Regieführung Brian Percival; Drehbuch Michael Petroni, nach einer Novelle von Markus Zusak
Am 9. November 1938 organisierte das Naziregime in Deutschland und Österreich die Novemberpogrome, jene Nacht der eingeschlagenen Fensterscheiben und brennenden Synagogen, die den Auftakt der staatlich sanktionierten Gewalt gegen Juden markierte, welche sich anschließend rasch steigerte und schließlich im Holocaust ihren Höhepunkt fand. Während des landesweiten Pogroms im November 1938 wurden jüdische Geschäfte und Synagogen in massenhafter Zahl zerstört. Etwa 30.000 deutsche Juden wurden in Konzentrationslager verbracht und Hunderte ermordet. 2013 jährte sich dieses furchtbare Ereignis zum 75. Mal.
Der Film des britischen Regisseurs Brian Parcival Die Bücherdiebin handelt von den Schrecken in der Zeit der Novemberpogrome und erinnert eindrücklich an den Einfluss der Gräueltaten der Nazis auf das Alltagsleben. Der Film konzentriert sich vor Allem auf den Versuch des Hitlerregimes, das kulturelle Erbe zu zerstören.
Ebenso wie im zugrunde liegenden Roman, dem internationalen Bestseller des australischen Autors Markus Zusak, tritt auch im Film der Tod selbst in der Rolle des Erzählers auf. (Ben Becker in der deutschen Synchronisation.) Schmatzend gesteht er in der Anfangszene des Films, dass ihm das Deutschland der 1930er und 1940er Jahre eine beschäftigungsreiche Zeit bot: „Ich mache es mir zur Aufgabe, die Lebenden zu meiden...nun, manchmal muss ich eine Ausnahme machen...wenn mein Interesse geweckt wird... Liesel Meminger fesselte mich...und ich sorgte mich um sie.“
Die jugendliche Liesel (Sophie Nélisse) verreist per Bahn mit ihrer Mutter und dem jüngeren Bruder, der krank wird und auf der Reise stirbt. Die Absicht der Reise ist es, die Kinder in Pflege zu geben, weil ihre Mutter, die Kommunistin ist, fortgeschickt wird ohne zu wissen, was sie erwartet. Am Grab ihres Bruders lässt Liesel ein Buch mitgehen, Das Handbuch für Totengräber. Das lese- und schreibschwache Mädchen empfindet dies als echten Schatz.
Liesels Pflegeeltern sind die bettelarmen Hubermanns – Hans (Geoffrey Rush) und Rosa (Emily Watson), die in einer von der Arbeiterklasse geprägten Kleinstadt wohnen. Der sanftmütige Hans, ein Maler, der finanzielle Einbußen erleidet, weil er sich weigert der Nazipartei beizutreten, empfindet sofort eine enge Verbundenheit mit dem traumatisierten Mädchen, während Rosa anfangs nur an dem Geld interessiert scheint, das sie für die Betreuung Liesels bekommt.
Liesel, die von einem Rüpel in der Schule wegen ihrer Leseschwäche drangsaliert wird, schafft es mit der Hilfe von Hans ihre Schwäche schnell zu überwinden. Die feuchten Kellerwände im Haus der Hubermanns dienen dabei als Schultafel. Das Handbuch des Totengräbers ist das einzig verfügbare Lesematerial. Als es Liesel gelingt, das Buch zu meistern, führt das bei ihr nichtsdestoweniger zu einen unstillbaren Leseeifer. Zur gleichen Zeit entwickelt sie eine enge Freundschaft mit Rudy Steiner (Nico Liersch), einem Nachbarsjungen und Klassenkameraden. Er ist ein liebenswürdiger, schlacksiger Sportler, dessen Idol der afro-amerikanische Sprinterstar Jesse Owens ist, der bei der Olympiade in Berlin 1936 vier Goldmedaillen gewann. Aus Begeisterung für Owens malt sich Rudy schwarz an, was ihm rassistischen Hohn und Beschimpfungen einbringt.
Die entsetzte Liesel wird gezwungen, an einer von den örtlichen Nazis organisierten Bücherverbrennung („Das Ende des Kommunismus und der Juden“) teilzunehmen. Als das Feuer abgebrannt ist und die Menge sich zerstreut, rettet Liesel ein halb verbranntes Buch und wird dabei von der Frau des Bürgermeisters, Ilsa Hermann (Barbara Auer), beobachtet, bei der Rosa als Waschfrau arbeitet. In der Villa der Hermanns gibt es eine große Bibliothek, die der vor Kurzem verstorbene und immer noch betrauerte Sohn von Ilsa aufgebaut hat. Als ihr Liesel eines Tages Wäsche ausliefert, führt Ilsa sie in die Bibliothek. Das Mädchen verbringt danach viele wunderbare Nachmittage in der Bibliothek, wo sie die Bücher verschlingt. Ilsa findet in dem Mädchen etwas von ihren toten Sohn wieder, doch ihr intoleranter Ehemann, der führende Nazi im Dorf, wirft Liesel hinaus und bringt die Hubermanns um eine dringend benötigte Einnahmequelle.
Als die Angriffe auf die Juden intensiviert werden, sucht ein junger erkrankter jüdischer Flüchtling namens Max (Ben Schnetzer) Schutz bei den Hubermanns. Der Vater des Jungen rettete Hans im Ersten Weltkrieg das Leben und überließ ihm ein altes Akkordeon, das Hans oft zur Entspannung spielt. Hans nimmt Max auf, obwohl große Gefahren damit verbunden sind und ein zusätzlicher Esser eine Belastung bedeutet. Liesel und Max entwickeln eine enge Bindung, sie kümmert sich um den dem Tod Entronnenen und liest ihm Bücher vor, die sie heimlich aus der Bibliothek der Hermanns „ausleiht“. (Max: „Der einzige Unterschied zwischen uns und einem Klumpen Lehm ist das Leben – Worte sind Leben.“)
Als Rudy die Wahrheit über Liesels Diebeszüge erfährt, schließen die beiden einen jugendlichen Anti-Hitler-Pakt. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges bringt viel Kummer und Leid über die Hubermanns und ihren Familienanhang, doch die Bücher, die Liesel mitbringt, helfen ihnen, ihre geistigen Kräfte zu bewahren.
Mithilfe der bewegenden Darbietungen von Rush und Watson erlangt die Geschichte über die Verbrechen in Nazi-Deutschland, das Die Bücherdiebinerzählt, eine angemessene Darstellung. Nélisse spielt ihre Rolle der Liesel außergewöhnlich überzeugend. Die junge Protagonistin erhält dabei Unterstützung von einem energischen Partner Rudy und einem würdigen Mentor Max. Die sentimentale Erzählweise von John Williams begleitet eine Handlung, der es etwas an Tiefe fehlt. Die bemerkenswert klaren Bilder drücken indessen ein hohes Niveau an Sorgfalt und an Engagement seitens der Filmemacher aus. Fühlbar wird dies beispielsweise im scharfen Kontrast zwischen Liesels und Rudys unschuldigen, beinahe engelsgleichen Gesichtern und den abscheulichen Hitlerjugenduniformen, die sie tragen müssen.
Der lobenswerte Hauptgegenstand des Films ist die Notwendigkeit, die Kultur zu verteidigen – ein in der gegenwärtigen politischen Situation äußerst dringliches Thema. Insgesamt ist jedoch, was die Sensibilisierung der Bevölkerung für die Gefahren autoritärer Herrschaftsformen und des Faschismus betrifft, der Wert der Bücherdiebin lediglich darauf begrenzt, ganz allgemein Humanität und Mitgefühl zu propagieren. Außerdem gibt der Film nur äußerst vage Antworten auf die Frage nach den Gründen für die Bücherverbrennungen der Nazis.
Hitler prahlte einst: „Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. (…) So merze ich die Tausende von Jahren der menschlichen Domestikation aus. (…) So kann ich das Neue schaffen.” [vgl. Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler, Zürich–Wien–New York 1940, S. 237]
Der Film zeigt zwar auf, dass Kultur das Gegenmittel zu dieser barbarischen Haltung ist. Aber wie war es möglich, dass eine Gruppe von Kriminellen in einer der weltweit führenden Kulturnationen die Macht ergriff und beispiellose Verbrechen beging? Insbesondere in der Gegenwart ist es für Künstler und Filmproduzenten schwer, das Verhalten der unterschiedlichen sozialen und politischen Tendenzen und den daraus folgenden Konsequenzen verstehbar zu gestalten.
Wie viele Filmemacher in Deutschland und anderswo wissen von den revolutionären Möglichkeiten, die es in Deutschland in den Jahren zwischen 1918 und 1933 gab? Und davon, dass ihr Verrat und ihre Niederlagen Hitlers Bewegung Tür und Tor öffneten? Einige Male wird der „Kommunismus“ in der Bücherdiebin als Erzfeind des Faschismus erwähnt, aber die Filmemacher machen keinen Versuch, eine Verbindung zwischen dem Aufstieg des Faschismus und der unlösbaren Krise des deutschen Kapitalismus herzustellen. Der Angriff der Nazis auf Bücher und Kultur war Bestandteil ihres Angriffs auf sozialistisches Bewusstsein und auf die Arbeiterklasse. Damals wie heute betrachtete die Reaktion Kultur und Wissen ganz richtig als eine Gefahr für die eigenen Machenschaften.
In seinem brillanten Artikel „Porträt des Nationalsozialismus?“ von 1933 schrieb Trotzki, dessen Bücher sich unter den verbrannten des Jahres 1933 befanden: „Die Scheiterhaufen, auf denen die verruchten Schriften des Marxismus brennen, werfen ein helles Licht auf die Klassennatur des Nationalsozialismus. “ Und er fügte hinzu, dass die besondere politische Kunst der Nazis darin bestand „das Kleinbürgertum durch Feindseligkeit gegen das Proletariat zusammenzuschweißen.“ Und weiter: „All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden mußte, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus.“ [vgl. Leo Trotzki: Porträt des Nationalsozialismus, Arbeiterpresse, Essen 1999, S. 303; S. 307]
Fünf Jahre später verfassten Trotzki, André Breton und Diego Rivera einen Aufruf, der so begann: „Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß die menschliche Kultur noch nie von so vielen Gefahren bedroht worden ist wie heute. Die Vandalen zerstörten mit ihren barbarischen, d. h. sehr unbeständigen Mitteln die antike Kultur in einem begrenzten Teil Europas. Heute zittert die Kultur der ganzen Welt in ihrem gemeinsamen historischen Schicksal unter der Bedrohung reaktionärer, mit der ganzen modernen Technik bewaffneter Kräfte.“ [vgl. Leo Trotzki: Literaturtheorie und Kritik, UTB, Wilhelm Fink Verlag, München 1973, S. 154]
Mit welchem Bewusstseinsgrad dies auch immer geschah, so scheint es doch, als reagierten die Produzenten von Die Bücherdiebin mit der Verfilmung des „Bücherholocaust“ der Nazis auf die gegenwärtige Zensur und die Angriffe auf die Kultur. Von seiner verdienstvollsten Seite zeigt sich der Films da, wo er das Vermächtnis von Menschen wie des Dichters John Milton vorbringt, dessen Bücher in England und Frankreich öffentlich verbrannt wurden und der 1644 schrieb: „Jeder der einen Menschen tötet, tötet ein vernunftbegabtes Wesen, ein Ebenbild Gottes; aber derjenige der ein gutes Buch zerstört, tötet die Vernunft selbst.“ Der bedeutende deutsche Poet und Freund von Karl Marx, Heinrich Heine, schrieb in seinem Schauspiel Almansor von 1821: „Dort wo man Bücher verbrennt, // verbrennt man auch am Ende Menschen.“ [Vers 243f]
In seiner Einleitung zu der Ausgabe von 1967 von Fahrenheit 451 (um ein jüngeres Beispiel zu zitieren) erinnerte der Science-Fiction-Autor Ray Bradbury an die Naziaktionen: „Mein Essen, Trinken und Schlafen bestand aus Büchern...Wenn in der Folgezeit Hitler ein Buch verbrannte, empfand ich das so, verzeihen sie mir bitte, als ob er einen Menschen verbrannte, denn auf Dauer sind diese ein Leib und eine Seele. Wenn Geist oder Körper in den Ofen gesteckt werden ist das eine Sünde, daran hielt ich immer fest.“