Mit der Retrospektive „Seeing Red“ würdigte das Britische Film Institut (BFI) in diesem Sommer das Werk des langjährigen Film- und Fernsehproduzenten und Regisseurs Tony Garnett. Das BFI nannte Garnett eine der „einflussreichsten Persönlichkeiten“ im Fernsehgeschäft“, die „eine Reihe provokativer, radikaler und manchmal aufrüttelnder Dramen produzierte und förderte.“
Reporter der World Socialist Web Site trafen sich diesen Sommer mit Garnett und stellten ihm Fragen über sein Leben und seinen Werdegang und besonders über die politischen und künstlerischen Konzeptionen, die sein Werk prägten. Dies ist der zweite Teil des Interviews, Teil 1 wurde am 9. November 2013 veröffentlicht.
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WSWS: Ende der 1970er Jahre verließen Sie Großbritannien, um in den Vereinigten Staaten zu arbeiten. Was führte zu diesem Entschluss?
Tony Garnett: Es wurde schwieriger. Ab 1975-76 gab es weniger Möglichkeiten. Es gab viele Auseinandersetzungen, es war zermürbend und es machte mich fertig. Einige Jahre lang gingen bei der BBC unsere Verträge nicht mehr durch oder es gab lange Verzögerungen... Damals wurde in Fragestunden im House of Lords unterstellt, die BBC sei ein Nest von „Kommunisten“. Das war unter der Labour-Regierung.
Schließlich ging ich Ende der 1970er Jahre in die Vereinigten Staaten. Vier Filme im Jahr zu machen, mich mit der BBC herumzuschlagen und mich um Geld zu bemühen, war strapaziös. Ich war der Einzige, der eine solche Arbeit machte und jeder wollte ein Stück von mir. Außerdem wurde ich politisch immer desillusionierter. Ich wusste nicht, was ich als nächstes tun sollte oder was für einen politischen Film ich machen sollte.
Ich wusste, ich benötigte eine neue Inspiration – irgendwo, wo englisch gesprochen und Filme gedreht wurden. In den 1960ern hatte es eine wirklich interessante unabhängige Film-Bewegung in den USA gegeben und ich dachte, wenn ich da einen Fuß in die Tür kriege, könnten mir neue Herausforderungen begegnen. Dazu würde ich mir mit 5.000 bis 6.000 Meilen Abstand ein besseres Bild von den Ereignissen hier machen können.
Stattdessen landete ich in der Reagan-Ära, in der die Bewegung für ein unabhängiges Kino kollabierte. Hollywood wollte nur noch Special Effects und Abknall-Filme, in denen Kerle auf Fremde schießen. Aber ich lernte viel und dort zu überleben machte mich fit für die Rückkehr.
WSWS: Inwiefern?
TG: Die Atmosphäre in der BBC änderte sich – nach dem Motto „Manager sollten das Recht haben zu managen“. Etwas Ähnliches geschah an den Universitäten, im Nationalen Gesundheitswesen und weiteren Institutionen. Das bringt eine strenge Hierarchie mit vielen Abstufungen von Kontrolleuren, die einem sagen, was man darf und was nicht.
Damit wurde die Art Produzent aus meiner Zeit, den 1960ern, abgeschafft. Den Produzenten in den 1960ern hat man vertraut. Man hatte gewisse Freiheiten und durfte Talente aussuchen. Natürlich gab es auch Einschränkungen, aber die Funktion des Produzenten wurde jetzt weiter nach oben in der Führungshierarchie verlegt – in den sechsten Stock, wo die leitenden Manager sitzen, diejenigen die in ihrem ganzen Leben noch nie etwas produziert haben.
Wenn ihr die BBC betrachtet, dann macht sie im Großen und Ganzen Programme über einen Londoner Stadtteil – Westminster – zur Freude derjenigen, die in zwei oder drei anderen leben – Notting Hill und Islington. Den Rest des Landes gibt es nicht, außer wenn zwei oder drei junge Produzenten nach Doncaster oder Newcastle gehen, sagen wir mal, als wären sie Anthropologen auf einer Forschungsreise und mit einer „lustigen Story“ über die Sitten der Eingeborenen zurückkommen, oder auch einer schockierenden Geschichte über deren befremdliches Benehmen.
WSWS: Wie ist die gegenwärtige Lage der Arbeiter und Künstler?
TG: Thatcher sagte in ihrem Ruhestand, ihre größte Leistung sei New Labour gewesen. Wenn die Arbeiter die Rolle der Gewerkschaften klar begreifen könnten, auch dass Labour eine konservative Partei ist, ihnen würde es wie Schuppen von den Augen fallen. Es gäbe eine zeitlang ein arges Durcheinander, aber das würde auch Chancen beinhalten. Sicherlich ist es nicht das, was die Bourgeoisie sich wünscht. Sie will, dass Labour und der (Gewerkschaftsverband) TUC die Arbeiterklasse weiter verwirren.
Ich erzähle den Leuten immer, dass die derzeitige Rezession nicht wie früher ist. Es geht nicht um Nachfrage oder schwankende Zinssätze. Das ist eine große Rezession. Während die Reichen reicher werden, erlebt der Rest der Bevölkerung wie ihr Lebensstandard erodiert. Die amerikanischen Zahlen sind erschütternd. Hier ist es nicht besser. So kann ihr System nicht überleben.
Wie gehen wir damit um? In meiner Welt finde ich kaum etwas, was durch Hollywood oder das Fernsehen künstlerisch gestaltet wird. Es kostet viel und steckt in einer eisernen Faust. Es gibt keine Bewegungsfreiheit. Wenn ich in den Zwanzigern wäre, würde ich nicht beim Film oder im Fernsehen arbeiten.
Ich würde mich den neuen Technologien zuwenden. In der kapitalistischen Gesellschaft sind sie zerstörerisch und ein Problem für professionelle Musiker, Verleger und jetzt auch in der Kinoindustrie. Aber sie sind eine wundervolle Chance und wären in einer sozialistischen Gesellschaft willkommen.
Die Hindernisse beim filmischen Geschichtenerzählen sind mehr oder weniger verschwunden. Als ich anfing, waren die Kosten immens. Es gab teure komplizierte Kameras, mit denen nur hochqualifizierte Experten umgehen konnten, mit Filmen, die in einem Labor bearbeitet werden mussten. Dann musste man ein Theater mieten, nur um den Film anzusehen. Wenigen Firmen gehörte alles, der Zutritt wurde nur wenigen Privilegierten erlaubt und sie konnten nur produzieren, was die Firmen genehmigten.
Jetzt kann ein Kind eine gebrauchte Digitalkamera bekommen, sie einstellen und ein Foto schießen. Natürlich werden Einige interessantere Bilder machen als Andere. Man kann den Film dann auf einem Laptop bearbeiten und für immer zum Nutzen von Millionen Menschen auf einen Server legen...Wenn ich jetzt in den Zwanzigern wäre, würde ich ausschließlich im Internet arbeiten, besonders wegen seiner kreativen und politischen Freiheiten, aber auch weil ich nicht weiß, wie es geht. Ich würde es tun, würde Fehler machen und lernen und es tun und Fehler machen und wieder lernen.
Deshalb wollen sie das Internet dichtmachen, wenn sie können. Politiker gestatten den Menschen nicht gerne anonym miteinander zu kommunizieren. Sie möchten Freiheiten einschränken... aber das Fenster ist noch eine Weile für Chancen und Freiheiten offen. Sie überwachen es, aber stoppen es noch nicht. Das wird sicherlich kommen. Ihr seid so gescheit und klug mit der World Socialist Web Site im Internet zu arbeiten. Da sollten die klugen Leute sein, kreative und politisch interessierte Leute sollten da sein.
Ich dachte immer, das Filmemachen sei eine gesellschaftliche Tätigkeit. Es ist nicht wie das Schreiben eines Romans. Es ist eine gemeinschaftliche kreative Arbeit. Es wird viel individualistischer Unsinn über das Filmedrehen geredet.
Die französische auteur Theorie sagt, ausschlaggebend sei der Regisseur. Die Amerikaner sagen, es sei der Produzent. Das ist dumm und irreführend. Es ist jeder, der bei der Erstellung eines Films mitarbeitet. Finanziell gesehen, kann es eine Person sein, denn die reale Kraft eines Films wird immer mit Geld erreicht. Das Filmstudio oder der Sender kann diese Kraft an einen Filmstar übergeben. Je nachdem, ob der Filmstar Geld einbringt, wird entschieden, wer die Rolle bekommt, etc. Manchmal ist es der Regisseur. Es ist kaum je der Drehbuchautor, denn der wird beim Film und beim Fernsehen unterschätzt. Wenn jedoch etwas Bemerkenswertes von einem Film bleibt, dann ist es die Leistung aller Beteiligten.
Nach dem Krieg hatte das neo-realistische Kino Italiens den größten künstlerischen Einfluss auf mich – wie Bicycle Thieves (Fahrraddiebe). Die Menschlichkeit darin, die Filmtechnik, auf den Straßen gedreht, mit Handkameras. Auch einige osteuropäische Kinofilme, insbesondere polnische und tschechische – Closely Observed Trains (Umfassend überwachte Züge). Dann in technischer Hinsicht, Raoul Coutards Kameraarbeit in Breathless (Atemlos). Da gibt es eine Freiheit, eine Lässigkeit in der Aufnahmetechnik.
Außerdem übte Joan Littlewood, vom Theater Workshop, Stratford East Einfluss auf mich aus (Oh, What a Lovely War! (Oh was für ein wunderbarer Krieg!) und andere Werke. Eine großartige Theaterregisseurin. Ihre Arbeit hatte solch eine Energie. Wir wollten einen Film miteinander machen, aber es kam nie dazu. Sie sagte: Glaube an die Menschen, jeder ist ein Genie.
Ich fühle mich geschmeichelt, wenn man sagt, meine Arbeit sei Agitprop. Wenn man das denkt, dann haben wir etwas erreicht. Große Kunst, die das Künstlerische verbirgt, ist wahre Kunst. George Orwell sagte, ein guter Schreibstil sei wie ein Blick in den Spiegel. Ich verbrachte mein Leben damit, Kollegen zu finden und mit den Kollegen so zu arbeiten, dass wir alles konnten – schreiben, filmen, Regie führen, schauspielern – die Geschichte erzählen ohne auf uns selbst aufmerksam zu machen.
In den 1960er Jahren hatte ich oft – bis zum Überdruss – Dispute mit Leuten, die für Filmmagazine schrieben. Sie sagten, meine Arbeit sei reaktionär und ich sei kein echter Sozialist, weil ich meine Aussagen in einer bourgeoisen Form ausdrückte – in der realistisch-naturalistischen Form des 19. Jahrhunderts – und wirklich revolutionäre Arbeit zu machen, hieße, diese Form zu dekonstruieren, um die Leute zu einem ursprünglicheren Denken über die Welt zu veranlassen. Sie führten gewöhnlich Bertold Brecht dazu an.
Meine Antwort war, dass das Fernsehen das nationale Theater des Äthers sei, und sich die Menschen dort aufhielten. Diese Form sei es, die ihnen gefiele. Wenn ich experimentellere Formen nutzen würde, würde keiner zusehen. Daher gab ich ihnen den Rat, weiterhin Filme als Diskussionsgrundlage für die Diskussionen einer Handvoll Cineasten zu machen und ich machte meine Filme, um auf 10 Millionen einzuwirken.
WSWS: Sie haben als Produzent aufgehört und sind jetzt Romanschriftsteller. Was war der Grund für diese Veränderung und wie groß ist die Veränderung?
TG: Ende der 1990er Jahre hatte ich 40 oder mehr Jahre lang an Filmen gearbeitet und der Reiz hatte nachgelassen. Also gab ich es lieber auf, als dass es mich aufgab. Es war ein sehr aufreibendes Geschäft und ich war müde. Ich wollte auch nicht nur die Zeit, sondern auch den Raum in meinem Kopf, um die Romane zu schreiben, die in mir herumschwirrten – wollte auf die Charaktere hören und niederschreiben, was sie machen.
Ich bin jetzt an meinem dritten Roman. Schreiben ist eine vollständig andere Tätigkeit, aber es ist die Fortsetzung der gleichen Sache. Ich erzähle Geschichten und es gibt viele Arten sie zu erzählen. Das ist alles was ich kann. Lange Zeit erzählte ich Geschichten in der Hoffnung zu überzeugen und in die Köpfe der Menschen einzudringen. Oder wenigstens zu sagen, schau, so erscheint es uns. Das denken wir darüber. Und was denkst du?
Es liegt etwas Magisches in einer Geschichte, wenn sie gespielt wird, weil es eine emotionale Verbindung zwischen dem Publikum und der Rolle oder dem Schauspieler gibt, der sie spielt. Wenn man ein Drama sieht, besonders bei einem guten Drama, fühlt man wirklich, wie es ist, diese andere Person zu sein. Diese Verbindung erzeugt Empathie, etwas Magisches. Das ist lebensnotwendig, um sich intellektuell und emotional zu verstehen.
Aber die Reichweite des Dramas ist jetzt so begrenzt und das ist sehr schade. Denn eine Gesellschaft die nicht emphatisch ist, steckt in großen Schwierigkeiten. Die einzigen Menschen, denen Empathie fehlt, sind Psychopaten. Der Kapitalismus ist ein fruchtbarer Boden für Psychopathie.
Kunst um der Kunst willen ist bedeutungslos. Ich möchte Menschen berühren. Ich mag nicht einmal den Begriff Kunst, weil der heute zu sehr mit Individualismus assoziiert wird. (Der englische Begriff für Kunst) „Art“ kommt von Artefakt, Handwerk. Kunst und Geschick, Kunst und Kunstfertigkeit – das ist dasselbe. Erst im letzten Jahrhundert wurde der Künstler so kultiviert, ein erhabenes Wesen, ziemlich abgehoben von allen anderen. Ich möchte das durchbrechen.
Ich stamme aus einer Handwerkerfamilie – das war es, was sie machten. Ich sagte den Studenten, ihr könnt hier weggehen und einen Preis gewinnen und auf die Idee kommen, dass ihr sehr bedeutend seid. Aber ihr seid nicht bedeutend. Was du machst, ist bedeutend. Weil du ein Geschichtenerzähler bist und die Gesellschaft ohne Geschichten nicht auskommt.
Auch Geschichte als historische Wissenschaft ist eine Geschichte. Deshalb streiten wir uns über diese Wissenschaft. Wir geben unserem Dasein, der Welt und uns in der Welt durch unsere Bemühungen, die Wahrheit durch Geschichten zu erzählen einen Sinn. Tatsachen müssen in ihren Zusammenhang gestellt werden um wahr zu werden. Und die Wahrheit muss ständig erkämpft werden. Sie ist nicht vorgegeben. Und das Geschichtenerzählen trägt zur Debatte über die Wahrheit bei.
Deshalb sollten arbeitende Menschen ihre Geschichten erzählen. Die Frage der Wahrheit ist eine Klassenfrage. Ich möchte alle eure Leser auffordern, insbesondere die jungen, ihre eigenen politischen Filme zu machen, Interviews aufzuzeichnen, besonders mit älteren Genossen, und sich trauen, sich filmisch auszudrücken. Filmemachen ist etwas für jeden.
Ende