Tatjana Iwarowna Smilga-Polujan: 22. Mai 1919 – 27. September 2014

Die World Socialist Website verabschiedet sich voller Hochachtung von Tatjana Iwarowna Smilga-Polujan, der Tochter des Revolutionärs und Linken Oppositionellen Iwar Smilga. Sie starb am 27. September in Moskau im Alter von 95 Jahren.

Tatjana Smilga widmete ihr gesamtes Leben der Verteidigung der historischen Wahrheit über all jene, die durch die stalinistische Reaktion ermordet und verleumdet wurden.

Geboren im Jahr 1919, zwei Monate nach der Gründung der Dritten Kommunistischen Internationale (Komintern) durch Lenin und Trotzki, wuchs Tatjana Smilga in einer außergewöhnlichen Familie mit jahrzehntelanger revolutionärer Tradition auf, deren Schicksal aufs Engste mit der Entwicklung der russischen Revolution im 20. Jahrhundert verbunden war.

Ihr Großvater, Tenis Smilga, hatte sich in Litauen an der russischen Revolution von 1905 beteiligt. 1906 wurde er als einer der lokalen Anführer des Aufstands gegen den Zaren hingerichtet. Ein Jahr später trat Tatjanas Vater, Iwar Smilga, im Alter von 14 Jahren der bolschewistischen Fraktion der Russischen Sozialdemokratischen Partei bei. Im Jahr 1917 war er bereits einer der führenden Mitglieder der Partei sowie ein enger Vertrauter Wladimir Lenins. An ihn wandte sich Lenin, als die Auseinandersetzungen in der Parteiführung über die Vorbereitung des Aufstands, den Kamenew und Sinowjew in Opposition zu Lenin und Trotzki ablehnten, immer heftiger wurden. Lenin bat Smilga, die Truppen in Finnland darauf vorzubereiten, der Revolution in Petrograd zur Hilfe zu kommen.

Iwar Smilga und zwei Brüder von Tatjanas Mutter gehörten zu den Helden des Bürgerkriegs, die gegen die konterrevolutionären Weißen Armeen und die Interventionsarmeen der imperialistischen Mächte kämpften. Doch nach dem Sieg der sowjetischen Armee im Bürgerkrieg geriet die junge Sowjetunion unter großen internationalen Druck. Die revolutionären Kämpfe im Westen blieben erfolglos und der erste Arbeiterstaat, dem das Programm der Weltrevolution zugrunde lag, wurde isoliert.

Nach der Niederlage der deutschen Revolution von 1923 wuchsen bürokratische Tendenzen innerhalb der Sowjetunion. In der bolschewistischen Partei entwickelte sich ein heftiger Fraktionskampf und 1924 verkündete Stalins Fraktion das Programm des „Sozialismus in einem Land“. Diese politische Ausrichtung wurde zur Grundlage für die Reaktion gegen das Programm der Oktoberrevolution.

Die Linke Opposition unter der Führung von Leo Trotzki kämpfte gegen diese reaktionäre Linie. Sie verteidigte die Theorie der Permanenten Revolution und trat bis 1933 für eine politische Reform der Kommunistischen Parteien ein. Nach Hitlers Machtübernahme 1933 rief schließlich Trotzki zum Aufbau einer neuen Internationale, der Vierten Internationale, auf, die für den Sturz der stalinistischen Bürokratie durch eine politische Revolution und die Verteidigung der Errungenschaften der russischen Revolution kämpfte.

Iwar Smilga gehörte zu jenen, die sich im innerparteilichen Kampf Leo Trotzki anschlossen. Für den Rest der 1920er Jahre spielte er eine führende Rolle innerhalb der Linken Opposition. Er wurde 1927 aus der Partei ausgeschlossen und 1928 in die Verbannung geschickt. Erschöpft vom jahrelangen, unnachgiebigen revolutionären Kampf, kapitulierte er 1929 vor Stalin. 1935 verhaftete ihn der Geheimdienst NKWD. Trotz brutaler Folter gestand er kein einziges „Verbrechen“, und die Stalinisten waren nicht in der Lage, ihn in einem der fürchterlichen Schauprozesse einzusetzen. Er wurde im Januar 1937 erschossen.

Tatjanas Mutter, Nadjeschda Wasiljewna Polujan, die seit 1915 den Bolschewiki angehörte, wurde kurz nach ihrem Ehemann verhaftet und bei einer Massenhinrichtung in Karelien im November 1937 erschossen. Mit nur wenigen Ausnahmen fielen alle Verwandten von Tatjana Smilga-Polujan dem stalinistischen Terror oder dem Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zum Opfer.

Tatjana Smilga selbst wurde 1939 gemeinsam mit vier Mädchen aus ihrer ehemaligen Schulklasse verhaftet. Als Grundlage für ihre Verurteilung wegen „konterrevolutionärer Agitation“ nach Artikel 58 dienten zwei Äußerungen, eine davon in der Gegenwart eines jungen Mannes, der sich später als Informant des NKWD herausstellte. Tatjana Smilga, die damals wie so viele ihrer Generation eine überzeugte Sozialistin war, hatte gesagt: „Wie können wir die Weltrevolution machen, wenn man in anderen Ländern erfährt, dass alle alten Bolschewiki bei uns verhaftet wurden?“

Tatjana Smilga 1951

Tatjana Smilga sollte die nächsten 14 Jahre ihres Lebens im Gefängnis, in Lagern und in der Verbannung verbringen. 1953 wurde sie aus der Verbannung entlassen. Ihre anfängliche Rehabilitation erfolgte 1956, aber erst 1958 konnte sie nach Moskau zurückkehren. In der Verbannung hatte sie ihren künftigen Ehemann kennengelernt und ihre gemeinsame Tochter, Oxana, zur Welt gebracht. Als Tochter von Iwar Smilga, einem bekannten Trotzkisten, konnte sie nicht den Beruf ihrer Wahl ausüben und arbeitete als Lehrerin.

Trotz der harten Schicksalsschläge, die sie aufgrund der historischen Bedingungen hinnehmen musste, verlor Tatjana Smilga-Polujan nie ihren Optimismus und ihren Sinn für beißenden Humor und Witz. Wie ihre Eltern liebte sie Musik und Literatur. Im Mittelpunkt ihres Lebens stand jedoch die Bemühung, ihre Eltern und deren Generation zu rehabilitieren, und zwar nicht einfach im rechtlichen, sondern im historischen und politischen Sinne. Dieser Aufgabe widmete sie sich mit scheinbar unerschöpflicher Energie und beachtlichem persönlichen Mut.

Als die sowjetische Bürokratie während der Periode der Perestroika gezwungen war, zumindest einen Teil der Verbrechen des stalinistischen Regimes zuzugeben, konnte Tatjana Smilga im Jahr 1987 endlich die vollständige Rehabilitierung ihrer Eltern erreichen – fast genau ein halbes Jahrhundert nach ihrer Ermordung. Ihre eigene vollständige Rehabilitation folgte im Jahr 1988. Angesichts des wachsenden Interesses an der Geschichte der Linken Opposition in diesen Jahren gab sie zahllose Interviews in Zeitungen und im Fernsehen und schrieb mehrere Essays über ihre Kindheitserinnerungen an die Linke Opposition und den Terror.

Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus und der Auflösung der Sowjetunion 1991 begannen bürgerliche Historiker eine Kampagne von Geschichtsfälschungen, die sich auf die Lügen des Stalinismus stützten. Es ist Tatjana Smilga hoch anzurechnen, dass sie sich nicht an das Klima der Demoralisierung und des Zynismus nach 1991 anpasste, in dem so viele jedes ernsthafte Studium der Oktoberrevolution und der trotzkistischen Bewegung aufgaben. Obwohl sie zweifellos wie viele in ihrer Generation von pessimistischen Stimmungen beeinflusst war, bestand sie darauf, die historische Wahrheit über die Opfer des Stalinismus zu verteidigen. Dies allein spricht für ihre außergewöhnliche Prinzipientreue, ihren Mut und ihre Ehrlichkeit.

Selbst als sie im hohen Alter von schwerer Krankheit gezeichnet war, hörte sie nicht auf, jedem ernsthaft Interessierten diese Geschichte nahe zu bringen. In den letzten zwei Jahren ihres Lebens gab sie der World SocialistWeb Site ausführliche Interviews; darüber hinaus sprach mit dem Gulag Museum in Moskau sowie mit einem russischen Filmemacher. Im Jahr 2013 veröffentlichte sie mit Hilfe ihrer Tochter Oxana und der Enkeltochter von Alexander Woronskij, Tatjana Isajewa, ein Buch mit ihren Erinnerungen.

Man kann das Leben einer Person nur auf der Grundlage des historischen Verständnisses der Epoche, in der sie lebte, politisch bewerten. Im Fall von Tatjana Smilga erfordert dies in erster Linie ein Verständnis der weitreichenden Folgen des stalinistischen Terrors und der Bedeutung von Geschichtsfälschungen bei den reaktionären Angriffen auf die Oktoberrevolution.

Die Lügen über die Kämpfe innerhalb der bolschewistischen Partei vor, während und nach der Revolution, sowie die Verfälschung der Rolle und des Programms von Leo Trotzki waren ein wesentliches Element der stalinistischen Revision des internationalistischen Programms, auf dem die Oktoberrevolution basiert hatte. Im Jahr 1937 erklärte Leo Trotzki die Bedeutung der Verteidigung der historischen Wahrheit vor dem Hintergrund des Terrors in der Sowjetunion mit den Worten:

„…[E]s ist historisch unbestreitbar, dass die Vorbereitung der blutigen Schauprozesse mit ‘kleinen’ Verdrehungen der Geschichte und ‘unschuldigen’ Fälschungen von Zitaten begann. Die Bürokratie kam nicht umhin, den Bolschewismus an ihre Bedürfnisse anzupassen. Dabei musste sie ihn unweigerlich im Innersten zersetzen. Den revolutionären Wesenskern des Bolschewismus nannte sie fortan ‘Trotzkismus’. So schuf sie die Spindel, auf die sie künftig ihre Fälschungen in allen Bereichen der Theorie und Praxis wickeln konnte … Die größte Bedeutung im Kampf gegen den ‚Trotzkismus’ wurde historischen Fragen beigemessen. Dabei ging es sowohl um die Geschichte der Entwicklung Russlands als Ganzes, als auch um die Geschichte der Bolschewistischen Partei und der Oktoberrevolution im Besonderen.“ (Leon Trotsky: The Stalin School of Falsification, London: New Park Publications, 1974, pp. ix-x, Hervorhebung im Original)

Der Terror der 1930er Jahre war der schärfste Ausdruck der konterrevolutionären Rolle des Stalinismus. Er vernichtete ganze Generationen von Revolutionären, marxistischen Arbeitern und Intellektuellen. Die Säuberungen selbst wurden mit den monströsesten Lügen und Fälschungen gerechtfertigt. Leo Trotzki und seine Unterstützer wurden beschuldigt, „faschistische Agenten“ Nazi-Deutschlands zu sein – eine boshafte Lüge, die bis heute in Russland propagiert wird. Dem Prestige und der Sache des Sozialismus versetzte der Terror in der Sowjetunion und international einen verheerenden Schlag.

Als Tatjana Smilga 1953 aus der Verbannung entlassen wurde, war bis auf wenige Personen die gesamte trotzkistische Bewegung der Sowjetunion – etwa 30,000 Frauen und Männer – ausgelöscht worden. Der Faschismus in Europa hatte vielen weiteren das Leben gekostet. Aufgrund des Verrats der revolutionären Arbeiterbewegungen in Europa und Asien durch den Stalinismus konnte der Weltkapitalismus in der Nachkriegsperiode wieder ein relatives Gleichgewicht herstellen. In der Vierten Internationale entstand in dieser Zeit die revisionistische Tendenz des Pablismus, die der konterrevolutionären stalinistischen Bürokratie eine progressive Rolle zuschrieb. Sie hinderte die weltweite trotzkistische Bewegung daran, größeren Einfluss zu gewinnen.

Unter diesen Bedingungen war es entscheidend, die historische Wahrheit über die Führer der Revolution und die Verbrechen des Stalinismus herauszufinden und zu verteidigen, um einer neuen Generation eine Brücke zum politischen Erbe der Revolution zu ermöglichen.

Tatjana Smilgas politisches Verständnis der sozialen und politischen Ursachen des Terrors war zwar aus historischen Gründen begrenzt. Aber wie viele Überlebende, die noch vom Geist des revolutionären Marxismus der frühen Sowjetunion inspiriert waren, verstand sie eines sehr genau: dass die stalinistische Bürokratie mit ihrem Terror die Erinnerungen der sowjetischen Bevölkerung an ihre eigene revolutionäre Geschichte auslöschen wollte.

Dagegen kämpfte sie mit eindrucksvoller Entschlossenheit und Energie. Die Hindernisse und Schwierigkeiten, die sie dabei überwinden musste, waren gigantisch: der Widerstand des massiven bürokratischen Apparats, an dessen Händen das Blut von Revolutionären klebte und der ununterbrochen Fälschungen verbreitete; ihre eigenen traumatischen Erfahrungen in Gefängnis, Lager und Verbannung; die soziale und wirtschaftliche Katastrophe der kapitalistischen Restauration; die permanente Angst vor dem KGB und dann FSB, die Tatjana Smilga wie alle Überlebenden des Terrors nie verließ; und nicht zuletzt der Schmerz, den die Erinnerungen an das schreckliche Schicksal ihrer Familie, Freunde und Klassenkameraden hervorriefen.

Tatjana Smilga war nicht die Einzige, die dem Druck widerstand, zu vergessen oder über die Geschichte der Linken Opposition zu schweigen. Aber außerhalb der trotzkistischen Bewegung waren Menschen wie sie in der Minderheit und hatten es isoliert von der Vierten Internationale zweifellos schwerer, gegen diesen Druck anzukämpfen.

Für ihre Motivation gab es tiefe historische und kulturelle Wurzeln, die die Generation der Oktoberrevolution auszeichneten. In ihren Erinnerungen beschreibt Tatjana Smilga die sozialistische Kultur, die der Stalinismus aus dem Gedächtnis der sowjetischen und internationalen Arbeiterklasse auslöschen wollte.

Als Kind und junge Frau hatte Tatjana Smilga einige der talentiertesten und bedeutendsten Figuren der Geschichte kennengelernt: Leo Trotzki, den größten Revolutionär des 20. Jahrhunderts; ihre eigenen Eltern; dann Nikolaj Muralow, ein wirklicher Held der Arbeiterklasse und eine lebende Legende in den 1920er Jahren; den marxistischen Ökonomisten Ewgenij Preobraschenskij; den Literaturkritiker und Revolutionär Alexander Woronskij und viele mehr. In all ihren Interviews und Aufsätzen betonte sie die Bildung und die menschliche Wärme dieser Menschen und die Hochachtung, die sie in ihrer Zeit genossen.

Ihre Liebe zum Leben, ihre Energie und ihre Würde rührten aus jener Zeit. Sie wusste und weigerte sich zu vergessen, dass der Stalinismus nicht die einzige politische Tendenz in der frühen Sowjetpolitik war und dass seine Dominanz nur durch die physische Vernichtung der Revolutionsführer, der trotzkistischen Bewegung und vieler Hunderttausender unschuldiger Menschen möglich wurde.

Tatjana Smilga war sehr stolz auf die revolutionären Traditionen ihrer Familie, in der so viele ihr Leben dem Kampf für eine bessere, sozialistische Zukunft für die Menschheit gewidmet hatten. Der Kampf für historische Wahrheit war ihr Weg, diese Traditionen fortzusetzen. Unter den Bedingungen, in denen sie lebte, war dies in der Tat der einzig mögliche Weg.

In einer Passage, die sich als prophetische Warnung und gute Zusammenfassung der verheerenden Auswirkungen des Stalinismus im 20. Jahrhundert erweisen sollte, schrieb Trotzki im Jahr 1928:

„Weitere fünf Jahre solcher Fehler wird die Kommunistische Internationale nicht überleben.Wenn aber die Kommunistische Internationale zusammenbricht, dann wird sich auch die UdSSR nicht mehr lange halten. (…) Sicherlich würde sich die proletarische Revolution auch in diesem Fall neue Wege zum Sieg bahnen. Aber wann? Und um den Preis welcher Verluste und wie vieler Opfer? Die neue Generation internationaler Revolutionäre müsste die zerrissenen Fäden der Tradition neu knüpfen und das Vertrauen der Massen in das großartigste Banner der Geschichte zurückerobern, das durch eine ununterbrochene Folge von Fehlern, von jähen Wendungen und ideologischen Fälschungen kompromittiert werden kann.“ (Leo Trotzki: Die Dritte Internationale nach Lenin, Mehring Verlag: Essen 1994, S. 249-250, Hervorhebung im Original)

Indem Tatjana Smilga dazu beigetragen hat, die zerrissenen Fäden der Tradition in der ehemaligen Sowjetunion wieder zusammenzufügen, hat sie kommenden Generationen einen großen Dienst erwiesen. Sie hat unter den schwierigen Bedingungen einer reaktionären Periode von Fälschungen und Angriffen auf die Oktoberrevolution die historische Wahrheit über die Linke Opposition verteidigt und damit ein Beispiel gesetzt. Für die heutige revolutionäre Bewegung ist ihr Leben eine Inspiration.

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