Der Wirtschaftswissenschaftler Muhammad Yunus, Sohn armer bengalesischer Bauern im heutigen Bangladesch, gilt als „Pionier“ auf dem Feld der Mikrofinanzen. 2013 jährt sich die Gründung seiner Grameen Bank zum 30. Mal, für die der Wirtschaftswissenschaftler 2006 sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war.
Schon damals gab es Kritik an dem Mikrokreditwesen. Nun zeigt ein aktueller Artikel von Philip Mader in der Zeitschrift Max-Planck-Forschung (Heft 3/2013), die vom gleichnamigen Institut herausgegeben wird, dass das Mikrofinanzwesen rasant wächst, den Kapitalgebern traumhafte Renditen beschert und den Armen der Welt Tod und Verderben bringt.
„Mikrokredite machen jene Tätigkeiten, die arme Menschen im globalen Süden verrichten, um zu überleben, für Finanzmärkte und Finanzmarktakteure zugänglich und […] profitabel“, schreibt der Wissenschaftler Philip Mader vom Max-Planck-Institut in Köln unter der Überschrift „Scheitern auf Raten“.
Bei der Gründung der Grameen Bank 1983 wandte Yunus das in Deutschland entstandene Konzept der Genossenschaftsbanken an, um die Bevölkerung mit Hilfe von Kleinstkrediten zu Kleinstunternehmern zu machen. Das bereits zweihundertjährige Kredo der „Hilfe zur Selbsthilfe“ erlaubt es, sich zu einer Gruppe zusammenzuschließen, mit der gemeinsam Kredite bis zu ein paar Hundert Euro aufgenommen werden können, bei Zinsen, die unter denen der etablierten Großbanken liegen. Die Gruppe soll dabei die pünktliche Abzahlung des Kredits kontrollieren, Druck auf den jeweiligen Säumigen ausüben usw.. Idealerweise soll dies zu erhöhten Erfolgschancen führen. Soweit die Theorie.
Yunus behauptet, „die Struktur des Kapitalismus“ müsse durch die Einführung von Sozialunternehmen „vervollständigt werden“. Der Zweck dieser Unternehmen soll nicht die Gewinnmaximierung sein, sondern die Lösung von sozialen und Umweltproblemen. „Wenn man die profit-maximierende Brille abnimmt und zur sozialen Brille greift, sieht man die Welt in einer anderen Perspektive“, meinte er.
Doch die Profitmaximierung ist ein zentraler Bestandteil der Grundstruktur des Kapitalismus, man könnte sagen, Teil seiner sozio-ökonomischen DNA.
Es war daher eine Frage der Zeit, bis die internationalen Banken das Modell von Yunus für sich entdeckten. Zahlreiche Kreditanstalten haben es dem Professor weltweit nachgemacht. Seitdem hat das Mikrofinanzwesen an Größe zugelegt. Lag der Umsatz 2001 noch bei 3 Milliarden US-Dollar weltweit, stieg er im Jahr 2010 auf 90 Milliarden an, verteilt auf 200 Millionen Schuldner. Der Erlös betrug im selben Jahr 19,6 Milliarden US-Dollar, was einer Profitrate von fast 22 Prozent entspricht. Der Gewinn entsprach beinahe dem gesamten Bruttoinlandsprodukt Afghanistans oder dem Dreifachen des Gewinns von VW im selben Jahr, bei einer Profitrate von 5 Prozent.
Konkurrenten der Grameen Bank erhoben durchschnittlich 27 % Zinsen, der Branchenführer, die mexikanische Compartamos Bank („Lass-uns-Teilen-Bank“), sogar bis zu 195 %. Seitdem sie 2007 an die Börse ging und einen Erlös von einer halben Milliarde Dollar einbrachte, versuchen sich auch große Bankhäuser wie die Deutsche Bank, die niederländische ABN-AMRO-Bank, Credit Suisse und die Citibank im rentablen Geschäft mit der Armut. Auch „Philanthropen“ wie Bill Gates und George Soros, beide Multimilliardäre, betätigen sich seit längerem als Investoren.
Es haben sich etliche Fonds gegründet, die Geldgebern saftige Renditen versprechen und aus Steueroasen heraus operieren; staatliche Entwicklungsbanken und „wohltätige“ Organisationen mischen ebenfalls mit. Einige Banken erreichen mehr als 90-prozentige Rückzahlungsraten, was bei Geschäfts- und Privatbanken kaum der Fall ist.
Diese Entwicklung ist nicht verwunderlich bei den Bedingungen, die den Schuldnern auferlegt werden. Die Ratenzahlungen müssen nach Vertragsabschluss wöchentlich erfolgen. Die Geldeintreiber arbeiten auf Werkvertragsbasis und werden nach der Höhe der eingetriebenen Schulden bezahlt, „so dass sie diese selbst nach Naturkatastrophen oder Seuchenausbrüchen weiter eintreiben“. Bei Säumigkeit nehmen sie ganze Familien in Gewahrsam.
Die oder der Säumige – drei von vier Kreditnehmern sind Frauen – muss sich daraufhin bei Bekannten Geld leihen, um sich und die Familie freizukaufen. Das kann bis zu 40 anderen Familien den Tageslohn kosten. Die Kredite nehmen ihnen so gleichzeitig das wichtigste, das sie noch besitzen: die Familienbande, ihr „soziales Kapital“. Viele werden durch diese ausweglose Situation in die Flucht oder gar den Selbstmord getrieben.
Studien vergangener Jahre bewiesen, dass das Prinzip der Mikrokredite Kleinbauern, Kleinhändler und Kleingastronomen nicht aus Elend und Rückständigkeit rettet. Ganz im Gegenteil: „Eher ist es die Fortsetzung und der Ausbau jener Basarwirtschaft“, schreibt Philip Mader, „die schon heute bestenfalls eine Notlösung für Leute darstellt, die sonst gar keine Arbeit hätten.“ Der Großteil der Kredite würde nicht für unternehmerische Aktivitäten aufgewandt, sondern für den Kauf von Lebensmitteln und Medikamenten, um das tägliche Überleben zu sichern oder „Ausnahmesituationen wie Krankheitsfälle zu bewältigen“.
Die Mikrokredite führen so zu einem Teufelskreis aus Schuldknechtschaft, zunehmender Ausbeutung und Gewalt. Mader schildert das Beispiel des indischen Bundesstaates Andhra Pradesh. Die Mehrheit der indischen Haushalte in dieser armen südindischen Region nahm seit den 1990er Jahren mehr als vier Kredite von unterschiedlichen Mikrofinanzinstituten auf, um den jeweils anderen Kredit bezahlen zu können. „Viele der um die Jahrtausendwende mit Hilfsgeldern gegründeten Nichtregierungsorganisationen wurden binnen weniger Jahre als profitorientierte Institute privatisiert und jagten Investorenkapital, mit dem sie jährliche Wachstumsraten von teilweise mehr als 100 Prozent finanzierten“.
Dies führte zu einer Überschuldung und 2010 zur offenen Krise, dem Platzen der internationalen Hypothekenkreditblase von 2008 nicht unähnlich. Hunderte verarmter Schuldner begingen Selbstmord. Zum Teil wurden sie sogar von den Sachbearbeitern dazu gedrängt. Denn einige Banken hatten ihre Schuldner beim Vertragsabschluss verpflichtet, eine Lebensversicherungspolice zu unterschreiben. Dies war Voraussetzung für den Kredit. Beim Tod geht die gesamte Versicherungssumme an die Bank. Die sozialen Spannungen nahmen enorm zu.
Um einen Aufruhr zu verhindern, verbat die Regierung des indischen Bundesstaates Andhra Pradesh nach Ausbruch der Mini-Kreditkrise 2010 alle nicht-staatlichen Mikrokredite. Zu ähnlichen Krisen wie der in Indien kam es laut Mader in Bolivien im Jahr 2000, Nicaragua, Bosnien-Herzegowina (EU-Beitrittskandidat), Pakistan und Marokko 2008.
Mader fasst zusammen: „Es lässt sich feststellen, dass Finanzmärkte und Finanzmarktakteure eine immer größere Rolle in der Erfüllung und Steuerung gesellschaftlicher Bedürfnisse spielen, von der Sicherung der Altersvorsorge und des Wohnraums – Stichwort: US-Hypothekenblase – bis hin zum Klimaschutz (Emissionshandel) und der Bereitstellung öffentlicher Güter.“ Was der Autor hier wissenschaftlich und diplomatisch umschreibt, ist die brutale Ausbeutung der Ärmsten der Weltbevölkerung durch eine rücksichtslose und kriminelle Finanzoligarchie. Jeder Aspekt des menschlichen Lebens befindet sich in deren Würgegriff, mit all den menschlichen Tragödien, die dies hervorbringt.
Während die Armen immer weiter ins Elend gedrückt werden, häufen die Finanzmarktakteure immer größere Summen auf ihren Bankkonten an. Der Reichtum der obersten 2.000 Milliardäre hat sich in den letzten drei Jahren auf 6,5 Billionen US-Dollar verdoppelt.
Auch Yunus und seine Bank haben es mit dem Mikrokreditmodell weit gebracht: Mit einem Umsatz von 120 Millionen und einem Gewinn von 10 Millionen US-Dollar allein mit der Grameen Bank im Jahr 2010 hat sich der Professor für Wirtschaftswissenschaften ein Konglomerat aus Tochterfirmen zusammengekauft und aufgebaut. Diese sind in der Telefon-, Energie-, Textil- und Baubranche tätig. Dabei sind diese „sozialen“ Unternehmen auf große Geldgeber und Konzerne angewiesen, die Telefonfirma Grameen Phone zum Beispiel auf die norwegische halbstaatliche Telenor Group, das größte Mobilfunkunternehmen der Welt. Sie hält die Mehrheit an dem bangladeschischen Unternehmen und nutzt es als Marktzugang in das bevölkerungsreiche Land.
Mit seiner Investment-Firma „Yunus Social Business - Global Initiatives“ (YSB) fördert Yunus Sozialunternehmen in Haiti, Albanien, Uganda, Tunesien, Kolumbien und Brasilien. Für die Bevölkerung bedeutet das nichts Gutes. Sein Mikrokreditwesens beseitigt nicht die Armut, sondern ebnet internationalen Großkonzernen und Banken den Weg in bislang unerschlossene Gebiete.