Envio-Prozess in Dortmund:

Vertuschung im größten deutschen Giftmüllskandal geht weiter

Der größte deutsche Giftmüllskandal seit Jahrzehnten, bei dem zahlreiche Arbeiter der Dortmunder Recycling-Firma Envio durch hohe Dosen des giftigen, krebserregenden Stoffes PCB verseucht wurden, sowie die kriminellen Machenschaften der Geschäftsleitung bleiben auch nach einem neuen Gerichtstermin am 5. Juni ungeklärt.

Das Dortmunder Landgericht konzentrierte sich auf ein neues Gutachten des von der Staatsanwaltschaft bestellten Arbeitsmediziners Albert Rettenmeier, der bereits im Juli 2012 ein erstes Gutachten vorgelegt hatte. Das Gericht hatte ihn damals zu einer erneuten und genaueren Untersuchung der rund 300 betroffenen Envio-Arbeiter beauftragt. Doch Rettenmeier wiederholte in seinen zweiten Gutachten im Wesentlichen die Aussagen, die er bereits vor zwei Jahren gemacht hatte. Danach kann kein Zusammenhang zwischen der PCB-Belastung und den schweren Krankheiten, unter denen heute viele Arbeiter leiden, nachgewiesen werden. Untersucht hatte er nur 29 Arbeiter.

Die Envio Recycling GmbH, die bis zu ihrer Schließung 2010 zur börsennotierten Envio AG gehörte, hatte sich auf die Entsorgung PCB-haltiger Transformatoren sowie auf die Vermarktung der durch die Verwertung gewonnenen Rohstoffe wie zum Beispiel Kupfer spezialisiert und dabei Umwelt- und Arbeitsschutzbestimmungen in hohem Maße verletzt.

Anonyme Beschwerden von Mitarbeitern, die detailliert über kriminelle Machenschaften berichteten, wurden von den Behörden lange Zeit ignoriert. Erst nachdem sich ein Arbeiter an eine Lokalzeitung gewandt und aufgedeckt hatte, dass seine Kollegen, viele davon Zeitarbeiter, mit bloßen Händen an der Zerlegung der Transformatoren arbeiteten, die das hochgiftige PCB enthielten, die Absauganlagen nicht funktionierten und die Zerlegung zum Teil außerhalb der Werkhallen erfolgte, wurden die Aufsichtsbehörden tätig und schlossen 2010 den Betrieb.

In den folgenden Untersuchungen wurden bei 95 Prozent der Envio-Arbeitern PCB-Werte im Blut gemessen, die die Referenzwerte um das 8.600-fache überstiegen, in der Spitze sogar um das 25.000-fache. Auch Dioxine wurden nachgewiesen. Sogar Kinder und Angehörige, die mit dem Gift offenbar durch die gemeinsam mit der Arbeitskleidung gewaschene Kleidung in Berührung kamen, als auch Anwohner und Arbeiter der umliegenden Firmen waren verseucht.

Presseberichte dokumentierten den Fall eines Envio-Arbeiters, der das Gift in seiner Arbeitskleidung mit nach Hause brachte und damit die gesamte Familie verseuchte. Der Jüngstgeborene, mit dem die Mutter in dieser Zeit schwanger war, kam mit einer von Zysten übersäten Niere zur Welt, die bald versagte und entfernt werden musste. Auch in den Blutproben seines fünf Jahre alten Bruders wurde das Gift gefunden.

Nach langem Zögern der Behörden müssen sich seit dem 9. Mai 2012 der Chef der Firma Dirk Neupert und einige weitere verantwortliche Manager vor dem Dortmunder Landgericht verantworten. Das Verfahren gegen einen ehemaligen Betriebsleiter hat das Gericht inzwischen gegen Zahlung einer Buße von 3.000 Euro mit der Begründung eingestellt, er habe nicht zur Führungsebene des Entsorgungsbetriebs gehört und nur kleinere Verstöße gegen Umweltschutzauflagen begangen. Zweiundzwanzig ehemalige Envio-Arbeiter treten als Nebenkläger auf und fordern eine Entschädigung für ihre schwere gesundheitliche Beeinträchtigung.

Gutachter Rettenmeier erklärte zu den Gesundheitsproblemen der Arbeiter – darunter Hautprobleme, Schilddrüsendefekte, Nervenleiden, motorische und psychische Störungen bis hin zu tiefen Depressionen sowie schlechten Hormon- und Leberwerten –, sie könnten nicht zweifelsfrei auf die PCB-Belastung zurückgeführt werden. Unter ähnlichen Hautveränderungen leide auch die übrige Bevölkerung, und die psychischen Probleme könnten nach der Beschäftigung bei Envio Recycling entstanden sein.

Ein Leserkommentar in der Lokalpresse verwies allerdings darauf, dass der Arbeitsmediziner neue Untersuchungsmethoden wie die Nanotechnologie offensichtlich aus Kostengründen nicht eingesetzt habe, mit der man den Zusammenhang zwischen diesen Krankheiten und der PCB-Vergiftung zu 95 Prozent nachweisen könne.

Rettenmeiers neue Expertise wird von den Anwälten des Envio-Managements begrüßt und als Persilschein betrachtet. Allerdings steht sie im flagranten Widerspruch zu einer Reihe anderer Untersuchungen und Presseberichten, die sich auf Schilderungen der Arbeiter stützen.

Im Dortmunder Knappschaftskrankenhaus hatte seit 2010 ein Spezialistenteam der Universitätsklinik Aachen insgesamt 1.300 Betroffene, darunter ehemalige Envio-Mitarbeiter, Beschäftigte von Nachbarfirmen, Kleingärtner und deren Angehörige, untersucht. Bei 320 Betroffenen, darunter 14 Kindern, waren stark erhöhte PCB-Werte im Blut festgestellt worden. Auch die nicht minder gefährlichen Dioxine wurden bei einigen Blutproben festgestellt.

Der Arbeitsmediziner Thomas Kraus vom Klinikum Aachen erklärte in seinem Zwischenbericht im Februar 2014: „Wir haben statistisch eindeutige Zusammenhänge zwischen PCB-Belastungen und medizinischen Auffälligkeiten… Und es gibt nicht den geringsten Hauch eines Zweifels, dass diese Personengruppe durch ihre Berufstätigkeit hoch belastet wurde.“

Bezeichnenderweise versuchen die Verteidiger von Envio-Chef Dirk Neupert seit geraumer Zeit, den für sie missliebigen Professor Kraus aus Aachen als weiteren Gutachter auszuschalten.

Auch das Gutachten eines von der Staatsanwaltschaft bestellten Diplom-Chemikers versuchte die Verteidigung „wegen Befangenheit“ zu blockieren. Der Sachverständige hatte in einer Verhandlung im Februar berichtet, die Reinigung der mit PCB kontaminierten Bleche habe bei Envio stellenweise „nicht oder nur unzureichend“ stattgefunden. Damit seien die „Mitarbeiter in den verwertenden Betrieben gefährdet“ worden. Envio habe damit die behördlichen Vorgaben verletzt. „Die Reinigung der Bleche erfolgte in der Durchführung nicht genehmigungskonform“, heißt es wörtlich. Die Verteidiger warfen ihm daraufhin vor, er habe sich von der „behördlichen Erwartungshaltung lenken lassen“.

Im Streit um die verschiedenen Gutachten vor Gericht, den selbst die Staatsanwaltschaft als Verschleppungstaktik bezeichnet, gehen nicht nur die Interessen der betroffenen Arbeiter und ihrer Familien unter, die teilweise bis ans Lebensende gezeichnet sind und jahrelang auf Entschädigung warten müssen. Es wird auch vertuscht, dass Emporkömmlinge wie Dirk Neupert nur deshalb so verantwortungslos und rücksichtslos Leben und Gesundheit der Arbeiter aufs Spiel setzen können, weil sie mächtige Freunde in staatlichen Stellen und in der Finanzwelt haben.

Die Produktion von krebserregenden Polychlorierten Biphenylen (PCB) wurde in Deutschland bereits 1983 und mit der Stockholmer Konvention von 2001 auch weltweit verboten. Bis Ende 2010 sollten PCB und PCB-haltige Geräte beseitigt sein. Auf der daraus folgenden allgemeinen Entsorgungsverpflichtung beruhte das Geschäftsmodell der Envio Recycling GmbH. Die kriminellen Methoden, die sie dabei anwandte, wurden trotz zahlreicher Warnungen von der Bezirksregierung Arnsberg über Jahre geduldet. Im Herbst 2010 sickerten auch Informationen über dubiose Geschäfte von Envio mit dem vorbestraften Waffenhändler Meckler über die Lieferung verseuchter Kondensatoren aus Kasachstan durch, die bis hinauf ins Bundeswirtschaftsministerium gedeckt und subventioniert wurden.

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