Seit dem Terroranschlag auf Charlie Hebdo entfaltet der französische Staat systematisch eine rassistische Propaganda; gleichzeitig hofiert Präsident François Hollande den faschistischen Front National (FN), dessen Führerin Marine Le Pen er in den Elysée-Palast eingeladen hat. Alle diese Ereignisse wecken böse Erinnerungen an eine frühere Ära der französischen Geschichte: die Periode des Vichy-Regimes.
Im Juni 1940, zwei Monate nach der Invasion Frankreichs, besiegte Nazideutschland die französische Armee und marschierte ungehindert in Paris ein. Am 22. Juni unterzeichneten Frankreich und Deutschland einen Waffenstillstand und teilten das Land in zwei Zonen auf: Die eine umfasste den von den Nazis besetzten Norden und Westen, mit Paris im Zentrum, und die andere, offiziell unbesetzte Zone im Süden, wurde vom Kollaborationsregime in Vichy regiert.
Die französischen Wirtschafts- und Militärführer kapitulierten äußerst schnell, denn sie waren der Meinung, die Besetzung Frankreichs sei das beste Mittel, der sozialen Opposition im Land Herr zu werden. Den gleichen Kurs hatte die herrschende Klasse schon siebzig Jahre vorher, im deutsch-französischen Krieg von 1870-71, eingeschlagen. In der Folge führten die Nazibesatzer und die französischen Kollaborateure gemeinsam einen brutalen Krieg gegen die Arbeiterklasse.
Nicht nur verfolgte das Vichy-Regime unbarmherzig jeden sozialistischen Gegner ihrer inneren Reaktion und ihrer Kriegspolitik. Die Regierung unterstützte auch vorbehaltlos die rassistische und antisemitische Propaganda der deutschen Faschisten und leistete Beihilfe, als Zehntausende Juden in die Konzentrationslager deportiert wurden.
Die beiden zentralen Figuren des Vichy-Regimes waren Marschall Philippe Pétain, der “Staatschef”, und Pierre Laval, der zuerst als Präsident des Ministerrates und später als Regierungschef diente. Pétain verkörperte die reaktionären, antirepublikanischen Traditionen der herrschenden Klasse und des französischen Militärs. Gefeiert als Befehlshaber in der Schlacht von Verdun, hatte er im Ersten Weltkrieg die Antikriegsmeutereien unterdrückt. Er war glühender Antisemit und unterhielt die besten Beziehungen zum Regime des spanischen Diktators Francisco Franco.
Laval personifizierte die Korruption der französischen “Linken”. Seine politische Karriere hatte ihn mit Leichtigkeit aus dem Lager der Sozialistischen Partei zur Kollaboration mit den Nazis geführt. In den 1920er Jahren hatte Laval dem regierenden „Links-Kartell“ angehört, bevor er in den 1930er Jahren, zur Zeit der großen Depression, in konservativen Regierungen mitmischte. Als die Kämpfe der Arbeiterklasse einen neuen Aufschwung nahmen, schied er aus dem Parlament aus und bewegte sich sehr schnell nach rechts. Schließlich wurde er zur zentralen Figur der faschistischen Kollaborateure. Damals fiel auf, dass sich sein Name rückwärts genauso liest wie vorwärts. Das wurde als passender Ausdruck seines rückgratlosen Opportunismus gesehen.
Nach dem Krieg wurde Laval vor Gericht gestellt und erschossen. Pétain wurde zum Tode verurteilt, aber das Urteil wurde aufgrund seines hohen Alters nicht vollstreckt. Nur eine geringe Zahl von Nazikollaborateuren wurde überhaupt für ihre Rolle in der Vichy-Regierung zur Verantwortung gezogen, denn ein großer Teil von Frankreichs politischem Apparat war gleichermaßen belastet.
Das Beispiel Lavals wirft Licht auf die reaktionären Manöver eines anderen Politikers: Auch François Hollande ist seit langen Jahren Experte im prinzipienlosen Manövrieren. Ihn nahm der Ex-Vichy Politiker François Mitterrand nach dem Generalstreik von 1968 in die Lehre, als die Sozialistische Partei in den 1970ern als Wahlkampfmaschine für Mitterrand neu gegründet wurde und Mitterrand selbst als Kandidat der Linken ein neues Gesicht erhielt.
In den vergangenen 35 Jahren hat die fälschlich so genannte französische Linke einen ständigen Niedergang erlebt. Dieser Prozess hat im aktuellen Präsidenten François Hollande und seinem Premierminister Manuel Valls einen neuen Höhepunkt erreicht. Valls ist vor allem für seine Massendeportationen von Roma berüchtigt. Was Hollande betrifft, so ist er wegen seiner reaktionären Politik heute zu Recht der unbeliebteste Präsident der französischen Nachkriegsgeschichte. Bei Umfragen im November erhielt Hollande Zustimmungsraten von nur noch zwölf Prozent, d.h. noch weniger als die al-Qaida-Gruppierung ISIS, die sechzehn Prozent Zustimmung erhielt.
Nach wie vor gibt es zahlreiche offene Fragen um den Terroranschlag auf Charlie Hebdo. Eins ist indessen völlig klar: Die Regierung ist entschlossen, die Gräueltat dazu zu nutzen, die französische Politik weiter nach rechts zu drücken. Sie will die demokratischen Rechte sehr weitgehend einschränken und gleichzeitig sicherstellen, dass die herrschende Klasse Frankreichs bei der imperialistischen Neuaufteilung der Welt nicht zu kurz kommt.
Um für diese Veränderungen ein günstiges Klima zu schaffen, werden die allerreaktionärsten Elemente mobilisiert. Dabei haben, zumindest für den Moment, die Angriffe auf Muslime die antisemitische Propaganda der Vichy-Zeit ersetzt. Charlie Hebdo ist ein Baustein in diesem Projekt. Besonders die Karikaturen des Magazins, die in einer vom Staat finanzierten Ausgabe neu herauskamen, sollen gezielt antimuslimischen Rassismus aufputschen.
An dieser üblen politischen Operation wirkt ein ganzes Sammelsurium kleinbürgerlicher Philister und selbstzufriedener Opportunisten der französischen „Linken“ mit. Dazu zählt auch die Neue Antikapitalistische Partei (NPA), die schon seit langem Werbung für Hollandes sozialistische Partei macht und enge Beziehungen zu Charlie Hebdo unterhält.
Unmittelbare politische Nutznießer sind die faschistische Nationale Front (FN) und Marine Le Pen. Sie wurde von Hollande vergangene Woche unter dem Motto der „nationalen Einheit“ in den Elysée-Palast eingeladen. Le Pens Vater und Gründer der Nationalen Front, Jean-Marie Le Pen, hat die Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg durch die Nazis immer wieder gutgeheißen und nennt den Holocaust bis heute lediglich ein „Detail“ der Geschichte.
Bei allen historischen Unterschieden erinnert das Treffen Hollandes mit Le Pen doch stark an das Zusammenkommen von Laval und Pétain. In dieser Allianz geht es um mehr als politischen Opportunismus. Der wesentliche Charakter der herrschenden Klasse Frankreichs tritt wieder klar hervor. In der tiefen Krise leben in neuer Form die alten Praktiken jener Zeit wieder auf, als Frankreich Seite an Seite mit Nazideutschland stand. Über dem Elysée-Palast hängt der Modergeruch von Vichy.