EU verhängt Sanktionen gegen russische Wirtschaft

Die Europäische Union hat am Dienstag erstmals Sanktionen gegen die russische Wirtschaft verhängt. Frühere Sanktionen hatten sich lediglich gegen einzelne Individuen und Organisationen gerichtet, die mit Einreiseverboten und Kontosperren belegt wurden. Nun wird russischen Banken der Zugang zum europäischen Kapitalmarkt erschwert und der Export von Rüstungs- und Dual-Use-Gütern, die sowohl militärisch als auch zivil genutzt werden können, sowie von Hochtechnologieprodukten für die Energie- und Rohstoffgewinnung eingeschränkt.

Die EU folgt damit dem Vorbild der USA, die bereits einen Tag vor dem Absturz des malaysischen Linienflugs MH17 über der Ukraine ihre Finanzmärkte für zahlreiche russische Unternehmen gesperrt hatten – darunter für die Energieriesen Rosneft, Gazprom und Novatek.

Seither hat die US-Regierung massiven Druck auf die EU ausgeübt, es ihr gleichzutun. Noch am Montag drängte Präsident Barack Obama in einer Telefonkonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem französischen Staatschef François Hollande, dem britischen Premier David Cameron und dem italienischen Regierungschef Matteo Renzi auf harte Sanktionen.

Vor allem die Maßnahmen gegen den Finanzsektor werden Russland nach Einschätzung von Fachleuten empfindlich treffen.

Die Auslandsschulden russischer Unternehmen belaufen sich auf 650 Milliarden Dollar. Davon werden laut Angaben der Zentralbank in den nächsten zwölf Monaten 161 Milliarden Dollar fällig. Die Sanktionen dürften die Refinanzierung dieser Schulden erheblich erschweren oder zumindest verteuern. Die Kreditvergabe an kleinere und mittlere russische Unternehmen, die in der ersten Hälfte dieses Jahres bereits um 20 Prozent einbrach, droht völlig auszutrocknen.

Zusätzlich verschärft wird die Lage durch die massive Kapitalflucht aus Russland, die in diesem Jahr 100 Milliarden Dollar übersteigen könnte.

Nach Berechnungen der Europäischen Kommission werden die Sanktionen Russland in eine tiefe Rezession stürzen. Die bereits angeschlagene russische Volkswirtschaft werde in diesem Jahr um 1,5 Prozent und im nächsten Jahr um 4,8 Prozent schrumpfen, wenn die geplanten Strafen voll umgesetzt werden, schätzt die Kommission.

Die Sanktionen sind allerdings auch für die EU riskant. Neben den Folgen für die europäische Exportindustrie – das Handelsvolumen der EU mit Russland ist rund zehn Mal so hoch wie das der USA –, hätte eine Pleitewelle in Russland schwerwiegende Folgen für europäische Banken. Russische Kreditnehmer schulden europäischen Banken rund 155 Milliarden Dollar, 47 Milliarden davon französischen und 17 Milliarden deutschen Instituten.

Auch die Energieversorgung zahlreicher europäischer Länder ist in hohem Grad von russischen Gas- und Öllieferungen abhängig. Fallen diese aufgrund der Auswirkungen der Sanktionen aus, würde dies eine schwerwiegende Krise auslösen.

Offiziell werden die Sanktionen mit Russlands Unterstützung für die Separatisten in der Ostukraine und dem Abschuss von Flug MH17 begründet. Für letzteren machen die Westmächte die Separatisten und indirekt Russland verantwortlich, ohne einen Beweis vorlegen zu können. Präsident Putin soll durch die Sanktionen gezwungen werden, die Separatisten zu isolieren, mit dem Regime in Kiew zu kooperieren und die westliche Vorherrschaft über die Ukraine zu akzeptieren.

Das Ausmaß und die Ausrichtung der Sanktionen zeigen aber, dass sie ein viel weiter gestecktes Ziel verfolgen. Sie sollen Russland wirtschaftlich in die Knie zwingen, politisch destabilisieren und schließlich auch in Moskau einen Regimewechsel herbeiführen.

Die europäischen Regierungen und Medien haben ihren Kurs gegen Russland seit dem Absturz von Flug MH17 deutlich verschärft. Das gilt insbesondere für Deutschland. Die Bundesregierung hatte in der Sanktionsfrage lange eine gewisse Zurückhaltung gezeigt, weil sie die Auswirkungen auf die deutsche und europäische Wirtschaft fürchtete. Nun setzt sie uneingeschränkt auf harte Maßnahmen.

Auch die führenden deutschen Medien haben in den Anti-Russland-Modus geschaltet und vollführen ein Kampfgeschrei wie in den schlimmsten Tagen des Kalten Krieges. Die Rolle des Leitwolfs hat dabei das Nachrichtenmagazin Der Spiegel übernommen. Es erschien am Montag mit der der Schlagzeile „Stoppt Putin jetzt!“ und den Bildern von mehreren Dutzend Opfern des Flugs MH17 auf der Titelseite.

Der Leitartikel ist mit „Ende der Feigheit“ überschrieben. Er begrüßt, dass sich die EU endlich „auf harte Sanktionen gegen Russland geeinigt“ habe und Putin „auf großer Bühne den Handschuh hinwerfen“ wolle. Die Absturzstelle der malaysischen Maschine wird in Anspielung auf die Terroranschläge von 9/11 als „Europas Ground Zero“ bezeichnet.

Der Spiegel bekennt sich ohne Hemmungen dazu, die Bilder der Katastrophe zur Manipulation der öffentlichen Meinung auszuschlachten: „Zum mitunter zynischen Geschäft politischer Experten gehört, eine solche Tragödie, die endlos im TV wiederholten Aufnahmen des Leides Unschuldiger, einen ‚game changer’ zu nennen. Jenen Moment, der den Lauf einer Krise in ‚vorher’ und ‚nachher’ teilt, weil Öffentlichkeit und Politik gemeinsam den Atem anhalten und sich neu besinnen.“

Der Wirtschaftsjournalist Wolfgang Münchau entwickelt in seiner regelmäßigen Kolumne für Spiegel Online einen Plan, Russland in den wirtschaftlichen Bankrott zu treiben. Unter der Überschrift „Zahlungssysteme – die Atombomben des Finanzkriegs“ fordert er: „Man sollte den Geldhahn abdrehen, nicht den Gashahn“, und plädiert für eine langfristige Sanktionspolitik.

Auf den Einwand, Russland habe den längeren Atem, weil es über Währungsreserven von fast 500 Milliarden Dollar verfüge, antwortet er, die Regierung halte diese Reserven in Wertpapieren und könne sie der russischen Wirtschaft nicht zur Verfügung stellen, „ohne dass ein Teil dieser Transaktionen durch die amerikanischen oder europäischen Zahlungssysteme läuft. Die Euros und Dollar gehören zwar den Russen. Die Zahlungsströme unterliegen aber europäischen und amerikanischem Recht.“

„Im Extremfall könnten wir das russische Zentralbankvermögen einfrieren und den Rest der russischen Wirtschaft komplett vom Kapitalmarkt abschneiden“, fährt Münchau fort. „In diesem Fall würde die russische Wirtschaft binnen weniger Wochen einbrechen. Das ist der strategische Wert von Weltwährungen wie Dollar und zum Teil Euro. Jeder kann unsere Währung benutzen. Aber uns allein gehören die Zahlungssysteme. Zahlungssysteme sind die Atombomben des Finanzkrieges.“

Ähnlich äußerte sich die republikanische Senatorin Lindsey Graham in den USA, die einem Reporter sagte: „Sanktionen gegen Russland: wir könnten es zermalmen. Seine Wirtschaft ist nicht größer als die italienische. Ich will, dass die Leute in Russland als Reaktion auf den Schmerz, den sie verursacht haben, selber Schmerz spüren.“ Man könne Putin kriege, „indem man die Leute in Russland eine Preis dafür bezahlen lässt, dass sie diesen Kerl unterstützen“.

Man fragt sich, ob Münchau, Graham und die zahlreichen anderen Journalisten und Politiker, die für harte Maßnahmen, Sanktionen und Wirtschaftskrieg gegen Russland eintreten, die Folgen ihrer Politik durchdacht haben.

Wollen sie eine Gesellschaft, die das zweitgrößte Nuklearwaffenarsenal der Welt besitzt, ebenso destabilisieren wie sie das mit dem Irak, Libyen oder Syrien getan haben? Wollen sie einen Putsch gegen Putin provozieren? Wollen sie rechte Kräfte im Sicherheitsapparat zu militärischen Reaktionen reizen, um dann einen Vorwand für einen Krieg zu haben?

Auf alle Fälle sprechen sie für eine herrschende Klasse, die unter dem Druck der globalen Krise des Kapitalismus, wachsender Gegensätze zwischen den Großmächten und scharfer sozialer Spannungen den Kopf verliert, und deren Verantwortungslosigkeit nur von ihrer Rücksichtslosigkeit übertroffen wird.

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