Am 5. Juni hat der Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition aus SPD, CDU und CSU ein Gesetz zur Änderung der Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen beschlossen. Es ist ein Geschenk an die Konzerne und ihre Aktionäre, die bei den Sozialabgaben weiter entlastet werden. Dagegen werden die rund 70 Millionen Arbeiter und Angestellten künftig für Erhöhungen der Gesundheitskosten allein zur Kasse gebeten.
Noch vor der Sommerpause im Juli soll das Gesetz im Bundesrat beraten werden; allerdings ist es nicht zustimmungspflichtig und wird in den wesentlichen Teilen am 1. Januar 2015 in Kraft treten.
Das „Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz“ (FQWG) senkt den einheitlichen Krankenversicherungsbeitragssatz zunächst von derzeit 15,5 auf 14,6 Prozent. Während der aktuelle Beitrag zu ungleichen Teilen von Unternehmen (7,3 Prozent) und Versicherten (8,2 Prozent) erhoben wird, tragen ab 2015 beide Seiten zunächst jeweils 7,3 Prozent bei.
Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, behauptete scheinheilig, das neue Gesetz sei ein Schritt „zu mehr Solidarität“. Er verschweigt dabei wohlweislich, dass die Ungleichheit von 0,9 Prozent erst durch die rot-grüne Schröder-Regierung im Jahr 2005 eingeführt worden war. Zuvor waren die Versicherungskosten paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen worden, ein System, dessen Ursprung bis zur Sozialgesetzgebung unter Bismarck im 19. Jahrhundert zurückreicht.
Die neuen Bundestagsbeschlüsse haben nichts mit einer Rückkehr zu diesem Solidarprinzip zu tun. Während nämlich der Beitragssatz von 7,3 Prozent für die Unternehmen auch bei steigenden Gesundheitskosten stabil bleibt, werden die Krankenkassen alle künftigen Ausgabenerhöhungen durch Zusatzbeiträge auf die Beschäftigten abwälzen. Zugleich werden sie die Leistungen für die Patienten weiter zusammenstreichen sowie Personal einsparen.
Die Festschreibung des Arbeitgeberanteils wurde im letzten Herbst im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD festgeschrieben. Die Vereinbarungen enthielten eine Garantie, dass die Lohnzusatzkosten für die Arbeitgeber nicht steigen. Diese Forderung wird bereits seit vielen Jahren erhoben, und mehrere Gesundheitsreformen haben versucht, sie umzusetzen.
Doch die Art und Weise, wie die Abwälzung der Gesundheitskosten auf die Bevölkerung organisiert wurde, brachte die Krankenkassen in Schwierigkeiten. Viele von ihnen hatten auf der Grundlage der Gesundheitsreform 2011 eine so genannte Kopfpauschale zur Deckung ihrer Kosten von den Mitgliedern verlangt. Sie hatten jedoch Mühe, diese Pauschale einzutreiben. Viele Versicherte blieben mit der Zahlung im Rückstand oder wechselten zu günstigeren Krankenkassen, die aufgrund ihrer besseren Finanzsituation keinen Zusatzbeitrag verlangten.
Zudem sah sich die Regierung gezwungen, die bei Ärzten wie Patienten gleichermaßen verhasste Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal, die 2004 von der rot-grünen Regierung und deren Gesundheitsministerin Ulla Schmidt eingeführt worden war, zum 1. Januar 2013 wieder abzuschaffen. Sie hatte mehr Verwaltungskosten verursacht als Geld in die Sozialkassen gespült.
Die Gesetzesänderung soll jetzt sicherstellen, dass künftig alle Kostensteigerungen im Gesundheitssystem möglichst geräuschlos auf die gesetzlich Krankenversicherten abgewälzt werden. Sie soll gewährleisten, dass das paritätisch finanzierte System endgültig und vollständig ausgehebelt wird.
Ab 2015 kann nun jede Krankenkasse die von ihr festgelegten Zusatzbeiträge automatisch zusammen mit dem gesetzlichen Krankenkassenbeitrag von 7,3 Prozent von den Löhnen und Renten einbehalten. Durch den automatischen Beitragseinzug erhofft man sich, den Widerstand der Mitglieder zu unterdrücken, die bisher solche Zusatzbeiträge selbst überweisen mussten. Das Verfahren spricht den Satzungen der gesetzlichen Krankenkassen Hohn, die sich immer noch als „Versichertengemeinschaft“ mit Selbstverwaltung bezeichnen.
Dass künftig steigende Zusatzbeiträge zu erwarten sind, steht schon in der Begründung des Gesetzes. Die Bundesregierung rechnet entgegen offizieller Verlautbarungen mit einem neuen Wirtschaftseinbruch und steigender Arbeitslosigkeit, die zu einem Rückgang der Beitragseinnahmen führen werden. Die Experten des Bundesgesundheitsministeriums schreiben, um „eine bessere Ausgewogenheit zwischen Preis- und Qualitätswettbewerb zu erreichen“, sei es notwendig, „dass die Zusatzbeiträge tatsächlich erhoben werden“.
Allein durch die Senkung des aktuellen Beitrags um 0,9 Prozent entstehe jährlich eine Finanzlücke von 11 Milliarden Euro, heißt es weiter. Um dieses Defizit sowie alle in Zukunft entstehenden Ausgabensteigerungen zu finanzieren, müssen die Krankenkassen prozentuale Zusatzbeiträge verlangen, für deren Höhe es nach oben keine Begrenzung gibt.
Der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem und andere Experten rechnen mit einem erheblichen Ansteigen der Zusatzbeiträge ab 2016, nämlich um etwa 0,2 bis 0,3 Prozent jährlich. In wenigen Jahren müssten dann die Versicherten der meisten Krankenkassen schon 1,5 Prozent mehr und somit bereits 8,8 Prozent für die Krankenversicherung zahlen.
Dass diese Prognose noch sehr optimistisch ist, wurde letzte Woche deutlich. Die Krankenkassen meldeten, sie hätten im ersten Quartal 2014 erstmals seit langem wieder Verluste gemacht. Von Januar bis März sei insgesamt ein Defizit im dreistelligen Millionenbereich aufgelaufen, berichtete etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Das habe es zuletzt 2008 gegeben. Die Techniker Krankenkasse, mit nahezu 8,7 Millionen Versicherten die mitgliederstärkste Kasse, habe mit 217 Millionen Euro das größte Defizit verzeichnet, schrieb das Handelsblatt.
Die in den letzten Jahren verzeichnete gute Finanzlage der Kassen hatte die Bundesregierung dazu genutzt, die Bundeszuschüsse zu den Gesundheitskosten zu senken. Nach 14 Milliarden Euro im Jahr 2012 sank der Zuschuss im letzten Jahr auf 11,5 Milliarden Euro und soll in diesem Jahr weiter auf 10,5 Milliarden sinken. Die eingesparten Milliarden hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im Haushalt 2015 bereits eingeplant. Mit anderen Worten, die Krankenversicherten und die finanziellen Reserven der Krankenkassen werden nicht nur für die Entlastung der Unternehmen, sondern auch zugunsten der Sanierung des Staatshaushalts geplündert.
Der unverhohlene Angriff auf die arbeitende Bevölkerung und vor allem auf ihre ärmsten Teile durch die neue Gesundheitsreform zeigt sich auch in einer weiteren Bestimmung des Gesetzes: Anders als nach der aktuell geltenden Regelung müssen die Versicherten ab 2015 immer den vollen Zusatzbeitrag ihrer Krankenkassen zahlen, egal wie niedrig ihr Einkommen ist. Denn der bisherige steuerfinanzierte „Sozialausgleich“, der die Zusatzbeiträge auf 2 Prozent des Bruttoeinkommens begrenzt hatte, entfällt.
Die neuen gesetzlichen Regelungen werden den Konkurrenzkampf unter den Krankenkassen verschärfen. Angeblich soll dies zur Verbesserung der Qualität und der Versorgung führen. Das Gegenteil wird der Fall sein, wie bereits die bisherigen „Reformen“ erwiesen haben. Der Wettbewerb wird auf dem Rücken der Angestellten der Krankenkassen und der Versicherten ausgetragen. Als die Betriebskrankenkasse City BKK im Jahr 2011 mit 170.000 Versicherten Insolvenz anmelden musste, weil die Erhebung von Zusatzpauschalen zu Mitgliederverlusten geführt hatte, verloren die Beschäftigten ihre Arbeitsplätze. Viele Ältere und Kranke hatten Schwierigkeiten, in eine neue Krankenkasse aufgenommen zu werden.
Im Februar dieses Jahres wurde bekannt, dass die Barmer GEK, mit 8,64 Millionen Versicherten die zweitgrößte gesetzliche Krankenkasse Deutschlands, sich bereits auf den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen vorbereitet. Ab 2015 will sie 3.500 Vollzeitstellen bei heute 15.000 Beschäftigten streichen und die Zahl ihrer Geschäftsstellen von etwa 800 auf 400 halbieren. Die Krankenkasse will auf diese Weise ihre Verwaltungskosten massiv senken, um die abzusehenden Zusatzbeiträge gering zu halten und zu verhindern, dass Mitglieder abwandern.
Weitere Krankenkassenpleiten sind vorprogrammiert, und die größten Kassen verwandeln sich zusehends in reine Wirtschaftsunternehmen, für die Rentabilität und nicht die Gesundheit an erster Stelle steht.