Am Freitag wurden mindestens vier Arbeiter getötet, als kambodschanische Militärpolizisten das Feuer auf streikende Arbeiter eröffneten. Die Arbeiter verbarrikadierten die Straße zum Industriegebiet Canadia in den südlichen Vororten der Hauptstadt Phnom Penh. Seit dem 24. Dezember streiken zehntausende Textilarbeiter im ganzen Land für höhere Löhne.
Die Menschenrechtsorganisation LICADHO bezeichnete den Vorfall als "schrecklich" und erklärte, laut ihrer eigenen Untersuchung seien vier Menschen getötet und einundzwanzig verletzt worden. Der Direktor der Gruppe, Naly Pilorge, verurteilte "den erschreckenden Einsatz extremer tödlicher Gewalt durch die Sicherheitskräfte" und forderte, der Einsatz von scharfer Munition gegen Zivilisten müsse sofort beendet werden.
Ein Arbeiter namens Yean Sothear, der Kopfverletzungen erlitten hatte, sagte der Phnom Penh Post: "Die Arbeiter wollen keine Gewalt. Wir wollten nur die Straße sperren. (...) Die Polizei hat uns angegriffen und auf uns geschossen. Die meisten Arbeiter wurden verletzt. Mein Freund ging ins nächstgelegene Krankenhaus, aber die Polizei hatte das Krankenhaus angewiesen, keine Arbeiter zu behandeln. Deshalb sind wir so wütend."
Bis Freitagabend wurden mindestens elf Arbeiter verhaftet.
Ein Beamter der Stadtpolizei, Chuon Narin, sprach von drei Toten und gab den Arbeitern die Schuld: Angeblich hätten sie Steine und Brandsätze auf die Polizisten geworfen. Der Einsatz automatischer Waffen war jedoch ein vorsätzlicher Versuch, die Arbeiter in Angst zu versetzen, nachdem die Regierung ihnen bis Donnerstag Zeit gegeben hatte, den Streik zu beenden.
Schon am Donnerstagnachmittag hatte die Polizei mehrere Arbeiter verhaftet. So wurden zum Beispiel in einem Werk des koreanischen Textilherstellers Yakjin zahlreiche Arbeiter, darunter viele Frauen, von Polizisten mit Schlagstöcken schwer verprügelt und weggeschleift. Obwohl fünfhundert Polizisten in Kampfausrüstung in dem Gebiet aufmarschiert waren, gingen die Proteste am Freitagmorgen weiter. In Yakjin wird Kleidung für die Einzelhändler Gap und Walmart hergestellt.
Der Sprecher der nationalen Militärpolizei Kheng Tito verteidigte das gewaltsame Vorgehen. "Wir tun nur unsere Arbeit. Wir machen uns Sorgen um die Sicherheitslage, deshalb müssen wir so hart durchgreifen. Wenn wir ihnen erlauben weiterzustreiken, wird er chaotisch und schwerer zu kontrollieren."
Die Regierung droht den Arbeitern und Gewerkschaften außerdem rechtliche Mittel an. Laut einem Regierungssprecher könnte den Gewerkschaften die Zulassung zeitweise oder dauerhaft entzogen und die Gewerkschaftsführer mit hohen Bußen belegt werden.
Die meisten der 500 kambodschanischen Textilfabriken, die amerikanische und europäische Einzelhändler beliefern, werden bestreikt. Die Arbeiterinnen streiken für eine Erhöhung ihres Monatslohnes von 80 auf 160 Dollar. Die Asia Floor Wage Alliance, eine Gruppierung von Gewerkschaften und Arbeitsrechtsaktivisten, schätzt, dass in Kambodscha ein Lohn von mindestens 283 Dollar nötig wäre, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Dabei steigen die Preise ständig, besonders für Mieten und Strom.
Die meisten der 400.000 Arbeiter der Textilindustrie – überwiegend Frauen – nehmen an dem Streik teil. Er ist in seiner Größe beispiellos. Er drückt die wachsende Wut über die niedrigen Löhne und erschreckenden Bedingungen aus, die von der Kambodschanischen Volkspartei (CPP) von Premierminister Hun Sen durchgesetzt werden. Von Januar bis November 2013 gab es offiziell 131 Streiks von Textilarbeitern, gegenüber 121 Streiks im Jahr 2012.
Vor einer Woche bot das Arbeitsministerium eine leichte Erhöhung eines früheren Angebotes an, das eine Erhöhung der Löhne um 25 Prozent auf 100 Dollar vorsah. Arbeitsminister Heng Sour warnte, es werde keine weiteren Verhandlungen geben, und forderte ein Ende des Streiks bis Donnerstag. Am Donnerstag begann die Regierung dann, Militär und Bereitschaftspolizei in Fabriken überall in der Hauptstadt in Stellung zu bringen.
Der Präsident der Demokratischen Gewerkschaftskoalition der kambodschanischen Textilarbeiter Ath Thorn bot an, die Verhandlungen fortzuführen und weitere Proteste abzusagen. "Wenn die Antwort jedoch Nein lautet, werden wir die Proteste fortsetzen", erklärte er.
Die Größe des Streiks und die Entschlossenheit der Arbeiter hat Hun Sens Regime erschüttert. Die Textilindustrie hat in den ersten elf Monaten des Jahres 2013 mehr als fünf Milliarden Dollar Umsatz gemacht, fast zweiundzwanzig Prozent mehr als im gleichen Zeitraum im Jahr 2012. Sie nimmt neben der Schuhproduktion einen zentralen Platz in der nationalen Wirtschaft ein.
Die Regierung wird von den Fabrikbesitzern unter Druck gesetzt, den Streik zu beenden. Cheath Khemera, ein Vertreter des Verbandes Kambodschanischer Textilhersteller (GMAC), erklärte in einem Interview mit Reuters, jede Fabrik verzeichne täglich Produktionsausfälle von 20.000 bis 30.000 Dollar. "Das hat ernste Auswirkungen auf die Industrie“, erklärte er.
Die GMAC schickte am Donnerstag einen Brief an die Regierung, in der sie im Auftrag ihrer Mitglieder um die Erlaubnis bat, wichtige Anlagen in andere Länder zu exportieren, da einige ihrer Mitglieder nicht mehr in der Lage seien, in Kambodscha zu operieren. Daran zeigt sich, wie hart der Wettbewerb um Kostensenkung ist, der die Arbeiter in Kambodscha jenen in anderen Billiglohnländern in Asien und weltweit gegenüberstellt.
Die oppositionelle Partei zur Rettung der Nation Kambodscha (CNRP), die von Sam Rainsy geführt wird, hat sich auf die Seite der Streikenden gestellt, um damit ihre Forderung nach dem Rücktritt von Hun Sen durchzusetzen. Gegen die Regierung der Kambodschanischen Volkspartei gibt es breiten Widerstand, deshalb konnte die CNRP die Zahl ihrer Sitze auf 55 erhöhen, während die CPP über 68 Sitze verfügt. Rainsy hat der Regierung vorgeworfen, sie habe das Wahlergebnis gefälscht, und fordert eine internationale Untersuchung und Neuwahlen.
Die CNRP boykottiert das Parlament und schafft damit eine politische Pattsituation. Die Opposition hat ein geplantes Treffen mit der Regierung kurzfristig abgesagt, um von dem Streik zu profitieren. Sie plant für den 5. Januar eine weitere Protestveranstaltung.
Der rechte Populist Rainsy hat angeboten, die Forderungen der Textilarbeiter nach einem Monatslohn von 160 Dollar zu erfüllen. Er verurteilte die Gewalt und besuchte verletzte Arbeiter im Krankenhaus. Er sagte: "Die CNRP wird tun, was sie kann, um Solidarität mit den Arbeitern zu zeigen. Am 5. Januar werden mehr Menschen an den Protesten teilnehmen als je zuvor."
In Wirklichkeit gibt es jedoch keinen grundlegenden Unterschied zwischen der Politik der Opposition und der von Hun Sen. Beide wollen, dass Kambodscha ein Billiglohnland bleibt. Auch die CNRP würde ihre Versprechen schnell fallen lassen, wenn sie an die Macht käme. Die CNRP will genau wie die CPP die Wirtschaft weiter für ausländische Investitionen öffnen.
Bei der Pattsituation nach der Wahl stehen sich rivalisierende Teile der herrschenden Elite Kambodschas gegenüber: der prowestliche Rainsy orientiert sich an Washington, während Hun Sen eher zu China tendiert. Beide Fraktionen lehnen eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse vollkommen ab und würden nicht zögern, zusammenzuarbeiten, um eine ernsthafte Bedrohung für Investitionen und Gewinne zu unterdrücken.