Nach dem Ende des zehntägigen Waffenstillstands haben ukrainische Truppen in den östlichen Regionen seit Montag eine Reihe blutiger Angriffe geführt. Der angebliche Waffenstillstand wurde die ganze Zeit über praktisch nicht wirklich eingehalten.
In der Umgebung der von Rebellen gehaltenen Städte Slowiansk und Kramatorsk kam es seit Montag 19.30 Uhr zu schweren Gefechten und Artilleriebeschuss. Raketen vom Typ Grad wurden auf Karlowka abgefeuert.
Der russische Kommandeur der Rebellen in Slowiansk, Igor Strelkow, erklärte, viele Zivilisten seien verwundet worden, als Regierungstruppen mehrere Dörfer im Umkreis der Stadt mir Granaten beschossen.
Mindestens vier Menschen wurden getötet und fünf verletzt, als am Dienstagmorgen in der Region Donetzk ein Bus unter Beschuss geriet.
Russland protestierte gegen den Tod eines russischen Journalisten am Montagabend. Anatoli Klian, ein Kameramann des staatlichen Kanal Eins, wurde von ukrainischen Kräften in den Bauch geschossen, als in einem Bus mit Journalisten und Soldatenmüttern saß.
Gestern erklärte der amtierende Parlamentssprecher der Ukraine, Alexander Turtschinow: „Die aktive Phase der Antiterror-Operation hat am Morgen wieder begonnen. (…) Unsere bewaffneten Streitkräfte schlagen wieder gegen Stützpunkte und Hochburgen der Terroristen los.“
Das Parlament sei bereit, den Antrag von Präsident Poroschenko zu beraten, den Ausnahmezustand im Osten zu verhängen. Dieser hatte in einer Fernsehansprache um Mitternacht erklärt, dass die ukrainischen Streitkräfte „angreifen und unser Land befreien werden. (…) Die Beendigung des Waffenstillstands ist unsere Antwort auf Terroristen, Aufständische, Marodeure. (…) Die Streitkräfte, die Nationalgarde, die Grenztruppen, der Sicherheitsdienst haben die entsprechenden Befehle erhalten“.
Poroschenko machte die prorussischen Rebellen in Donetzk und Lugansk für das Scheitern des Waffenstillstands verantwortlich und beschuldigte die Regierung von Wladimir Putin in Moskau, sie habe sie nicht unter Kontrolle.
Die Kämpfer hätten die “einmalige Gelegenheit” verpasst, seinen Friedensplan zu unterstützen, sagte Poroschenko. Sie hätten den Waffenstillstand mehr als einhundert Mal verletzt.
Später erklärte Poroschenko auf seiner Facebookseite in einer beängstigenden, faschistoiden Sprache: „Wir müssen zusammenstehen, denn wir kämpfen dafür, unser Land von Schmutz und Parasiten zu säubern.“
Auf Poroschenkos Behauptungen antwortete Kostiantin Knirik für die Volksrepublik Donetzk gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax, die Regierungstruppen hätten sich zu keinem Zeitpunkt an den Waffenstillstand gehalten. „Nach der Verkündung des so genannten Waffenstillstands durch Kiew hörten die Schläge gegen Slowiansk und Semeniwka nicht für einen Tag auf“, sagte er und fügte hinzu, Vertreter der selbsternannten Republik hätten zweihundert Verletzungen des Waffenstillstands dokumentiert.
“Fakt ist, es gab dort keinen Waffenstillstand”, sagte er. „Insofern macht die Entscheidung, den Waffenstillstand nicht zu verlängern, für die militärischen Operationen keinen großen Unterschied.“
Russland verlangt eine Untersuchung von Vorwürfen, die ukrainischen Truppen hätten Chemie- und Phosphorwaffen eingesetzt. Nach Angaben separatistischer Kräfte wurden Menschen mit Symptomen einer Chlorvergiftung nach mutmaßlichen Angriffen ukrainischer Sondereinheiten in der Nähe von Slowiansk in Krankenhäuser eingeliefert. Vorher schon waren Vorwürfe, gestützt durch Videoaufnahmen, laut geworden, auf Dörfer in der Südostukraine seien Phosphorbrandbomben abgeworfen worden.
Poroschenko behauptete, Putin habe nicht genug getan, um seine Unterstützung für einen Waffenstillstand zu beweisen. Dabei hatte dieser einen Beschluss des russischen Parlaments aufheben lassen, der ihm das Recht gab, Truppen in die Ukraine zu entsenden, um russische Bürger zu schützen.
Noch bedeutsamer war sein Angebot, Grenzübergänge auf der russischen Seite von Vertretern der ukrainischen Grenztruppen und von OSZE-Beobachtern überwachen zu lassen, um sicherzugehen, dass die Übergänge nicht zu illegalen Zwecken missbraucht würden. Dieser Vorschlag wurde während einer Telefonkonferenz am Montag gemacht, an der auch Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande teilnahmen.
Am gleichen Tag verkündete Hollandes Büro Übereinstimmung zwischen Putin und Poroschenko über den Vorschlag, der ein Schlüsselelement von Poroschenkos „Friedensplan“ war. Die beiden hatten sich außerdem darauf geeinigt, bei der Freilassung weiterer Geiseln und Gefangener zusammenzuarbeiten und „substantielle dreiseitige Verhandlungen“ zu organisieren, so Hollandes Büro.
Dann telefonierte Poroschenko mit US-Außenminister John Kerry, der ihm vermutlich klar machte, dass der Trick mit dem Waffenstillstand keinen Sinn mehr mache, besonders angesichts des Zögerns der europäischen Mächte, neue Sanktionen gegen Russland zu verhängen.
Putin erklärt jetzt, Russland werde “ die Rechte ethnischer Russen, unserer Landsleute im Ausland, entschlossen verteidigen“ und alle verfügbaren Mittel, bis hin zum „Recht auf Selbstverteidigung“ einsetzen.
Moskau bemüht sich, die Obama-Regierung als die treibende Kraft hinter der Verschärfung der Spannungen in der Ukraine und Osteuropa kenntlich zu machen. Damit versucht er auch, Differenzen zwischen Washington und den europäischen Mächten auszunutzen, die sich aus den wirtschaftlichen und politischen Folgen eines umfassenden Konflikts mit Russland ergäben.
Es gibt in der Tat keinen Zweifel, dass die USA bereit sind, viel weiter zu gehen als ihre europäischen Verbündeten.
Am Samstag sagte der russische Außenminister Sergei Lawrow in einem Fernsehinterview: „Unsere amerikanischen Kollegen ziehen es noch immer vor, die ukrainische Führung auf den Weg der Konfrontation zu treiben.“ Die Chancen für eine Krisenlösung wären viel größer, wenn sie nur von Russland und Europa abhingen.
Putin äußerte sich am Dienstag ähnlich. Vor russischen Diplomaten in Moskau sagte er: „Wir haben versagt – und wenn ich sage ‚wir’, dann meine ich meine europäischen Kollegen und mich –, wir haben darin versagt, [Poroschenko] zu überzeugen, dass ein sicherer, stabiler und unverletzlicher Frieden nicht durch Krieg kommen kann.“
Er fügte hinzu: “Unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ist im Moment nicht das beste. Wir haben immer versucht, ein verlässlicher Partner zu sein und Geschäfte auf Augenhöhe zu machen. Aber im Gegenzug wurden unsere berechtigten Interessen teilweise ignoriert und werden immer noch ignoriert.“
Russland habe nicht anders gekonnt, als die Krim im März zu annektieren, um die Nato daran zu hindern, dort einzudringen. Das hätte „zu einem völlig anderen Kräftegleichgewicht geführt“, sagte er. „Ich möchte betonen: Was in der Ukraine passiert ist, war der Höhepunkt der negativen Tendenzen in der internationalen Politik, die sich über Jahre angehäuft haben.“
Am Montag verurteilte der amerikanische Luftwaffengeneral Philip M. Breedlove Russland in einer weiteren, waffenklirrenden Erklärung. Breedlove ist der Oberkommandierende der Nato-Streitkräfte in Europa und Oberkommandierende des European Command der US-Streitkräfte. „Irreguläre russische Kräfte sind in der Ostukraine sehr aktiv und werden von Russland aktiv finanziert“, sagte Breedlove.
Ohne dafür irgendwelche Belege vorzulegen, fuhr er fort: “Wir sehen Ausbildung auf der [russischen] Seite der Grenze, sehen viel Ausrüstung, Panzer, Luftabwehrwaffen, und jetzt sehen wir, wie diese Waffen auf der [ukrainischen] Seite der Grenze eingesetzt werden.“
Auf die Frage, wie viele russische Truppen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen seien, antwortete Breedlove, dort stünden “mindestens sieben Task-Gruppen in Bataillonsstärke auf der östlichen Seite der Grenze”. Das entspreche etwa 50.000 Soldaten.
Breedloves antirussische Propaganda gab den Rahmen ab für seine Ankündigung, dass amerikanische Truppen ab Oktober nach Europa verlegt würden. Sie würden die Kräfte verstärken, die schon jetzt von Deutschland, Italien und anderswo in Europa herangeführt worden sind, um die zusätzlichen Boden- und Luft-Patrouillen in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen und in Polen und Rumänien zu bestücken.
Breedlove drängte den Kongress, eventuelle Truppenausdünnungen in Europa neu zu überdenken und eine Milliarde Dollar zusätzlich zu bewilligen, weil die USA “vielleicht zusätzliche Austauschtruppen brauchen, um die dauerhafte Präsenz zu gewährleisten, die wir jetzt für notwendig halten“.
Die USA drängen alle 28 Nato-Mitgliedsstaaten, die Kürzung ihrer Verteidigungshaushalte rückgängig zu machen und der Verpflichtung gegenüber der Nato nachzukommen, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung aufzuwenden. Gegenwärtig erfüllen nur die USA, Großbritannien, Griechenland und Estland die Vorgabe.