Geht man nach der Rede von Präsident Recep Tayyip Erdogan am Freitag vor den Vereinten Nationen, könnte die Türkei unter Umständen bereit sein, eine militärische Rolle im US-Krieg im Irak und in Syrien zu spielen. Das Land hat lange gemeinsame Grenzen mit Syrien, Irak und Iran und ist das einzige NATO-Mitglied im Nahen Osten.
Erdogan forderte “Flugverbots-” und “Pufferzonen” in Nordsyrien. Laut der Tageszeitung Hürriyet, sagte er Journalisten auf seinem Flug nach Hause: “Es ist falsch zu sagen, dass die Türkei keine militärische Rolle übernehmen will. Die Türkei wird alles tun, um ihre Pflicht zu erfüllen.”
“Man kann eine terroristische Gruppe nicht nur durch Luftangriffen besiegen”, fügte er hinzu. “An einem gewissen Punkt wird der Einsatz von Bodentruppen unerlässlich.”
Er sagte, nach der Zustimmung des Parlaments zu einer Regierungsresolution am Donnerstag würden “alle notwendigen Schritte” unternommen, um die Türkei in die Koalition einzubinden. Dabei war eine Zustimmung des Parlaments keineswegs gesichert, wie seine Weigerung 2003 gezeigt hatte, den Krieg gegen den Irak zu unterstützen.
Erdogan wird von Washington enorm unter Druck gesetzt. Er soll sich vorbehaltlos hinter Präsident Barack Obamas Koalition für einen neuen Angriffskrieg im Nahen Osten stellen und damit hinter einen Krieg, in dem der türkische Staatschef bisher keine führende Rolle spielen wollte. Das ist eine Wende, die einen hohen politischen Preis kosten könnte.
Washington benutzt die Enthauptung westlicher Geiseln und die barbarische Behandlung ihrer Gegner durch den Islamischen Staat im Irak und in Syrien (Isis) als Deckmantel für seine militärischen Pläne, das syrische Regime von Präsident Baschar al-Assad zu stürzen. Während der im vergangenen Jahr geplante US-Angriff auf Assad Isis und ähnliche Dschihad-Gruppen unterstützt hätte, wird der Krieg in diesem Jahr angeblich gegen sie geführt. Die USA geben für Waffen und Ausrüstung fünfhundert Millionen Dollar aus, um - in Wirklichkeit nicht existierende - “gemäßigte” Kräfte als Gegengewicht zu Isis in Syrien zu stärken.
Am Mittwoch hatte Erdogan gesagt, die Unterstützung der Türkei für die Koalition würde eine humanitäre und logistische Form annehmen. Ankara würde aber keine Truppen entsenden, um gegen Isis zu kämpfen oder ihre Ziele zu treffen. Wie im US-geführten Krieg gegen den Irak im Jahr 2003 würde es weder erlauben, seinen Luftraum noch die US-Luftwaffenbasis Incirlik im Südosten der Türkei für amerikanische Luftangriffe gegen Isis-Aufständische in Syrien zu verwenden. Zuvor hatte es sich geweigert, das in im saudiarabischen Dschidda erstellte gemeinsame Kommuniqué von zehn arabischen Staaten zu unterzeichnen, in dem diese ihre “gemeinsame Verpflichtung” erklärten, “sich vereint der Bedrohung entgegenzustellen, die von allen Formen des Terrorismus ausgeht”.
In gewisser Hinsicht hätte erwartet werden können, dass Erdogan sich einer solchen Koalition bereitwilliger angeschlossen hätte. Immerhin war die Türkei, zusammen mit Saudi-Arabien und den Ölstaaten am Golf, ein glühender Anhänger von Washingtons Versuch, Assad zu stürzen und dadurch den Iran, Russland und China zu schwächen. Erdogan hatte zur Unterstützung der "Rebellen"-Gruppen in Syrien von Washington lange Luftangriffe auf Syrien gefordert und war erbost, als die Obama-Regierung im September letzten Jahres von ihrem geplanten Angriff abrückte.
Aber jetzt hat Isis einen großen Teil des östlichen Syriens besetzt und gefährdet mit seiner Ausrichtung auf die riesigen Energievorräte des Irak Washingtons wirtschaftliche und strategische Interessen im Irak, in der autonomen kurdischen Region (KRG) und der ganzen Region. Die Isis-Offensive fiel mit dem Aufstand der irakischen sunnitischen Bevölkerung zusammen, was zum Zerfall der von den USA ausgebildeten irakischen Sicherheitskräfte und dem Kontrollverlust über große Teile des Landes führte.
Die Obama-Regierung war daher gezwungen, sich gegen ihre ehemaligen Schützlinge zu wenden, während sie diese Wende gleichzeitig benutzte, um ihre Pläne für einen Sturz des Assad Regimes zu reaktivieren. Neben der Entsendung von bewaffneten Einheiten haben die USA, zusammen mit Frankreich, Deutschland und Italien Militär-“Berater” geschickt, um die irakische Armee und einige Peschmerga-Kämpfer der KRG auszubilden, von denen sie hofft, sie im Irak am Boden als ihre Stellvertreter-Kräfte benutzen zu können.
Bei ihrem Umgang mit Bagdad benutzt sie auch die KRG als Schachfigur. Den Peshmerga Kämpfern haben sich sowohl Kurden aus Syrien als auch aus der Türkei angeschlossen, einschließlich Mitgliedern der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die von den USA und der Türkei als Terrorgruppe geführt wird. Von 1984 bis 2008 hat die Türkei einen erbitterten Bürgerkrieg gegen sie geführt.
Die PKK-Einheiten im irakischen Kandil-Gebirge haben gegen Isis und anderen islamistische “Rebellen” in Syrien gekämpft und ihr Einsatz war ausschlaggebend bei der Unterstützung der Peshmerga und der Zurückschlagung von Isis im Nordirak.
Durch den Beitritt zur Kriegskoalition für einen Regimewechsel in Syrien bringt Erdogan die Türkei gegen ihren ehemaligen Schützling und Verbündeten, Isis, und auf der Seite der verbotenen PKK in Stellung. Aber jede noch so kleine Unterstützung, geschweige denn Bewaffnung der PKK, die das Militär und die Nationalisten als ihren Hauptfeind betrachten, ist ein heftig umstrittenes Thema. Laut der Tageszeitung Cumhuriyet wurde wegen des Dilemmas, in dem Ankara sich befindet, zunächst vereinbart, dass seine Unterstützung für die Koalition gegen Isis im Irak und in Syrien “hinter den Kulissen stattfinden sollte”.
Für Obama und Washington ist es viel einfacher, sich gegen Isis zu stellen, als es für die islamistische AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung)-Regierung von Erdogan und seinen Premier- und ehemaligen Außenminister Ahmet Davutoglu ist. Die Entscheidung zieht die Türkei in den Krieg im Irak und in Syrien hinein und kann die politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Lage in der Türkei destabilisieren.
Vor drei Jahren gab die Türkei ihre langjährige Politik “Null Probleme mit den Nachbarn” im Nahen Osten auf und verfolgt seitdem eine aggressive, zweigleisige und in sich widersprüchliche Außenpolitik. Zunächst unterstützte Ankara die “Rebellen” in Syrien, einschließlich der Muslimbruderschaft und Dschihad-Gruppen wie dem Al-Qaida-Ableger al-Nusra Front und Isis, gegen Assad, zu dem es vorher enge politische und wirtschaftliche Beziehungen aufgebaut hatte. Als zweites etablierte es engere Beziehungen zu der semi-autonomen KRG im Irak, womit es Bagdad verärgerte, sich aber lebenswichtige Energieressourcen sicherte und den Bau von Pipelines ermöglichte, die die Türkei zu einer Energiedrehscheibe für Europa werden ließ.
Die AKP-Regierung bot der Freien Syrischen Armee (FSA) Unterschlupf und sponserte den Syrischen Nationalrat (SNC), später die Syrische Ntionale Koalition, die sich aus Regime-Dissidenten aus dem Exil, Mitgliedern der Muslimbruderschaft und verschiedenen Aktivposten der CIA zusammensetzte. Aber der SNC ist jetzt in Auflösung begriffen und gab bekannt, er habe die militärische Führung der FSA aufgelöst, nachdem entscheidende Koalitionsmitglieder zurückgetreten waren.
Die FSA weigert sich, der US-geführten Koalition gegen Isis beizutreten, solange die USA nicht garantieren, dass Assads Sturz das Hauptziel ist. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass sie sich seit Jahren in einer de facto, wenngleich wackligen Allianz mit Isis und anderen Islamisten befindet. Die effektivsten Kampftruppen in der syrischen Opposition sind die sunnitischen Dschihad Gruppen.
Die Türkei versorgte die islamistischen Gruppen mit Waffen, stellte Ausbildungslager zur Verfügung, lieferte Geheimdiensterkenntnisse, bot kostenlose medizinische Versorgung und garantierte ungehinderten Grenzübertritt. Gleichzeitig hielt sie die Fiktion aufrecht, dass die FSA verantwortlich war. Ein Großteil der Grenze zu Syrien befindet sich mittlerweile unter Kontrolle des Isis, was zu einer beträchtlichen islamistischen Präsenz in Grenzstädten und Dörfern führt. Die AKP-Regierung gibt auch Artillerie- und Luftunterstützung für die Aufständischen.
Diese Unterstützung veranlasste türkische Staatsbürger, sich Isis und anderen dschihadistischen Gruppen anzuschließen und in Syrien zu kämpfen. Es wird angenommen, dass bis zu zehn Prozent der Kräfte Türken sind. AKP Anhänger wurden “angeregt”, der Türkei-Stiftung für Menschenrechte und Freiheiten und Humanitäre Hilfe (IHH) zu spenden. Das ist eine islamische Wohltätigkeitsorganisation, die Isis und anderen Mittel zur Verfügung stellte.
Der türkische Geheimdienst MIT spielte bei der Unterstützung der bewaffneten sunnitischen Bewegung und IHH-Operationen eine Schlüsselrolle. Die Regierung diskutierte sogar die Einleitung einer Provokation unter falscher Flagge in Syrien, um einen Vorwand für eine groß angelegte Invasion zur Unterstützung der Aufständischen zu schaffen.
Genau wie Ankara die Islamisten benutzte, um Assads Sturz zu betreiben, versucht es, die Islamisten einzusetzen, um die militanten kurdischen, Gruppen im Nordosten von Syrien zu bekämpfen, die Partei der Demokratischen Union (PYD), und ihre Miliz, die Volksschutzeinheiten (YPG). Diese haben mit der stillschweigenden Unterstützung des syrischen Regimes eine semi-autonome Enklave geschaffen. Das syrische Regime wollte sich auf diese Weise die Unterstützung der Kurden gegen die Aufständischen sichern. Dies war der AKP-Regierung ein Dorn im Auge, die befürchtet, dass dadurch eine ähnliche Autonomiebewegung unter türkischen Kurden entfacht werden könne.
Es gab zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen den von der Türkei unterstützten Dschihadisten und den Kurden im Nordosten Syriens, zuletzt rund um die Stadt Kobani, die in der vergangenen Woche zur Flucht von 140.000 Zivilisten in die Türkei führten. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR erwartet, dass bis zu 400.000 syrische Kurden, von denen viele der Türkei gegenüber feindlich gesinnt sind, über die Grenze kommen. Es befinden sich ca. 1,5 Millionen Syrer in der Türkei, die vor dem grausamen, sektiererischen Bürgerkrieg geflohen sind. Dies hat die Mieten in die Höhe getrieben und die Löhne sinken lassen, was letzten Monat in der südöstlichen Provinz Gaziantep zu Unruhen und Angriffen auf Flüchtlinge geführt hat.
Die gegenwärtige Offensive ist der zweite Versuch von Isis, Kobani und die umliegenden Dörfer einzunehmen. Der letzte Angriff im Juli wurde mit der Hilfe von Kurden, die von der Türkei her die Grenze überquerten, zurückgeschlagen. Jetzt sind wütende Demonstrationen zur Unterstützung der syrischen Kurden ausgebrochen, auf denen Demonstranten die AKP-Regierung der Unterstützung von Isis beschuldigen.
Die PKK hat ihre Anhänger aufgerufen, Isis zu bekämpfen. Hunderte sind aus der Türkei über die Grenze gezogen.Die Sicherheitskräfte reagierten darauf mit Tränengas und Wasserwerfern und dem Schließen einiger der Grenzübergänge. Diese Entwicklungen können wiederum Erdogans Schritte gefährden, die er seit 2008 gemacht hat, um den langjährigen Konflikt mit den Kurden zu lösen und die PKK zu isolieren.