Seit dem Rücktritt von Landwirtschaftsminister Hans-Peter Friedrich (CSU) am 14. Februar dreht sich die Affäre um den ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy um die Frage, wer wem was gesagt und dabei möglicherweise Dienstgeheimnisse verletzt hat.
Friedrich, damals noch Innenminister, hatte den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel im Oktober 2013 darauf aufmerksam gemacht, dass gegen Edathy wegen des Verdachts der Kinderpornografie ermittelt werde. Gabriel reichte diese Information an andere SPD-Vertreter weiter und warnte damit möglicherweise auch Edathy. Als die Sache ruchbar wurde und der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Thomas Oppermann öffentlich bekannt gab, dass Friedrich Gabriel informiert hatte, musste Friedrich zurücktreten. In der Großen Koalition hat dies eine schwere Krise ausgelöst. Die CSU beschuldigt die SPD des Vertrauensbruchs und fordert den Rücktritt Oppermanns.
Durch die gegenseitigen Beschuldigungen und die Koalitionskrise ist eine viel wichtigere Frage aus dem Blickfeld geraten: Sebastian Edathy hatte von Januar 2012 bis zum Herbst 2013 den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags geleitet und war dabei mehrmals mit führenden Vertretern der Sicherheitsbehörden aneinander geraten. Nun ist seine politische Karriere und sein persönlicher Ruf durch Indiskretionen aus demselben Sicherheitsapparat zerstört worden, obwohl er sich – nach allem, was bisher bekannt ist – keiner Gesetzeswidrigkeit schuldig gemacht hat.
Wie mittlerweile bekannt ist, wussten zahlreiche Ermittler, Staatsanwälte und Politiker auf Bundes- und Landesebene über den Verdacht gegen Edathy Bescheid. Edathy selbst engagierte im November einen Anwalt, der sich erkundigte, ob Ermittlungen gegen ihn laufen. Obwohl er für ein Regierungsamt im Gespräch war, ging er bei den Koalitionsverhandlungen über die neue Bundesregierung Ende des Jahres leer aus.
Am 8. Februar legte Edathy dann „aus gesundheitlichen Gründen“ sein Bundestagsmandat nieder. Zwei Tage später durchsuchte die Staatsanwaltschaft seine Privatwohnungen und Büroräume in Niedersachsen und Berlin. Eine Lokalzeitung fotografierte die Durchsuchung und machte den Verdacht auf Kinderpornografie öffentlich.
Am 14. Februar veröffentlichte die Staatsanwaltschaft Hannover – dieselbe, die auch den Prozess gegen Ex-Bundespräsident Christian Wulff führt – auf einer Pressekonferenz detaillierte Informationen darüber, dass Edathy Bilder und Filme unbekleideter Jungen über einen kanadischen Internetversand bezogen hat. Das Material befinde sich im „Grenzbereich zu dem, was die Justiz unter Kinderpornografie versteht“, behauptete der Leiter der Anklagebehörde Jörg Fröhlich. Er musste allerdings eingestehen, dass die Ausbeute der Durchsuchungen „bisher eher mager“ sei und das Bundeskriminalamt (BKA) das beschlagnahmte Bildmaterial als „nicht indiziert“ eingestuft habe.
Edathy bestreitet zwar nicht, dass er die Filme bezogen hat, beharrt aber darauf, dass sie legal und damit seine private Angelegenheit sind. Er hat gegen die Staatsanwaltschaft Dienstaufsichtsbeschwerde erhoben, weil sie die Presse darüber informiert hat.
Auch Rechtsexperten kritisieren das Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Die Rechtsprofessorin Monika Frommel bezeichnet die Durchsuchung von Büros und Privaträumen ohne hinreichenden Anfangsverdacht als „grundrechtswidrige Beweisermittlungsdurchsuchungen“. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. Die Hausdurchsuchungen ohne hinreichenden Verdacht auf eine Straftat seien „hochproblematisch“ und „rechts- und verfassungswidrig“. Es handle sich um „verbotene Ermittlungen ins Blaue hinein“.
Edathys Ruf und politische Karriere sind durch die Veröffentlichung des Verdachts erledigt. Die SPD hat ihn fallen gelassen und ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn eingeleitet, obwohl er bisher weder angeklagt noch einer Gesetzesverletzung überführt ist. Politik und Medien begleiten den Skandal mit einer Kampagne für schärfere Gesetze gegen den Handel mit Nacktbildern von Kindern und Jugendlichen.
Nicht thematisiert wird dagegen der Zusammenhang zwischen Edathys Rolle im NSU-Untersuchungsausschuss und seinem abrupten Fall. Dabei war der Ausschuss während seiner 15-monatigen Tätigkeit mit einer systematischen Blockadehaltung der Behörden konfrontiert. Akten wurden geschreddert, geschwärzt oder zurückgehalten. Zeugen mauerten, wurden spontan krank, erhielten von ihren politischen Vorgesetzten keine Aussagegenehmigung oder behandelten den Ausschuss und seinen Vorsitzenden mit unübersehbarer Arroganz.
Die zentrale Frage, wie es möglich war, dass eine rechte Terrorgruppe unter den Augen staatlicher Sicherheitsbehörden, mit deren Duldung und zumindest indirekten Unterstützung jahrelang rassistische Morde an Migranten verüben konnte, beantwortete der Ausschuss zwar nicht. Er blieb bei der offiziellen Linie, dies sei auf „Pannen“ und „Versagen“ zurückzuführen. Aber Edathy bescheinigte der Polizei und den Nachrichtendiensten, sie hätten vorurteilsbeladen und mit Scheuklappen gegen die NSU-Terrorzelle ermittelt, und sprach von einem „multiplen“ und „historisch beispiellosen“ Versagen der Sicherheitsbehörden.
Im Untersuchungsausschuss wurde deutlich, dass der Sicherheitsapparat wie ein selbstherrlicher Staat im Staat fungiert, der sich jegliche parlamentarischen Kontrolle widersetzt.
Mittlerweile ist bekannt, dass das Bundesamt (BfV) und die Landesämter für Verfassungsschutz (LfV), der Militärische Abschirmdienst (MAD) und das Berliner Landeskriminalamt (LKA) mindestens 24 V-Leute im direkten Umfeld des NSU platziert hatten.
Das rechte Netzwerk „Thüringischer Heimatschutz“ (THS), aus dem die Terrorgruppe um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in den neunziger Jahren hervorging, wurde von Tino Brandt, einem Informanten des Verfassungsschutzes aufgebaut und vom thüringischen Landesamt für Verfassungsschutz mit sechsstelligen DM-Beträgen finanziert.
Ob es eine direkte Verbindung zwischen dem Mord-Trio und dem Verfassungsschutz gab, wird zwar nach wie vor geheim gehalten. Bekannt ist aber, dass der Militärische Abschirmdienst (MAD) Anfang 1995 versucht hatte, Uwe Mundlos als Mitarbeiter und Informant zu gewinnen. Auch „Beate Zschäpe soll sehr wohl für den Geheimdienst in Thüringen gearbeitet haben“, schrieb im November 2011 Focus Online unter Berufung auf die Leipziger Volkszeitung. Der Hinweis stamme vom Landeskriminalamt Thüringen.
Im November 1997 observierte der Thüringer Verfassungsschutz Mundlos und Böhnhardt beim Kauf möglicher Bombenbauteile. Zwei Monate später durchsuchte die Polizei eine von Beate Zschäpe gemietete Garage und fand eine Bombenwerkstatt mit vier funktionsfähigen Rohrbomben. Uwe Böhnhardt war anwesend und konnte sich ungehindert entfernen.
Später wurde bekannt, dass der Sprengstoff für die Rohrbomben, etwa 1,4 Kilogramm TNT, von Thomas Starke besorgt worden war, einem früheren Freund von Beate Zschäpe. Starke war V-Mann des Berliner Landeskriminalamts.
Die Verstrickung des Geheimdiensts in die rechtsterroristische Mordserie geht so weit, dass beim Mord an dem 21-jährigen Halit Yozgat im April 2006 in einem Kasseler Internetcafé ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes während der Tatzeit anwesend war und – laut Wikipedia – das Internetcafé nur wenige Sekunden nach dem Mord verließ.
Völlig unaufgeklärt ist nach wie vor der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter im April 2007 in Heilbronn. Er passt nicht ins Bild der anderen, rassistisch motivierten Morde. Auffällig ist auch, dass die Mordserie damals ein abruptes Ende nahm. Im Umfeld der getöteten Polizistin arbeiteten auch zwei Polizeibeamte, die einige Jahre dem deutschen Ableger des rassistischen Ku-Klux-Klan (KKK) angehörten. Einer der beiden war sogar Gruppenführer der Einheit von Kiesewetter.
Als diese Fragen im Untersuchungsausschuss aufkamen, wies Sebastian Edathy darauf hin, dass die Ku-Klux-Klan-Organisation zur Hälfte aus V-Leuten der Geheimdienste bestand. Zu ihnen gehörte auch Thomas Richter, alias „Corelli“, der mehr als zehn Jahre lang als V-Mann für den Bundesverfassungsschutz arbeitete. Erst als Edathy mit einer Anordnung des Bundesverfassungsgerichts drohte, waren die Vertreter der Geheimdienste bereit, den Parlamentariern einige, in weiten Teilen geschwärzte Unterlagen über „Corelli“ zur Verfügung zu stellen.
Im September vergangenen Jahres meldete sich ein 21-jähriger Zeuge, der angab, er habe wichtige Informationen über den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Er wurde am Tag seiner geplanten Vernehmung in seinem Auto tot aufgefunden. Trotz des Widerspruchs seiner Mutter wurde sein Tod als Selbstmord eingestuft und die Ermittlungen nach wenigen Tagen eingestellt.
Besonders heftig geriet Edathy mit Klaus-Dieter Fritsche (CSU) aneinander, als dieser im Untersuchungsausschuss vernommen wurde. Fritsche war knapp zehn Jahre lang Vizepräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, anschließend Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt und ab 2009 beamteter Staatssekretär im Bundesinnenministerium.
Unter der Überschrift „Ex-Verfassungsschützer sorgt für Eklat“ berichtete der Stern, Ex-Verfassungsschützer Fritsche habe sich mit harscher Kritik gegen den Ausschuss gewandt und sich geweigert, Fragen zu beantworten. Edathy habe die Sitzung unterbrochen, nachdem Fritsche Kritik an der Arbeit der Sicherheitsbehörden mit scharfen Worten zurückgewiesen und Zwischenfragen von Abgeordneten abgelehnt habe. „Es gibt Grenzen dessen, was man hier hinnehmen muss“, habe Edathy kommentiert.
Edathys Frage, ob er es für legitim halte, dem Untersuchungsausschuss die Tätigkeit von V-Leuten im Umfeld der NSU zu verschweigen, beantwortet Frische mit „Ja“. Das Staatswohl sei wichtiger als parlamentarische Aufklärung.
Es ist nicht bekannt, ob die Geheimdienste bereits zum damaligen Zeitpunkt, im Oktober 2012, über den Verdacht gegen Edathy Bescheid wussten. Fakt ist aber, dass der Präsident des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, im Oktober 2013 Klaus-Dieter Fritsche als Staatssekretär im Innenministerium darüber informierte.
Das leitete Edathys Absturz ein, während Fritsche, der immer wieder im Zusammenhang mit Vertuschungsmaßnahmen und Aktenvernichtung genannt wurde, aufstieg. Er ist jetzt im Bundeskanzleramt als Staatssekretär für alle Geheimdienste zuständig.
Auch der Nachfolger von Friedrich im Landwirtschaftministerium, Christian Schmidt (CSU), ist ein Vertrauter Fritsches. Er hatte nie etwas mit Landwirtschaft zu tun, war aber viele Jahre Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Das Gewicht von Vertretern des Sicherheitsapparats – von Militär und Geheimdiensten – im Kabinett nimmt damit erheblich zu. Edathys Schicksal dient auch als Einschüchterung und Warnung an alle, die es wagen, deren Einfluss auch nur ansatzweise in Frage zu stellen.