Hunderte Freischärler des neofaschistischen Rechten Sektor belagern seit vergangenem Mittwoch immer wieder das ukrainische Parlament.
Bewaffnete Schläger des Rechten Sektor verlangen den Rücktritt von Innenminister Arsen Awakow. Sie laufen in militärischen Uniformen herum, tragen schusssichere Westen und Balaklawas, Baseballschläger, Jagdmesser und Macheten. Die Organisation beschuldigt Awakow, die Erschießung von Alexander Musitschko angeordnet zu haben, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Rechten Sektor, der den Spitznamen Weißer Sascha trug. Musitschko wurde am 25. März von der Polizei erschossen; die Umstände sich nach wie vor unklar.
Mittlerweile sind neue Hinweise aufgetaucht, die nahelegen, dass es der Rechte Sektor war, der hinter den Schüssen vom 20. Februar auf dem Unabhängigkeitsplatz steckte. Damals wurden Dutzende Menschen getötet. An dem Tag aufgenommene Fotos westlicher Journalisten zeigen die Gesichter von Scharfschützen ohne Masken. Der Generalstaatsanwalt der Ukraine identifizierte die Personen als Bürger der Ukraine, lehnte aber ab, ihre Namen zu nennen.
Das Eingeständnis des Generalstaatsanwalts widerlegt die Behauptung führender ukrainischer Politiker, es seien russische Scharfschützen gewesen, die die Schüsse abgegeben hätten.
Der russische Außenminister Sergei Lawrow erklärte am Sonntag in einem Interview im russischen Fernsehen, er habe Informationen an westliche Stellen weitergegeben, dass der Rechte Sektor hinter den Scharfschützen gestanden habe. Moskaus UN-Botschafter Vitali Tschurkin hatte am Donnerstag ausgesagt, die US-Botschaft in Kiew sei in die Schüsse verwickelt.
In den wochenlangen Protesten gegen die Regierung Janukowitsch war der 20. Februar der gewalttätigste Tag. Am frühen Morgen begannen mehrere Scharfschützen, ukrainische Sicherheitskräfte von Gebäuden im Stadtzentrum aus unter Feuer zu nehmen. Dann richteten die Scharfschützen ihre Waffen auf Demonstranten auf dem Platz. Sie richteten ein Blutbad an, dem 53 Menschen zum Opfer fielen. Diese erlitten Schusswunden im Kopf oder Hals oder wurden aus nächster Nähe getötet. Mehrere hundert weitere Personen wurden verwundet.
Mit den Ereignissen dieses Tages ging eine Propagandaflut in den ukrainischen und internationalen Medien einher. Der generelle Tenor lautete, pro-russische Janukowitsch-Kräfte seien für die Schießerei verantwortlich. Diese Ereignisse spielten eine Schlüsselrolle in der Radikalisierung der Proteste in Kiew, die zum Janukowitschs Sturz nur einen Tag später führten.
Die neuen Hinweise bestätigen auch die Darstellung der Ereignisse, die der estnische Außenminister Urmas Paet in einem Telefongespräch mit der Außenbeauftragten der EU, Catherine Ashton, gegeben hatte. Wie Paet in dem Gespräch, das auf Youtube erschien, erklärte, habe eine Ärztin, die Verwundete auf dem Platz versorgte, ausgesagt, die Scharfschützen hätten sowohl auf die Polizei, wie auch auf Demonstranten geschossen und seien unter dem Befehl der Opposition gestanden.
Die neuen Informationen verleihen der Theorie neues Gewicht, dass die Erschießung des Rechten Sektor-Aktivisten Alexander Musitschko durch die ukrainische Polizei in der Stadt Rivne vor einer Woche die Billigung des ukrainischen Staates hatte. Offenbar sollte jemand aus dem Weg geräumt werden, der über die führende Rolle des Rechten Sektors bei den Anti-Janukowitsch-Protesten Bescheid wusste. Mit Musitschkos Ermordung sollten wohl außerdem Mitglieder des Rechten Sektors eingeschüchtert werden. Sie weigern sich bisher, ihre Waffen niederzulegen und sich in die neu gebildete ukrainische Nationalgarde zu integrieren.
Die Verantwortung für den Aufbau der neuen Nationalgarde liegt beim Vorsitzenden des nationalen ukrainischen Sicherheitsdienstes, Andrei Parubi. Er hat bei der Organisierung der Selbstverteidigungskräfte auf dem Maidan eine führende Rolle gespielt. Parubi ist Gründungsmitglied von Swoboda, einer rivalisierenden faschistischen Organisation in den Anti-Janukowitsch-Protesten.
Einen Tag nach Beginn der Proteste der neonazistischen Milizen des Rechten Sektors vor dem ukrainischen Parlament, verurteilte Lady Ashton den „Druck von Aktivisten des Rechten Sektors, die das Gebäude der Rada, des ukrainischen Parlaments, umstellt haben“.
Sie verurteilte die “Einschüchterungstaktik” des Rechten Sektors, die allen „demokratischen Gepflogenheiten und Rechtsprinzipien“ widerspreche.
Ashtons Bemerkungen triefen vor Heuchelei. Führende Politiker der EU, der USA und Deutschlands hatten kein Problem damit, die Aktivitäten von rechtsextremen und ultrarechten Schlägern und Politikern während der Proteste zu ermutigen. Ende Februar traf sich Ashton persönlich mit den Führern aller großen Oppositionsparteien, d.h. auch mit dem Chef der faschistischen Swoboda, Oleg Tjangibok. Bei einem anderen Treffen umarmte und küsste Ashton die Oligarchin Julia Timoschenko, die vor einer Woche die nukleare Vernichtung aller acht Millionen Russen forderte, die in der Ukraine leben. Nach Janukowitschs Sturz gingen fast ein Viertel aller Posten in dem neuen ukrainischen Kabinett an führende Mitglieder von Swoboda.
Schon Anfang Februar hatte die führende amerikanische Außenpolitikerin Victoria Nuland erklärt, eine neue ukrainische Regierung solle sich viermal in der Woche mit dem Swoboda-Chef beraten. Wie der russische Außenminister Lawrow in seinen jüngsten Äußerungen vor der Presse berichtete, hat US-Außenminister Kerry sich in den letzten Gesprächen positiv darüber geäußert, dass Swoboda sich angeblich politisch in die Mitte bewegt habe.
Die Bereitschaft der EU, eng mit ultrarechten Milizen in Kiew zusammenzuarbeiten, wurde gestern im Telegraph bestätigt. Einem Bericht in der Zeitung zufolge, hat die EU in zwei Kommuniqués jüngeren Datums zur Ukraine einen Absatz gestrichen, der „die Auflösung paramilitärischer Strukturen“ forderte.