Der ehemalige australische Premierminister Kevin Rudd warnte vor einem Jahr in einem Artikel in Foreign Policy: "In Ostasien herrschen zurzeit keine normalen Verhältnisse. Aufgrund der Spannungen durch Konflikte über Territorialansprüche im Ost- und Südchinesischen Meer ähnelt die Lage in den Gewässern der Region zunehmend der auf dem Balkan vor hundert Jahren: es ist ein Pulverfass im Meer."
Ein Jahr später, während der hundertste Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges näher rückt, hat sich die Gefahr einer weiteren globalen Katastrophe in Asien nicht etwa verringert, sondern ist noch akuter geworden. Keines der homöopathischen diplomatischen Beruhigungsmittel, die Rudd in seinem Essay vorgeschlagen hatte, wurde angewandt. Die Spannungen, auf die er hinwies – besonders die zwischen China und Japan – haben sich deutlich verschärft. Vor allem die "Schwerpunktverlagerung auf Asien" der Obama-Regierung, deren Ziel es ist, China diplomatisch, wirtschaftlich und militärisch zu schwächen, hat das asiatische Pulverfass näher an den Rand der Explosion gebracht.
Die Beziehungen zwischen Tokio und Peking sind beinahe völlig zusammengebrochen, nachdem die rechte japanische Regierung von Shinzo Abe auf Washingtons Ermutigungen hin die Remilitarisierung aufgenommen und zum ersten Mal seit zehn Jahren die Militärausgaben erhöht hat. Letzten Monat hatte Abe den berüchtigten Yasukuni-Schrein besucht, worauf der chinesische Botschafter in den USA am 10. Januar in der Washington Post erklärte, Abe setze "die Beziehungen mit China" aufs Spiel, indem er Kriegsverbrechern seine Ehre erweise.
Die wachsenden Spannungen um die umstrittenen Inseln im Ostchinesischen Meer erreichten letzten Monat einen gefährlichen Punkt, als China die Einrichtung einer Luftverteidigungsidentifikationszone in dem Gebiet verkündete. Die USA provozierten Chinas Autorität sofort, indem sie unangekündigt atomwaffenfähige B52-Bomber durch die Zone fliegen ließen. Sie nahmen damit die Gefahr eines Zusammenstoßes in Kauf, den schon ein Fehler oder eine Fehleinschätzung hätte auslösen können. Tokio verschärfte die Situation noch weiter, indem es ankündigte, 280 Inseln vor seiner Küste zu staatlichem Eigentum zu erklären. Im September 2012 hatte Japan entschieden, die Senkaku/Diaoyu-Inseln zu verstaatlichen. Dies verschärfte die Territorialstreitigkeiten mit China erheblich.
Südostasien ist zu einem diplomatischen Schlachtfeld geworden, auf dem die USA, Japan und Indien mit China um Einfluss ringen. Abe legte Wert darauf, jeden einzelnen Mitgliedsstaat des Verbandes Südostasiatischer Nationen (ASEAN) zu besuchen. Präsident Obama konnte dieses Jahr zwar nicht am ASEAN-Gipfel teilnehmen. Dennoch nutzten Vertreter der US-Regierung die Streitigkeiten um Seegebiete im Südchinesischen Meer wieder einmal aus, um einen Keil zwischen China und seine Nachbarn zu treiben. Erst vergangene Woche mischten sich die USA in Streitigkeiten im Südchinesischen Meer ein und unterstützten Vietnam und die Philippinen, indem sie die vor kurzem angekündigten chinesischen Fischereibestimmungen als "provokant und potenziell gefährlich" bezeichneten.
Rudd erwähnte zwar in seinem Essay nicht die koreanische Halbinsel, aber diese bleibt nach wie vor ein gefährlicher potenzieller Brandherd. Letzten April erreichte die Kriegsgefahr einen Höhepunkt, als das nordkoreanische Regime auf neue, von den USA betriebene Sanktionen mit kriegerischen, aber weitgehend leeren Drohungen reagierte. Anstatt die Spannungen zu entschärfen, unternahmen die USA eine Reihe von einschüchternden Schritten wie zum Beispiel die Entsendung von B52- und B2-Bombern nach Südkorea, um Pjöngjang zum Einlenken zu zwingen oder einen Krieg zu riskieren.
Die blutige Säuberung im letzten Monat hat erneut gezeigt, dass Washingtons unnachgiebige Isolation Nordkoreas das Regime destabilisiert und das Land an den Rand des Zusammenbruchs bringt. Diese rücksichtslose Politik hat unvorhersehbare und gefährliche Folgen in einer strategischen Region der Welt, in der sich die Interessen Chinas, Russlands, Japans und der USA überschneiden.
Die treibende Kraft hinter dem Anwachsen der Kriegsgefahr ist die immer schärfere weltweite Krise des Kapitalismus. Fünf Jahre nach dem Zusammenbruch von 2008-09 ist die Weltwirtschaft noch immer in der Rezession, und die Politik der quantitativen Lockerung hat die Bedingungen für eine neue Finanzkrise geschaffen. Der Weltkapitalismus bleibt in den gleichen grundlegenden Widersprüchen gefangen, die auch zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führten: Das ist der Widerspruch zwischen dem Privateigentum an den Produktionsmitteln und der Vergesellschaftung der Produktion, sowie der Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem veralteten Nationalstaatensystem.
An der "Schwerpunktverlagerung" der Obama-Regierung zeigt sich der Aufstieg Asiens, vor allem Chinas als wichtigstem Billiglohnland der globalisierten Produktion, innerhalb der letzten dreißig Jahre. Die Kommentatoren, die behaupten, die enge internationale Wirtschaftsintegration mache Kriege unmöglich, ignorieren die Tatsache, dass diese Integration auch die geopolitischen Rivalitäten deutlich verschärft hat.
Der explosivste Faktor in der Weltpolitik ist der Versuch des US-Imperialismus, seinen relativen Niedergang durch den Einsatz militärischer Stärke auszugleichen. Die "Schwerpunktverlagerung" zielt vor allem darauf ab, die Vorherrschaft der USA über die asiatischen Wirtschaftsmächte zu sichern, um nicht nur China, sondern auch seinen europäischen und asiatischen Rivalen die Bedingungen zu diktieren. Wenn China das wichtigste Ziel ist, dann nicht, weil China eine imperialistische Macht wie das Deutsche Reich zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geworden wäre, sondern wegen seiner schnellen wirtschaftlich Expansion und seinem Bedarf an Treibstoff und Rohstoffen. Dadurch stört China eine fest etablierte imperialistische Ordnung, die bisher von den USA dominiert wurde.
Die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton rechtfertigte im Jahr 2011 die übergeordnete Bedeutung der "Schwerpunktverlagerung" für den amerikanischen Imperialismus. Sie erklärte in Foreign Policy, der asiatische Pazifik sei einer der wichtigsten Faktoren der Weltpolitik geworden. Sie betonte, genauso, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg der Einsatz der USA für den Aufbau eines umfassenden und dauerhaften transatlantischen Netzes von Institutionen immer wieder ausgezahlt habe, sei es für die USA jetzt Zeit, sich auf ähnliche Weise als Macht im Pazifik zu engagieren. Mit anderen Worten, die Aufrechterhaltung der amerikanischen Vorherrschaft in Asien ist heute für den US-Imperialismus genauso wichtig wie vor einem halben Jahrhundert das amerikanische Engagement in Europa, als die USA nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshall-Plan auflegten.
Hinter der amerikanischen Diplomatie und den wirtschaftlichen Initiativen in Asien verbergen sich ein schneller Aufbau der Truppen und eine Umgliederung von US-Truppen und Stützpunkten als Vorbereitung auf einen Krieg gegen China. In den letzten vier Jahren hat die amerikanische Schwerpunktverlagerung die Bündnisse und strategischen Partnerschaften in ganz Asien gestärkt. Vor allem in Japan, Australien und Indien wurden wichtige Stützen eines Blocks gegen China errichtet. Um die Schlinge um China enger zu ziehen, hat die Obama-Regierung auch ihre wichtigsten Verbündeten dazu ermutigt, enge militärische Beziehungen miteinander zu knüpfen. Damit lässt sie den Ambitionen des japanischen Imperialismus freie Hand, und dieser beginnt seine eigene diplomatische Kampagne. Dies hat vor kurzem die Form angenommen, dass der japanische Verteidigungsminister Indien und Frankreich besuchte, um engere strategische Beziehungen zu knüpfen.
Die komplexen diplomatischen Machenschaften, geheimen Abkommen und militärischen Arrangements des frühen 21. Jahrhunderts ähneln auf unheimliche Weise denen des frühen 20. Jahrhunderts. Während Spannungen und Rivalitäten weiterhin zunehmen, besteht die große Gefahr darin, dass eine Fehlentscheidung eines japanischen oder chinesischen Piloten im Ostchinesischen Meer oder ein kleiner Zwischenfall an der Grenze zwischen den beiden koreanischen Staaten zu Zusammenstößen führen könnte, die schnell die ganze Welt in eine noch größere Katastrophe stürzen als vor einem Jahrhundert.
Die einzige gesellschaftliche Kraft, die die Kriegsgefahr aufhalten kann, ist die internationale Arbeiterklasse. Die Arbeiter in China, den USA, Japan und ganz Asien und der Welt haben ein gemeinsames Klasseninteresse daran, den Kapitalismus und sein veraltetes System der Nationalstaaten zu beenden und eine weltweite sozialistische Planwirtschaft aufzubauen, um statt dem massiven Profitstreben einer winzigen Finanzoligarchie die drängenden sozialen Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen.