sei an sämtliche Verträge ihrer Vorgängerin gebunden und könne keine Zugeständnisse erwarten. Ein Schuldenschnitt komme nicht infrage.
Sein Parteifreund Günther Oettinger, der deutsche EU-Kommissar in Brüssel, sagte dem Deutschandfunk, die neue griechische Regierung werde schnell feststellen, dass „wir nicht wegen einer Wahl unsere Position verändern“. CDU-Fraktionschef Volker Kauder erklärte: „Frechheit darf nicht siegen“, es gebe „überhaupt keinen Grund, etwas zu verändern“.
Auch die SPD stimmte in diesen Chor mit ein. Fraktionschef Thomas Oppermann verkündete: „Es wird keinen Schuldenschnitt geben.“ Der Präsident des Europaparlaments Martin Schulz (SPD) reiste wenige Stunden nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses nach Athen. Der Presse sagte er, er sei nicht gekommen, um über politische Ideologie oder soziale Phantasie zu diskutieren, sondern um Klartext zu reden und deutlich zu machen, „was geht und was nicht geht“.
Der Grund für diese Drohungen und Beschimpfungen ist nicht die neue Regierung unter Alexis Tsipras. Mit ihr stand die Berliner Regierung bereits vor der Wahl über den Staatssekretär im Arbeitsministerium Jörg Asmussen (SPD) in engem Kontakt, einem Finanzexperten und früheren Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank.
Seit der Wahl haben Tsipras und sein Finanzminister Yanis Varoufakis immer wieder betont, dass sie im Euroraum verbleiben, die Voraussetzungen für die Rückzahlung der griechischen Schulden schaffen und den Sparkurs in modifizierter Form fortsetzen wollen. So beteuerte Varoufakis diese Woche in einem Interview mit der Zeit: „Ich kann Ihnen versprechen: Griechenland wird – abzüglich der Zinsausgaben – nie wieder ein Haushaltsdefizit vorlegen. Nie, nie, nie!“
Die an Panik grenzende Wut der deutschen Regierung und der Medien hat im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens fürchten sie, das Wahlergebnis in Griechenland könnte ungeachtet der rechten Politik von Syriza Arbeiter in anderen Ländern – in Spanien, Italien, Frankreich und auch in Deutschland – ermutigen, dem von Paris und Brüssel diktierten Sparkurs entgegenzutreten.
Griechenland diente nämlich aus deutscher Sicht stets als Pilotprojekt, um die Löhne und Sozialausgaben in ganz Europe zu senken und die Finanzelite zu bereichern. Die Milliardensummen, die angeblich der „Rettung“ Griechenlands dienten, flossen direkt auf die Konten deutscher und internationaler Banken, die so ihre Risiken loswurden, während die griechischen Staatsschulden seit 2010 von 128 auf 177 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kletterten.
Dafür bezahlen musste die Arbeiterklasse. Seit 2009 haben die deutsche Regierung und die Troika aus EU, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank in Griechenland Haushaltskürzungen von mehr als 60 Milliarden Euro erzwungen. Das Ergebnis ist eine soziale Katastrophe.
Zum Jahresende veröffentlichte der internationale Dachverband von 178 Menschenrechtsorganisationen FIDH einen Bericht über die Auswirkungen dieses Spardiktats. Die Renten und Löhne wurden um bis zu 50 Prozent gekürzt, der Mindestlohn um 22 Prozent auf 586 Euro im Monat gesenkt. 180.000 Kleinunternehmen mussten seit Ausbruch der Krise schließen. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 28 Prozent, unter Jugendlichen sogar bei 61 Prozent.
Schätzungen zufolge sind mittlerweile 2,5 Millionen Griechen ohne Krankenversicherung. Innerhalb eines halben Jahres stieg die HIV-Infektionsrate um 52 Prozent, 62 Menschen starben an dem wieder aufgetauchten West-Nil-Virus. Die Selbstmordrate ist nach offiziellen Angaben um 36 Prozent gestiegen.
Die Gelder, die auf diese Weise eingespart wurden, landeten auf den Konten des internationalen und des deutschen Geldadels. Folgende Zahlen machen das Ausmaß der Umverteilung deutlich, die sich keineswegs auf Griechenland beschränkte: Seit 2009 stieg die Zahl der Dollar-Milliardäre weltweit von 880 auf 2.325. Allein in Deutschland leben 148 Milliardäre. Es liegt damit hinter den USA und China an dritter Stelle.
Der zweite Grund für die deutsche Arroganz ist die Angst, dass der Regierungswechsel in Griechenland die deutsche Vormachtstellung in Europa unterhöhlt.
Die Regierung Tsipras beabsichtigt zwar nicht, die Privilegien und den Reichtum der internationalen Finanzelite anzutasten, sie verspricht ihr sogar bessere Investitionsbedingungen in Griechenland und wird deshalb unter anderem von US-Präsident Obama, der Financial Times und dem Wall Street Journal gelobt. Sie hat sich aber bemüht, ein Bündnis mit jenen Staaten zu schmieden, die eine inflationäre Politik dem deutschen Austeritätskurs vorziehen.
Die deutsche Wirtschaft hat wie kaum eine andere von diesem Austeritätskurs profitiert. Dank der höheren Arbeitsproduktivität und dem riesigen Niedriglohnsektor, der durch die Hartz-Reformen vor zehn Jahren entstand, konnte sie nach der Finanzkrise 2008 die Schwäche anderer EU-Mitglieder ausnutzen. Während die Wirtschaft in Deutschland wuchs, stagnierte sie in Italien, Spanien und teilweise auch in Frankreich. In Griechenland brach sie um 25 Prozent ein.
Außerdem haben deutsche Banken und Konzerne am drakonischen Spardiktat und der Privatisierung öffentlichen Eigentums in Griechenland kräftig verdient. So erhielt der Flughafenbetreiber Fraport im November vergangenen Jahres den Zuschlag für den Betrieb von insgesamt 14 Regionalflughäfen in Griechenland. Darunter befinden sich die Flughäfen auf stark frequentierten Ferieninseln wie Kreta und Rhodos sowie der Flughafen der zweitgrößten Stadt des Landes, Thessaloniki. Fraport hofft auf profitable Geschäfte durch den Ausbau der griechischen Tourismusindustrie.
Das Hauptargument der deutschen Regierung gegen eine Aufweichung des Sparkurses lautet, sie werde dazu führen, dass andere Regierungen in ihren „Reformbemühungen“ – d.h. ihren Angriffen auf die Arbeiterklasse – nachlassen und dass Deutschland für die Deckung entstandener Defizite aufkommen müsse und so seine wirtschaftlichen Vorteile verliere.
In den vergangenen Tagen liefen die Telefondrähte zwischen Berlin, Brüssel, Paris und Rom heiß. Die deutsche Regierung wollte die Zusicherung – und bekam sie auch –, dass sich die französische und die italienische Regierung, die wesentlich freundlicher auf den Regierungswechsel in Athen reagierten, nicht mit der neuen griechischen Regierung gegen Berlin verbünden.
Die Regierung Tsipras hat seither deutlich gemacht, dass sie sich auch mit der deutschen Regierung arrangieren wird. Finanzminister Varoufakis schmeichelte ihr in der Zeit: „Deutschland ist das mächtigste Land Europas. Ich glaube, dass die EU davon profitieren würde, wenn Deutschland sich als Hegemon verstünde.“ Ein Hegemon, fuhr er fort, müsse für andere Verantwortung übernehmen, wie die USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Er stelle sich „einen Merkel-Plan vor, nach dem Vorbild des Marshall-Plans“.
Das arrogante und aggressive Auftreten der deutschen Regierung und Medien gegen die griechische Bevölkerung erinnert an die finstersten Tage der Vergangenheit, als die selbsternannte deutsche Herrenrasse ganz Europa besetzte und terrorisierte und auch in Griechenland unsägliche Verbrechen verübte. In wenigen Monaten jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal.
Die Ankündigung von Bundespräsident Gauck im vergangenen Jahr, die Zeit der militärischen Zurückhaltung sei vorbei, macht deutlich, dass die herrschende Klasse entschlossen ist, ihre Wirtschaftsinteressen erneut auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen.