Ein Standgericht in Ägypten verurteilte am Montag 683 Angeklagte, angeblich alles Mitglieder oder Anhänger der Muslimbrüder (MB), nach einem fünfminütigen Verfahren zum Tode. Der Richter ließ nicht ein Wort und nicht einen Beweis der Verteidigung zu. Die meisten der Verurteilten waren nicht einmal anwesend.
Der Massenprozess und das schon im Vorhinein feststehende Urteil folgten dem Muster eines anderen Justizskandals im vergangenen Monat, bei dem der gleiche Richter, Saed Youssef, 529 Angeklagte zum Tod verurteilt hatte. In einem separaten Verfahren am selben Montag bestätigte Youssef 27 Todesurteile des ersten Prozesses. Die übrigen änderte er in lebenslange Gefängnisstrafe um.
Vor dem schwer bewachten Gerichtsgebäude in Minia, ungefähr 240 Kilometer südlich von Kairo, weinten Angehörige der Angeklagten und beschimpften die herrschende Junta und ihren de facto Führer, den ehemaligen Chef des Militärgeheimdiensts unter Mubarak, General Abdel Fattah al-Sisi.
Den über 1.200 Verurteilten drohen der Galgen oder ein lebenslanger Aufenthalt in Ägyptens Gefängnissen, die für ihre Brutalität berüchtigt sind. Die Vorwürfe gegen sie beziehen sich auf den Tod eines einzigen Polizisten. Dieser war bei Protesten ums Leben gekommen, die von den Muslimbrüdern organisiert worden waren. Sie richteten sich gegen den Militärputsch, durch den der gewählte Präsident und Muslimbruder Mohammed Mursi gestürzt wurde. In der gleichen Zeit töteten Sicherheitskräfte bis zu zweitausend Demonstranten, tausend davon an einem einzigen Tag.
Das juristische Trauerspiel von Minia macht völlig klar, dass die Terrorherrschaft unter al-Sisi fortgesetzt wurde und höchstens noch stärker institutionalisiert worden ist. Al-Sisi trat kürzlich als Verteidigungsminister und Armeechef zurück, um für das Präsidentenamt kandidieren zu können, wobei die Präsidentschaftswahlen ohne Zweifel gefälscht werden.
Neben den zweitausend von al-Sisis Junta Getöteten wurden weitere 21.000 ins Gefängnis geworfen. Tausende sind in „schwarzen Löchern“, Geheimgefängnissen und Folterzentren verschwunden.
Diese riesige Unterdrückungsmaschinerie richtet sich nicht nur gegen die Muslimbruderschaft, sondern auch gegen Demonstranten, die im Februar 2011 gegen den ehemaligen Diktator Mubarak gekämpft haben. Drei von ihnen, Ahmed Maher und Mohammed Adel, Führer der Jugendbewegung vom 6. April, die jetzt unter dem Vorwurf der Spionage und der Verleumdung des Staates verboten ist, und Ahmed Duma, sind zu drei Jahren Strafarbeit und einer Geldstrafe von 7.000 Euro verurteilt worden, weil sie angeblich ein Dekret verletzt haben, dass alle nicht genehmigten Proteste verbietet. Sie sollen ständigen Schlägen durch die Gefängniswärter ausgesetzt sein.
Diese umfassende brutale Unterdrückung richtet sich vor allem gegen die ägyptische Arbeiterklasse, d.h. gegen die gesellschaftliche Kraft, die mit Massenstreiks und Protesten am meisten dazu beigetragen hat, das Mubarak-Regime zu stürzen.
Inzwischen gehen die Streiks weiter, an denen sich Textil- und Stahlarbeiter, Post- und Hafenarbeiter, auch am strategisch wichtigen Suezkanal beteiligen. Weil die herrschende Junta die Umsetzung vom IWF diktierter drastischer Sparmaßnahmen vorbereitet, wozu zum Beispiel die Streichung von Subventionen für Brot, Strom und Gas gehört, ist es für sie wichtig, die ägyptischen Arbeiter durch staatliche Gewalt einzuschüchtern.
Der pure Umfang der Massenprozesse und Todesurteile ist in jüngerer Geschichte ohne Beispiel. Sie erinnern an Gräueltaten der Nazis. Mit ihren windelweichen Erklärungen auf der einen und ihren konkreten Taten auf der anderen Seite steht die Washingtoner Regierung als direkter Komplize dieser Verbrechen da. Präsident Barack Obama legt den Verurteilten quasi persönlich die Schlinge um den Hals.
In einer vor Zynismus triefenden Erklärung ließ das Weiße Haus am Montag verlauten, Obama sei über die Massentodesurteile in Ägypten „tief besorgt“.
“Zwar ist die Unabhängigkeit der Justiz ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie, aber dieses Urteil lässt sich nicht mit den Verpflichtungen Ägyptens gegenüber internationalen Menschenrechtsgesetzen in Einklang bringen”, heißt es in der Erklärung des Weißen Hauses weiter. An al-Sisi und seine Kollegen in der Militärführung wird appelliert, „sich gegen diese unlogischen Taten zu wenden“.
Was meinen sie, wen sie damit hinters Licht führen können? In Ägypten geht es momentan wohl kaum um die Feinheiten der „Unabhängigkeit der Justiz“. Der Henker-Richter, im Volk als „der Schlächter“ berüchtigt, arbeitet an einem Sondergericht, das die Junta zu genau diesem Zweck geschaffenen hat. Die drakonischen Urteile folgen einer klaren Logik: Sie sind reiner Staatsterror mit dem Ziel, die ägyptischen Massen einzuschüchtern.
In der Erklärung heißt es weiter: “Seit der Revolution vom 25. Januar sind die Ägypter bestrebt, von einer Regierung vertreten zu werden, die gerecht regiert, ihre Würde respektiert und wirtschaftlichen Fortschritt schafft. Die Vereinigten Staaten unterstützen diese Bestrebungen und wollen, dass in Ägypten der Übergang gelingt.“
Lügen über Lügen. In Wirklichkeit hat die Obama-Regierung alles getan, um ihren „Statthalter“ Mubarak an der Macht zu halten und die Revolution vom 25. Januar zu zerschlagen. Sie lieferte ihm die Munition, um das zu erreichen.
Als das nicht gelang, versuchte sie, die Macht an Mubaraks Geheimdienstchef und Freund der CIA, Omar Suleiman zu übertragen. Als das misslang, unterstützte sie die Machtübernahme des Obersten Rats der Streitkräfte. Nach einem kurzen Zwischenspiel, in dem sie die rechte Regierung der Muslimbrüder unter Mursi zu nutzen versuchte, um ihre Interessen in Ägypten und in der Region zu sichern, unterstützte sie ohne großes Aufsehen den Militärputsch, der Mursi im Juli letzten Jahres stürzte. Sie weigerte sich, den Putsch einen Putsch zu nennen, damit sie das Regime weiter militärisch unterstützen konnte.
Der Zynismus dieses Geschwätzes darüber, dass “in Ägypten der Übergang gelingen“ solle, ist nicht zu übertreffen. Der von Washington unterstützte und gebilligte „Übergang“ hat sich als Übergang zu einer Diktatur erwiesen, die noch blutiger und brutaler ist als selbst die verhasste amerikanische Marionette Mubarak.
Es kann wohl kaum ein Zufall sein, dass das Massentodesurteil vom Montag nur wenige Tage nach der Zusage Washingtons erging, noch in diesem Haushaltsjahr zehn Apache Kampfhubschrauber an die ägyptische Junta zu liefern. Das ist die Hälfte dessen, was die Regierung den Unterdrückungskräften des Landes liefern wollte. Die andere Hälfte ist durch Gesetze blockiert, die die Hilfe an Regimes einschränken, die durch Militärputsche an die Macht gekommen sind.
Der Hubschrauberdeal wurde von der ägyptischen Junta zutreffend als grünes Licht dafür interpretiert, dass sie ihre brutale Unterdrückung verstärken konnte.
Nichts könnte deutlicher entlarven, dass die “Menschenrechts-orientierte” Außenpolitik der Obama-Regierung ein heuchlerischer Betrug ist. In der Ukraine posiert sie seit einigen Monaten als Fürsprecherin von Demokratie und Menschenrechten. Eine im Vergleich zu Ägypten relativ geringe Zahl an Toten (deren Urheberschaft zudem völlig ungeklärt ist) nutzt sie aus, um einen von Faschisten geführten Putsch und ständige antirussische Provokationen zu rechtfertigen, die die Welt in einen dritten, atomaren Weltkrieg stoßen könnten.
In Venezuela führten gewalttätige Protest zu vergleichbaren 41 Todesopfern (deren Urheberschaft auch dort völlig unklar ist). Darauf warf US-Außenminister John Kerry der venezolanischen Regierung eine „Terrorkampagne gegen ihre eigene Bevölkerung“ vor. Dagegen konnte er offenbar weder bei dem Massaker an Tausenden Demonstranten in Kairo im letzten August, noch bei den Massentodesurteilen der letzten beiden Monate einen solchen Terror entdecken.
Ägypten entlarvt das wirkliche Gesicht der imperialistischen Politik der USA. Mit blutiger Staatsgewalt und Militarismus vertritt sie die Interessen der amerikanischen Finanz- und Wirtschaftselite und unterdrückt die sozialen Kämpfe und demokratischen Bestrebungen der arbeitenden Bevölkerung in aller Welt.