Die jüngsten Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat bestätigen, dass Europa sich weiter auf eine offene Rezession zubewegt. Dem Bericht von Eurostat vom Donnerstag zufolge ging die Industrieproduktion im Mai und Juni in der Eurozone um 0,3 Prozent zurück und in der Gesamt-EU um 0,1 Prozent.
Der Hauptfaktor für den Rückgang war das Schrumpfen der Industrieproduktion in Deutschland. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas und trägt mehr als ein Viertel zum Gesamtausstoß der Eurozone bei. Seine Wirtschaft schrumpfte im zweiten Quartal von April bis Juni um 0,2 Prozent, weil die Nachfrage nach deutschen Exportgütern zurückging und weil die Investitionen der Wirtschaft nachließen. Der Rückgang der deutschen Exporte ist Folge geringerer Nachfrage auf seinen wichtigsten Märkten Europa und Asien.
Es ist das erste Mal seit Ende 2012, dass die deutsche Wirtschaft wieder schrumpft. In den letzten Jahren wurde Deutschland immer wieder als Konjunkturlokomotive bezeichnet, die für die Erholung Europas entscheidend sei. Jetzt geht der Lokomotive die Luft aus.
Die Schwäche der deutschen Wirtschaft drückt sich unmittelbar im Absturz des Dax aus, des zentralen deutschen Aktienindex’. Er hat im vergangenen Monat fast 1.000 Punkte (neun Prozent) eingebüßt.
Die Lage in anderen führenden europäischen Ländern ist nicht besser. Frankreich, die zweitgrößte Wirtschaft der Eurozone und wichtigster Exportmarkt Deutschlands, stagnierte von April bis Juni und wies ein Nullwachstum auf. Als Reaktion auf die jüngsten Zahlen halbierte die französische Regierung ihre Wachstumsvorhersage für das diesjährige Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf 0,5 Prozent. Die Pariser Regierung erklärte weiter, sie werde auch ihre Defizitziele für den Haushalt von 3,8 Prozent des BIP nicht einhalten können, die sie wegen ihrer schwachen Wirtschaft schon einmal mit der EU neu verhandelt hatte.
Auch die drittgrößte Wirtschaft der Eurozone, Italien ist wieder in die Rezession zurückgefallen. Der italienischen Statistikbehörde Istat zufolge ging die Wirtschaft im zweiten Quartal um 0,2 Prozent zurück. Schon im ersten Quartal hatte sie einen Rückgang von 0,1 Prozent verzeichnet, und damit befindet sich Italien offiziell wieder in der Rezession.
Die viertgrößte Wirtschaft der Eurozone, Spanien, bot mit einem Rückgang von 0,8 Prozent bei der Industrieproduktion die schwächste Performance des Wahrungsblocks.
Wirtschaftliche Frühindikatoren weisen auf einen weiteren Rückgang hin. Auf dem ganzen Kontinent geht das Vertrauen in den weiteren Geschäftsverlauf zurück, am auffälligsten in Deutschland. Sechs Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise von 2008 verzeichnen Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit in Europa immer noch Spitzenwerte, und die Inflationsrate sinkt immer weiter, weil die Preise infolge von wirtschaftlichem Pessimismus stagnieren.
In Spanien haben die Konsumenten leere Brieftaschen, denn laut offizieller Rekordrate sind etwa 25 Prozent arbeitslos. Die Folge ist eine ungewöhnliche Inflationsrate von null Prozent.
Der bedeutsamste Indikator für eine neu heraufziehende Wirtschaftskatastrophe auf dem Kontinent ist der andauernde Rückgang der Unternehmensinvestitionen, die in der Eurozone um 0,8 Prozent zurückgingen. Damit verzeichnen die Investitionen schon zehn aufeinanderfolgende Quartale ein negatives Wachstum. Privatinvestitionen sind mit 2,4 Prozent noch dramatischer gesunken.
Über die Investitionen sagte ein führender französischer Ökonom: “Vertrauen fehlt heute völlig, sowohl in der Wirtschaft, wie auch bei den Konsumenten. Ich kann nichts erkennen, was daran in naher Zukunft etwas ändern könnte.“
Das Schrumpfen der europäischen Wirtschaft und die Streichung von Millionen Arbeitsplätzen sind die direkte Folge der Austeritätspolitik, welche die Berliner Regierung, die EU-Bürokratie in Brüssel und andere Regierungen in Europa seit Ausbruch der Krise 2008 durchsetzen.
Gleichzeitig beeinflussen auch neue politische Faktoren, vor allem die Handelssanktionen der USA und Europas gegen Russland, aber auch die aktuellen Konflikte im Nahen Osten, die Krise in Europa negativ. Zwar versuchen die Finanzpresse und führende europäische Regierungen die Auswirkungen der EU-Sanktionen gegen Russland und die Vergeltungssanktionen Moskaus herunterzuspielen. Aber dennoch gibt es schon erste Anzeichen, dass sowohl die russische Wirtschaft, als auch ihre europäischen Handelspartner darunter zu leiden haben.
Vor allem werden die europäischen Agrarexporte nach Russland unter dem europäisch-amerikanischen Handelskrieg leiden. Im vergangenen Jahr 2013 betrugen sie 15,8 Milliarden Euro. Der International Business Times zufolge sind Polen, Norwegen und die Niederlande schon jetzt am härtesten von dem russischen Einfuhrverbot für Lebensmittel betroffen.
Einer Untersuchung von Bloomberg zufolge halbierte sich das polnische Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal des Jahres im Vergleich zum ersten Quartal. Der polnische Zloty hat an den Währungsmärkten nachgegeben. Die Währungen anderer osteuropäischer Länder mit starken Handelsbeziehungen mit Russland, besonders die tschechische Krone und der ungarische Forint, haben in den letzten Monaten deutlich verloren.
Am Montag verschickte Morgan Stanley einen Bericht, in dem die Bank den Schuldenausblick für Ungarn und Rumänien herabstufte und warnte: „Osteuropa wird unter einem längeren Konflikt leiden, vor allem, wenn er sich noch weiter verschärfen sollte.“ Mit Blick auf die wachsenden Spannungen zwischen der EU und Russland fuhr der Bericht fort: „Diese Entwicklung schädigt die Wachstumsaussichten.“
Osteuropa ist für viele westeuropäische Länder, besonders für Deutschland, ein wichtiger Markt. So würde eine wirtschaftliche Krise in der Region auch die Krise der Eurozone verschärfen.
Die Reaktion Russlands auf die EU-Sanktionen führt offenbar zu einer Situation, in der das bisher am härtesten betroffene Land Europas, Griechenland, seine Hoffnung auf Erholung begraben muss. Russland ist Griechenlands größter Handelspartner, hauptsächlich wegen des Öl- und Gashandels. 2013 betrug der gesamte Handel zwischen den beiden Ländern 9,3 Milliarden Euro und lag damit höher als der Griechenlands mit Deutschland.
Investoren und Unternehmen mit Handelsbeziehungen zu Russland machen sich auch Sorgen, dass der Sanktionskrieg in der nächsten Zeit noch verschärft werden könnte. EU-Führer treffen sich am Freitag in Brüssel, um über die Krisen in der Ukraine und im Irak zu beraten. Auch die Option weiterer Sanktionen gegen Russland liegt auf dem Tisch. Das Parlament in Kiew beschließt schon eigene Sanktionen gegen Russland. Sie könnten die russischen Energielieferungen nach Westeuropa betreffen, die über sein Territorium laufen. Das hätte für die westeuropäischen Wirtschaften verheerende Folgen.
Während die europäische Wirtschaft ins Straucheln gerät, reiben sich große Investoren die Hände. Vergangene Woche deutete EZB-Präsident Mario Draghi an, dass die EZB bereit sei, über ihre Nahe-Null-Zinspolitik noch hinauszugehen und zu „quantitativer Lockerung“ zu greifen, sollten sich die wirtschaftlichen Aussichten in Europa weiter verschlechtern.
Nicht anders als schon die bisherige EZB-Politik, wäre auch der Übergang zu quantitativer Lockerung, d.h. das Pumpen von Billionen Dollar in die Märkte, eine Goldgrube für Investoren und Finanzhaie. Zu einem höheren Lebensstandard der Arbeiter würde sie absolut nichts beitragen.