Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hat am Mittwoch dringend vor terroristischen Anschlägen islamistischer „Gotteskrieger“ in Deutschland und ganz Europa gewarnt.
„Aus einer abstrakten Gefahr ist eine konkrete tödliche Gefahr geworden in Europa – mit Deutschland-Bezug“, sagte der Bundesinnenminister bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2013 in Berlin. Der Anschlag im Jüdischen Museum von Brüssel, wo ein Dschihadist Ende Mai vier Menschen ermordet hatte, habe „vor Augen geführt, dass aus der Möglichkeit eines Anschlags durch solche Syrien-Rückkehrer eine tödliche Realität geworden ist”, erklärte de Maizière.
Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen ergänzte: „Islamistischer Terrorismus stellt die größte Gefahr für die Gesellschaft dar. Deutschland ist nicht weit entfernt vom Terrorismus. Wir sind weiterhin Ziel von Anschlagsplanungen.“
Mehrere Zeitungen unterstrichen die Dramatik dieser Warnungen. So schrieb Die Welt: „Minister de Maizière neigt nicht zu Übertreibungen. Wenn er von ‚tödlicher Gefahr‘ für dieses Land spricht, dann meint er eine neue Qualität des Terrors.“
Tatsächlich sind die Aussagen des Innenministers und des Chefs des Inlandsgeheimdiensts mit Vorsicht zu genießen. Sie erfolgen zu einem Zeitpunkt, an dem der Verfassungsschutz wegen seiner Verwicklung in die Aktivitäten der rechtsextreme Terrorgruppe NSU unter massiver Kritik steht, an dem sich Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst trotz der Enthüllungen von Edward Snowden um eine engere Zusammenarbeit mit der amerikanischen NSA bemühen und an dem die Bundesregierung eine massive Propagandakampagne für mehr deutsche Militäreinsätze führt.
Der Verdacht liegt daher nahe, dass die dramatischen Warnungen vor islamistischen Terroranschlägen in erster Linie dazu dienen, die weit verbreitete Opposition gegen Staatsaufrüstung und Militarismus zu untergraben.
Der baden-württembergische Innenminister Reinhold Gall (SPD) hat zugegeben, dass es keine konkreten Anhaltspunkte für eine erhöhte Terrorgefahr gibt. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte er, dass wir „nach wie vor keine konkreten Anhaltspunkte bezüglich Anschläge in Baden-Württemberg und meines Wissens auch nicht in Deutschland haben“.
De Maizière führte zur Begründung seiner Warnung vor einer „tödlichen Gefahr“ neben dem Anschlag in Brüssel lediglich an, dass mehr als 320 Dschihadisten aus Deutschland in Syrien im Einsatz seien. Aus ganz Europa sollen nach Aussagen der Sicherheitsbehörden 2.000 Islamisten nach Syrien gereist sein. Diese Zahlen sind nicht neu. Sie kursieren seit längerem in der Öffentlichkeit und können eine erhöhte Terrorgefahr nicht begründen.
Das „islamistische Personenpotenzial“ in Deutschland gibt der Verfassungsschutz für 2013 mit 43.190 an, wobei völlig schleierhaft ist, nach welchen Kriterien dieser Kreis von Verdächtigen ausgewählt wird. Für das Vorjahr hatte der Geheimdienst eine Zahl von 42.550 genannt. Salafistische Gruppierungen, aus denen nach Angabe des Verfassungsschutzes die meisten Dschihadisten rekrutiert werden, sollen deutschlandweit 6.000 Mitglieder zählen, im Vergleich zu 4.500 im Jahr 2012.
Es ist anzunehmen, dass die Dschihadistenszene und ihr Umfeld massiv vom Geheimdienst infiltriert sind – ähnlich wie die rechtsextreme Terrorgruppe NSU, die unbehelligt zehn Mordanschläge, einen Terroranschlag in Köln sowie mehrere Banküberfälle begehen konnte, obwohl in ihrem engeren Umfeld mindestens zwei Dutzend V-Leute von Geheimdiensten und Polizei aktiv waren.
Der Bürgerkrieg in Syrien, in dem die Dschihadisten aktiv sind, wird von deutscher Seite seit langem aktiv geschürt und unterstützt. Die „tödliche Gefahr“, die de Maizière und Maaßen jetzt dramatisieren, ist zu einem großen Teil hausgemacht.
Berlin war lange ein Zentrum der syrischen Opposition, die dort abgeschirmt von der Öffentlichkeit und mit Unterstützung der Bundesregierung die Ablösung des Regimes von Baschar al-Assad planen konnte.
Die deutsche Marine, die im Rahmen der UNIFIL-Mission den Waffenschmuggel vor der libanesischen Küsten unterbinden soll, hat die Waffen an die syrische Opposition passieren lassen und nicht eine Lieferung abgefangen.
Der Bundesnachrichtendienst (BND) gilt als bestvernetzter Auslandsgeheimdienst in Syrien. Im Sommer 2012 entsandte die Bundesmarine das Spionageschiff Oker, das mit BND-Technik zur Überwachung des Landes ausgestattet ist, zu einem mehrmonatigen Einsatz vor die syrische Küste. BND-Agenten sind zudem im türkischen US-Stützpunkt Adana aktiv. Der deutsche Geheimdienst hat so die Gegner des Assad-Regimes direkt oder über seine US-Verbündeten logistisch unterstützt.
Die islamistischen Gruppen al Nusra und ISIS, von denen nun die terroristische Gefahr ausgehen soll, haben so direkt oder indirekt von deutscher Hilfe profitiert. Aufgebaut, bewaffnet und finanziert wurden sie von den Nato-Verbündeten Saudi-Arabien und Katar sowie vom Nato-Mitglied Türkei.
Wie zu erwarten war, haben mehrere Zeitungen und Politiker auf die Terrorwarnung des Bundesinnenministers und des Geheimdienstchefs reflexartig mit der Forderung nach mehr Staatsaufrüstung reagiert.
Die Neue Osnabrücker Zeitung kommentierte: „Der Bericht des Verfassungsschutzes belegt, dass der Inlandsnachrichtendienst in Deutschland nach wie vor benötigt wird: Trotz verheerender Pannen, die im Zuge der NSU-Affäre geschehen sind. Eine wehrhafte Demokratie braucht Behörden, die Gefahren für die innere Sicherheit erkennen und davor warnen.“
Der baden-württembergische Innenminister Gall forderte in dem bereits zitierten Deutschlandfunk-Interview eine Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung, die bisher an Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs gescheitert ist. „Das wäre eine der Möglichkeiten, die den Sicherheitsbehörden die Arbeit erleichtern würde“, sagte er.
Vor allem aber drängte Gall auf eine intensivere Zusammenarbeit mit den US-Geheimdiensten, die jetzt schon weit enger sind, als dies die Öffentlichkeit bisher wusste, wie Der Spiegel in seiner jüngsten Titelgeschichte enthüllte.
„Ich bin grundsätzlich davon überzeugt, dass die Sicherheitsbehörden noch engmaschiger zusammenarbeiten müssen“, sagte Gall. „Und wir werden, dessen bin ich mir ganz sicher, auch auf ausländische Nachrichtendienste in der Zukunft angewiesen sein.“ Die Vorkommnisse um die NSA dürften „diese grundsätzliche Auffassung nicht infrage stellen“.
Diese Aussagen sollten als Warnung verstanden werden. Der Ausbau der Geheimdienste und ihre fast lückenlose Überwachung der Bevölkerung richten sich gegen jede Form sozialer und politischer Opposition. Sie bereiten die Unterdrückung von Widerstand gegen Militarismus und Sozialabbau vor. Die Terrorgefahr, die weitgehend durch die Politik der Bundesregierung hervorgerufen wurde, dient als willkommener Vorwand, um den Ausbau des Überwachungsapparats durchzusetzen.