Am 8. Oktober gingen zehntausende Menschen auf die Straßen von Mexiko-Stadt und anderer mexikanischer Städte, um gegen das Verschwinden und die Ermordung von Studenten einer ländlichen Lehrerschule in Ayotzinapa (im südmexikanischen Bundesstaat Guerreo) zu protestieren.
Am 26. September verschwanden 75 angehende Lehrer (normalistas), die sich in Ausbildung an dieser Einrichtung befinden, nachdem sie eine Auseinandersetzung mit der Polizei der Stadt Iguala gehabt hatten, sechs weitere wurden getötet und 25 wurden verletzt. Von den Entführten werden 43 noch vermisst. Vergangene Woche wurden Dutzende verscharrte Leichen in der Nähe der Stadt entdeckt.
Die normalistas gehörten zu einer Gruppe von einhundert Personen, die zur Stadt Iguala fuhren, um gegen Haushaltskürzungen zu protestieren, die ihre Schule betrafen.
Das Massaker und die Entführung enthüllten nicht nur die Verstrickung der Guerrero-Regierung (PRD – Partei der Demokratischen Revolution) mit den Drogenbanden, die im Staat schalten und walten, sondern ebenso ähnliche Verhältnisse, die auf Korruption und Repression zurückgehen, welche ganz Mexiko durchziehen. Sie provozierten außerdem eine landesweite Welle der Empörung, die die Stabilität der Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto (PRI, Institutionelle Revolutionspartei) gefährdet.
Mittwochnachmittag marschierten die Demonstranten in Mexiko-Stadt von der Säule des Engels der Unabhängigkeit zum Zócalo, dem historischen Platz im Stadtzentrum. Der große Protestmarsch behinderte den Verkehr in der Innenstadt und endete in einer Versammlung auf dem zentralen Platz. Viele gesellten sich auf dem Demonstrationsmarsch hinzu, andere bekunden ihre Unterstützung.
Die Protestierenden schritten unter Transparenten mit der Aufschrift „wir alle sind Ayotzinapa.” Familienangehörige der verschwundenen Studenten führten den Protestzug an. Auch eine große Anzahl von Ayotzinapa-Studenten war zugegen. Auf vielen Plakaten waren Bilder der vermissten Jugendlichen zu sehen; andere verurteilten die Drogenregierungen von Guerrero und Mexiko-Stadt.
Die düstere Atmosphäre des Marsches wurde durchbrochen von dem Gesang „Warum töten sie uns, wenn wir die Hoffnung Lateinamerikas sind?“ Ein anderer Gesang verurteilte Aguirre Hernández, den Gouverneur von Guerrero und rief ihn zum Rückzug auf. Viele skandierten: „Weder PRI, noch PAN, noch PRD”.
Die Ablehnung aller politischen Parteien, die jetzt die Bundesregierung und die -Regierung von Guerrero stellen, wurde evident, als PRD-Patriarch Cuauhtemoc Cárdenas sich anschickte, die Rednertribüne auf der Zócalo-Versammlung zu erreichen, auf welcher die Familien der Opfer versammelt waren. Er wurde von der versammelten Menge ausgebuht und beworfen. Cárdenas floh eiligst davon, als in der Menge „Mörderregierung“ und „Verräter“ skandiert wurde.
Sowohl der Bürgermeister von Iguala als auch der Gouverneur von Guerrero sind Mitglieder der PRD, einer Partei, die von großen Teilen der mexikanischen Pseudo-Linken unterstützt wird. Diese integrieren sich selbst auf jeder Ebene in den Staatsapparat und leisten Zusammenarbeit bei der Umsetzung neoliberaler Politik, die als „Pakt für Mexiko“ verpackt wird. In Guerrero ist die PRD, wie auch überall sonst, aufs Engste mit den Drogenkartellen verflochten.
Auch in ganz Südmexiko fanden Massenproteste statt:
· In Chilpancingo im Bundesstaat Guerrero, protestierten über 50.000 Lehrer gemeinsam mit Schülern und Arbeitern, um ihre Ablehnung der Landesregierung, ihrer Komplizenschaft mit dem Verbrechen und ihrer darauffolgende Verschleierung zu bekunden. Märsche fanden auch in Acapulco und weiteren Städten in Guerrero statt.
· In Oaxaca trafen sich vier Demonstrationszüge auf dem zentralen Platz. Die Lehrer von Oaxaca kündigten an, am 15. Oktober eine Autokarawane nach Ayotzinapa, Guerrero, zu veranstalten, wo sich die Lehrerschule befindet. Zwei der verletzten normalistas und einer der Entführten waren aus Oaxaca. Zusätzlich zum Protestmarsch sperrten die Demonstranten auch Autobahnen und Straßen. In Santa María El Tule zwangen protestierende Lehrer eine Raffinerie der staatlichen Ölkompanie Pemex zur Einstellung ihres Betriebs. In Salina Cruz (Oaxaca) gingen 5.000 Lehrer auf die Straße und blockierten die Zugänge zu einer Ölraffinerie sowie zum Hafen von Salina Cruz.
· In San Cristobal, Chiapas, nahmen 20,000 Anhänger der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee an einem Schweigemarsch teil.
· In Morelia, Michoacan, marschierten über 1.000 demonstrierende Lehrer und normalistas und blockierten die Straßen, die zum Hafen führen.
Auch in nördlicheren Gebieten fanden Proteste statt: in Zacatecas (an der ältesten normalen Schule des Landes) und in Guanajuato machten über 2.000 Studenten und ihre Unterstützer einen Protestmarsch zum Internationalen Cervantes-Festival und forderten dort Gerechtigkeit für die Morde und für die Entführung der normalistas.
Auch in Argentinien, England, Deutschland, Spanien und den Vereinigten Staaten fanden Proteste statt.
Die Entführung und das Massaker an den normalistas war lediglich der jüngste Zwischenfall in einer langen Reihe von Vorkommnissen, die gegen Schüler und Lehrer in Guerrero, Oaxaca und andernorts gerichtet waren. Die aus bäuerlichen und häufig armen Familien stammenden Studenten wurden als Guerillamitglieder und Terroristen betrachtet. Nur wenige Tage vor dem Zwischenfall griff die Bundespolizei in demselben Gebiet studentische Demonstranten an und zwang die Studenten zum Rückzug. Im Januar wurden zwei Jugendliche von der Polizei überfahren. Im Mai 2013 griff die Polizei von Guerrero Ayotzinapa-Schüler an, als diese Geld für ein Festival sammelten. 26 von ihnen wurden verhaftet und schwer misshandelt, bevor sie wieder freikamen.
Im Dezember 2011 wurden bei einer Demonstration von 150 Studenten, die ein Treffen mit dem PRD-Gouverneur Ángel Aguirre Rivero forderten, drei Ayotzinapa-Schüler tödlich niedergeschossen. Zweien der Schüler wurde direkt in den Kopf geschossen.
Im Dezember 2007 griff die Bundespolizei Ayotzinapa-Studenten an, die eine Autobahn-Mautstelle besetzten und eine Erhöhung des Schul-Haushalts forderten.
Die Bundes- und die Staatspolizei, die für diese und weitere Bestialitäten gegenüber den normalistas aus Guerrero verantwortlich ist, wurde niemals in irgendeiner Weise dafür zur Verantwortung gezogen. Im Jahr 2011, als die Morde stattgefunden hatten, verteidigte Gouverneur Aguirre die Repression und die Tötungen als ein Mittel zur Sicherstellung der individuellen Rechte.
Sowohl Aguirre als auch der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto üben sich verzweifelt in Schadensbegrenzung. Am Donnerstag vergangener Woche entwickelte der Gouverneur plötzlich eine hektische Betriebsamkeit, nachdem er sechs Wochen nichts getan hatte. Er ordnete eine Haus-für-Haus-Durchsuchung an, um nach den vermissten Studenten zu suchen und setzte eine Belohnung für Informationen zu ihrem Verbleib aus.
Am Montag beauftragte Aguirre, der Forderungen nach seinem Rücktritt zurückgewiesen hatte, die Bundespolizei, die Lokalpolizei von Iguala zu entwaffnen und ihre Stelle einzunehmen, solange die Angelegenheit erledigt wird. Am Donnerstag versprach der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto, der den Schaden in Grenzen zu halten versucht, das Verschwinden und das Massaker zu untersuchen, unabhängig davon, wohin diese Untersuchung führen werde.
Peña Nieto bezeichnete die Unterdrückung als „unmenschlich“, doch kam ans Tageslicht, dass er selbst in Beziehung zu den Leuten steht, die dieses Verbrechen befahlen und ausführten.
Außerdem sind die Sicherheitskräfte der Bundesregierung selbst in Massentötungen und andere Gräueltaten gegen die Bevölkerung verwickelt. Jüngst wurden acht Soldaten der Bundesarmee im Zusammenhang mit dem Massaker von Tlutlaya (im Bundesstaat Mexiko) an 22 Jugendlichen vom vergangenen Juni verhaftet. Obwohl die Armee zunächst behauptet hatte, dass die Jugendlichen während eines Kleinkriegs mit einer Drogenbande getötet wurden, sind seitdem Augenzeugen aufgetreten, die sahen, dass sie nach ihrer Verhaftung kaltblütig erschossen wurden.
Bislang wurde keiner der beiden Offiziellen, die am direktesten in das Massaker von Guerrero involviert sind, verhaftet. José Luis Abarca, der Bürgermeister von Iguala, behauptet, auf einer Feier gewesen zu sein, als der Polizeiangriff stattfand. Abarca genießt trotz seiner bestens dokumentierten Verbindungen zum organisierten Verbrechen Immunität, die ihn vor Strafverfolgung schützt. Gouverneur Aguirre deutete an, dass er beabsichtige, den Kongress um die Absetzung des Bürgermeisters zu bitten. Jener ist inzwischen untergetaucht, ebenso wie Felipe Flores, der Verantwortliche für Polizeieinsätze während des Massakers.
Die Behörden von Guerrero nahmen 26 Polizeibeamte in Untersuchungshaft, außerdem vier Mitglieder der Verbrecherbande Guerreros Unidos (Vereinigte Kämpfer), die angeblich ihre Komplizenschaft bei den Mordtaten der Lokalpolizei zugegeben hätten.