In der letzten Woche haben Schiffe der italienischen Kriegsmarine mehr als 3.000 Flüchtlinge im Mittelmeer aufgegriffen. Die meisten waren vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen. Die Rettung Tausender in Seenot geratener Schiffbrüchiger soll nun die angeblich humanitäre Ausrichtung der militärischen Mittelmeerüberwachung deutlich machen. Tatsächlich verbirgt sich dahinter jedoch die knallharte Politik der Abschottung der Europäischen Union gegen Flüchtlinge und Migranten.
Die italienische Regierung hatte nach den Flüchtlingstragödien vor Lampedusa im vergangenen Herbst, bei denen mehr als 400 Flüchtlinge jämmerlich ertranken, die Operation „Mare Nostrum“ ins Leben gerufen. Am vergangenen Montag und Dienstag wurden im Rahmen dieser Operation insgesamt 15 Schlauchboote und kleine, kaum hochseetüchtige Fischerboote aufgebracht und die 2.128 aufgegriffenen Flüchtlinge nach Sizilien gebracht.
In den beiden folgenden Tagen wurden weitere 1.165 Flüchtlinge von ihren kleinen Booten geholt. Die Flüchtlinge, die nach Behördenangaben überwiegend aus Syrien, Eritrea und Palästina stammen, waren von der libyschen Küste aus gestartet. Ein Flüchtling starb, nachdem er die giftigen Abgase des Schiffsmotors eingeatmet hatte.
Seit Anfang des Jahres sind damit annähernd 10.000 Flüchtlinge auf hoher See von der italienischen Kriegsmarine und Küstenwache aufgegriffen worden, dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum des Jahres 2013. Der italienische Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Flavio Di Giacomo, sprach von einem „ernsten Notfall“. Noch nie habe man „13 Boote auf einmal kommen sehen, vor allem nicht im März“. Di Giacomo rechnet aufgrund der derzeitig ruhigen Wetterlage mit weiteren Tausenden Flüchtlingen, die in den nächsten Tagen die lebensgefährliche Passage über das Mittelmeer nach Italien wagen werden.
Für die Operation „Mare Nostrum“ setzt die italienische Regierung eine eigene Marineeinheit mit zwei Fregatten, Korvetten und Amphibienschiffen zur Überwachung des Mittelmeerraums ein. Von der europäischen Flüchtlingsagentur Frontex wird die Einheit mit Infrarotbildern und Überwachungsdaten von Satelliten und Drohnen des Eurosur-Programms bei der Suche nach Flüchtlingsbooten unterstützt. Außerdem hat die italienische Regierung die Zusammenarbeit zwischen Marine, Carabinieri der Staatspolizei und Beamten des Innenministeriums verstärkt.
Für die Flüchtlinge, die auf hoher See aufgegriffen werden, ist mit der Rettung aus akuter Seenot die Odyssee noch lange nicht vorbei. Das Auffanglager auf Lampedusa ist nach Misshandlungen von Flüchtlingen geschlossen worden. Auf Sizilien stehen nur 180 Plätze im Auffanglager von Pozzallo zur Verfügung, und die sizilianischen Behörden hoffen, die Flüchtlinge möglichst schnell auf die 13 Flüchtlingslager auf dem Festland verteilen zu können. Dort droht ihnen ein monatelanges Warten auf die Bearbeitung von Asylanträgen oder noch öfter die baldige Abschiebung in die Herkunfts- und Transitländer.
Die Rettungsaktionen im Zuge der Operation „Mare Nostrum“ werden von den zuständigen Behörden trotzdem als großer Erfolg gefeiert. Laurens Jolles, Beauftragter des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen UNHCR für Italien und Griechenland, bezeichnete „Mare Nostrum“ als „vorbildlich für andere Länder“ und rief die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union dazu auf, Italien bei der Fortführung finanziell zu unterstützen. Bislang habe die Operation 30 Millionen Euro gekostet.
Der Generalstabschef der italienischen Streitkräfte, Luigi Binelli Mantelli, hob den „humanitären Aspekt“ der Operation hervor, nicht ohne hinzuzufügen, dass Mare Nostrum wesentlich dazu beitrage, den Menschenschmuggel einzudämmen, da bislang auch 46 Ägypter und Libyer verhaftet worden seien, die die Flüchtlingsboote gesteuert haben. Binelli Mantelli erklärte sogar, dass „Mare Nostrum“ damit „nicht nur einen Beitrag zur Grenzkontrolle sondern auch zur Sicherheit Europas beitrage“, da es „enge Verbindungen zwischen Menschenschmugglern und terroristischen Organisationen“ gäbe.
Die Beweise für diese Unterstellung blieb er jedoch schuldig. Und auch wenn Bootsführer und Schmuggler oft Tausende von Euro für die Überfahrt kassieren und das Leben der Flüchtlinge aufs Spiel setzen, dürfen Ursache und Wirkung nicht aus dem Blick verloren werden.
Die Menschenschmuggler können ihr profitables Geschäft nur deswegen betreiben, weil die Europäische Union sich immer stärker gegen Flüchtlinge abschottet und die Mauern der Festung Europa immer höher zieht. Die Operation „Mare Nostrum“ ist auch nicht unter humanitären Gesichtspunkten gestartet worden, sondern um Flüchtlinge frühzeitig zu entdecken und wieder zurück an die libysche Küste zu treiben.
Der italienische Innenminister Angelino Alfano sprach zudem bereits zu Beginn der Operation im Oktober vergangenen Jahres klar aus, dass man mit dem massiven Einsatz der Kriegsmarine diejenigen abschrecken wolle, die „glauben, ungestraft Menschenhandel betreiben zu können“. Aus Seenot gerettete Flüchtlinge, so Alfano, müssten auch keineswegs notwendigerweise nach Italien gebracht werden.
Bis heute ist unbekannt, wie viele Flüchtlingsboote abgedrängt und wieder zurück nach Libyen getrieben wurden. Bei diesen illegalen Push-Back-Aktionen kommt es immer wieder zu Unfällen, und erst vor wenigen Wochen sind vor der griechischen Insel Farmakonisi zwölf Flüchtlinge dabei ertrunken.
Das wirkliche Verbrechen besteht daher nicht darin, Flüchtlinge nach Europa zu bringen, sondern diesen verzweifelten Menschen Schutz und Obdach zu verweigern, sie stattdessen als „illegale Migranten“ zu kriminalisieren und möglichst schnell wieder abzuschieben.
Nicht zufällig stammte ein Großteil der jüngst aufgegriffenen Flüchtlinge aus Syrien, wo seit drei Jahren ein blutiger Bürgerkrieg tobt, den die USA mithilfe ihrer Vasallenstaaten auf der arabischen Halbinsel und der Europäischen Union vom Zaun gebrochen haben.
Neben geschätzten 146.000 Todesopfern befinden sich 9 Millionen Syrer auf der Flucht. Rund 6,5 Millionen Menschen irren innerhalb Syriens auf der Suche nach Schutz umher, 2,4 Millionen vegetieren in riesigen Aufnahmelagern im Libanon, Jordanien, der Türkei und in Ägypten. In den Staaten der Europäischen Union sind dagegen weniger als 4 Prozent der syrischen Flüchtlinge untergekommen. Seit Beginn des Konflikts haben 56.000 Syrer in der EU Asyl beantragt, die meisten von ihnen in Schweden und Deutschland. Der Libanon und die Türkei haben hingegen fast eine Million, beziehungsweise 625.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen.
Doch die Versorgung der Flüchtlinge in den Lagern gestaltet sich zunehmend schwierig, da die Vereinten Nationen, die den Großteil der Lebensmittelversorgung übernommen haben, nicht mehr über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Zugesagte Hilfen wurden nicht ausgezahlt und die Lebensmittelrationen des World Food Programs mussten bereits um 20 Prozent gekürzt werden, wie der UN-Nothilfekoordinator Muhannad Hadi der Frankfurter Allgemeinen erklärte.
Selbst der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, fragte Mitte März in Richtung Europäischer Union, „in welcher Welt leben wir, wenn Syrerinnen und Syrer, die vor einem brutalen Konflikt fliehen, ihr Leben auf der Flucht riskieren müssen und – wenn sie es schließlich geschafft haben – nicht willkommen sind oder sogar an den Grenzen abgewiesen werden?“ Nach Angaben des UNHCR starben 2013 mindestens 250 Syrer beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren.
Rund zwei Millionen syrische Kinder leiden zudem akut an Unterernährung. Lebensbedrohliche Krankheiten wie Polio und Masern breiten sich wieder aus, weil das zuvor vorbildliche Impfprogramm Syriens infolge des Bürgerkriegs vollständig zusammengebrochen ist. Die Kinderrechtsorganisation „Save the Children“ berichtet von Neugeborenen, die wegen Stromausfällen in ihren Brutkästen stürben. Aufgrund fehlender Narkotika seien einige Patienten sogar bereits bewusstlos geschlagen worden, um überhaupt Operationen durchführen zu können.
In Deutschland sorgt sich die Regierung jedoch mehr darum, ob die wenigen syrischen Flüchtlinge, die man bereit ist aufzunehmen, auch deutsche Gesetze achten werden. Vor der Einreise müssen die zugelassenen Flüchtlinge daher in der libanesischen Hauptstadt Beirut erst einen „Kurs zur kulturellen Orientierung für Deutschland“ absolvieren.
Damit nicht genug, verschärfen die europäischen Regierungen regelmäßig die Flüchtlingsabwehr. Im Innenausschuss des Europaparlaments ist erst vor wenigen Wochen die neue „Seeaußengrenzenverordnung“ verabschiedet worden, die der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex weitreichende Befugnisse bei der Abdrängung und Zurückweisung von Flüchtlingsbooten gibt.
Danach dürfen Flüchtlingsboote innerhalb der 12-Meilen-Zone der EU-Staaten von der Küstenwache an der Weiterfahrt gehindert und auch zwangsweise Richtung Herkunftsland zurück transportiert werden. Mit der Verordnung wird einer der wichtigsten Grundsätze der Genfer-Flüchtlingskonvention unterlaufen, das sogenannte „Non-Refoulement-Prinzip“, nachdem Flüchtlinge nicht einfach abgewiesen werden können, sondern ein Recht auf Anhörung haben. Das Sterben auf dem Mittelmeer wird ungeachtet aufgebauschter Erfolgsmeldungen geretteter Flüchtlinge weitergehen.