Die geplante Unterzeichung eines Assoziierungs- und Freihandelsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union hat zu heftigen Spannungen mit Russland geführt. Das Abkommen soll am 28. und 29. November auf dem Ostpartnerschaftsgipfel im litauischen Vilnius unterzeichnet werden, falls die Ukraine vorher eine Reihe von Bedingungen erfüllt.
Die russische Regierung versucht die Unterzeichnung des Abkommens seit Monaten mit Drohungen und Handelskriegsmaßnahmen zu verhindern. Es würde die Ukraine, die über Jahrhunderte ein wichtiger Bestandteil des russischen Zarenreichs und der Sowjetunion war, wirtschaftlich und politisch eng an Europa binden und die Pläne der russischen Regierung, die aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten in einer Eurasischen Union zusammenzufassen, wohl endgültig zum Scheitern bringen.
Das Assoziierungsabkommen würde die Ukraine unmittelbar an den Binnenmarkt der EU anschließen. Auch Moldawien und Georgien sollen bald Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen. Armenien, das militärisch und wirtschaftlich in hohem Maße von Moskau abhängig ist, hat ein Assoziierungsabkommen mit der EU dagegen abgelehnt und will stattdessen der Zollunion Russlands mit Weißrussland und Kasachstan beitreten, aus der nach russischen Plänen die Eurasische Union hervorgehen soll.
Die EU fordert von der ukrainischen Regierung umfassende Sparmaßnahmen und eine wirtschaftliche Liberalisierung, die die soziale Krise im Land weiter verschärfen wird. Experten gehen außerdem davon aus, dass nach der Einführung europäischer Industriestandards viele ukrainische Produkte nicht mehr wettbewerbsfähig sind und dass die Überflutung des Landes mit europäischen Produkten Teile der ukrainischen Industrie ruinieren werden.
Eine weitere Bedingung für die Unterzeichnung des Abkommens ist die Freilassung der pro-westlichen Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko. Insbesondere in Deutschland fand in den letzten Monaten eine massive Kampagne zugunsten Timoschenkos statt. Die Bemühungen Kiews um den Abschluss des Abkommens werden in der EU vor allem von Deutschland und Polen unterstützt.
Der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch hat inzwischen signalisiert, dass er Timoschenko zur medizinischen Behandlung nach Deutschland ausreisen lassen wolle. Am 18. November wird eine Kommission der EU entscheiden, ob die Ukraine die notwendigen Auflagen für das Assoziierungsabkommen erfüllt hat.
Die russische Regierung versucht, die Ukraine durch wirtschaftlichen und politischen Druck vom Assoziierungsabkommen abzubringen. Russland ist der mit Abstand wichtigste Handels- und Investitionspartner der Ukraine.
Im August verhängte Moskau ein zeitweiliges Importverbot für ukrainische Waren (Siehe: „Wachsende Spannungen zwischen der Ukraine und Russland“). Der russische Präsident Wladimir Putin drohte mit dauerhaften protektionistischen Maßnahmen, und Außenminister Sergej Lawrow kündigte verschärfte Reisebedingungen zwischen den beiden Ländern an.
Nach Informationen des Spiegels haben russische Grenzposten begonnen, einen Stacheldraht an der ukrainischen Grenze aufzubauen. Seit letzter Woche droht Moskau der Ukraine außerdem mit Strafzahlungen wegen unbezahlter Gasrechnungen in Höhe von 640 Mio. Euro.
Die EU hat die Drohungen aus Moskau verurteilt und drängt nach jahrelangem Schwanken in der Ukraine-Frage inzwischen auf den Abschluss des Assoziierungsabkommens.
Der Vorsitzende des Außenausschusses des EU-Parlaments, Elmar Brok (CDU), warf der russischen Regierung „Erpressungsversuche“ vor. Sie breche internationales Recht, indem sie Energiepreise als politisches Druckmittel einsetze. Die EU-Kommission hat bereits im September ein Kartellverfahren gegen den russischen Staatskonzern Gazprom eröffnet, dem sie eine Verletzung des Wettbewerbsrechts vorwirft. Die Ermittlungen in dem Fall laufen seit über einem Jahr. (Siehe: „EU eröffnet Kartellverfahren gegen Russlands Gazprom“)
Laut einem Bericht von Reuters bereitet die EU Notfallpläne für den Fall vor, dass Moskau nach der Unterzeichung des Abkommens Gegenmaßnahmen ergreift. So gebe es weit fortgeschrittene Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds, der ukrainischen Regierung mit einem Beistandskredit von 10 bis 15 Milliarden Dollar unter die Arme zu greifen. Andere Pläne sähen vor, die Ukraine vorübergehend mit Gas aus Europa zu versorgen, indem die Laufrichtung bestehender Pipelines umgekehrt werde.
Hinter dem Tauziehen um die Ukraine stehen neben wirtschaftlichen auch grundlegende geostrategische Interessen.
Mit über 45 Millionen Einwohnern ist die Ukraine der größte Absatzmarkt in Osteuropa und flächenmäßig der zweitgrößte europäische Staat. Das Land hat bedeutende Rohstoffvorkommen und spielt eine wichtige Rolle als Transitroute für russisches Gas nach Europa. Auch aufgrund ihrer geographischen Lage zwischen Europa und Zentralasien sowie dem Schwarzen Meer und Russland ist die Ukraine von großer strategischer Bedeutung.
Sowohl im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg war die Ukraine bevorzugtes Ziel deutscher Truppen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 22 Jahren sind die alten Konflikte wieder aufgeflammt. Die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU wäre ein Wendepunkt in den europäisch-russischen Beziehungen und würde das Kräfteverhältnis in Osteuropa stark verändern.
Nachdem Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die baltischen Staaten der EU beigetreten sind, ist die Ukraine neben dem weniger bedeutenden Weißrussland und Moldawien der letzte Staat in Osteuropa, auf den Russland noch einen bedeutenden politischen und wirtschaftlichen Einfluss ausübt.
Die ukrainische Regierung hat jahrelang zwischen Russland auf der einen und der EU und den USA auf der anderen Seite laviert. Nach der sogenannten Orangenen Revolution 2004, die mit europäischer und amerikanischer Unterstützung die Regierung von Wiktor Juschtschenko und Julia Timoschenko an die Macht brachte, gelang 2010 mit Janukowitsch einem Präsidenten die Rückkehr ins Amt, der von Moskau unterstützt wurde.
Dennoch lavierte auch Janukowitsch weiterhin zwischen Russland und der EU. Das hat nicht zuletzt mit der schweren wirtschaftlichen Krise des Landes zu tun. Kiew musste sowohl beim IWF wie in Russland mehrere Milliardenkredite aufnehmen. Zurzeit hat die Ukraine Auslandsschulden in Höhe von rund 60 Mrd. US-Dollar. Im letzten Jahr lag das Wirtschaftswachstum bei 0,2 Prozent und in diesem Jahr soll das BIP um 0,5 schrumpfen.
Ein ständiger Streitpunkt zwischen der Ukraine und Russland ist die Höhe des Gaspreises. Obwohl die Ukraine den Import russischen Gases in den letzten zwei Jahren gezielt reduziert hat, liefert der russische Monopolist Gazprom immer noch 75 Prozent des Gasverbrauchs des Landes.
2005 hatte Russland aufgehört, die Ukraine mit Gas weit unter dem Weltmarktpreis zu beliefern. Mittlerweile muss die Ukraine für russisches Gas mehr zahlen, als jedes andere Land in Europa. Russland hat eine Preissenkung von 50 Prozent unter der Bedingung angeboten, dass die Ukraine der russisch dominierten Zollunion beitritt. Kiew hat dies jedoch abgelehnt. Eine vertragliche Grundlage für die Zusicherungen Moskaus hätte es nicht gegeben.
Außerdem befürchten Presseberichten zufolge die großen Industriemagnaten des Landes, die hinter Janukowitsch stehen, dass sie in einer Eurasischen Union nicht mit den russischen Oligarchen mithalten können und dass die Union von Moskau als Vehikel genutzt wird, um die Ukraine als wirtschaftlichen Konkurrenten auszuschalten. In Branchen wie Chemie, Metallurgie, Nahrungsmittel und der Automobilindustrie sind ukrainische und russische Unternehmen direkte Konkurrenten.
Mit zusätzlichen IWF- und EU-Krediten für die Ukraine und einer größeren Unabhängigkeit des Landes von russischen Energielieferungen würde der wirtschaftliche und politische Einfluss Russlands in Europa weiter zurückgehen.
Während Moskau mit den Pipelines South Stream und Nord Stream versucht, die Bedeutung der Ukraine als Transitland zu schwächen und den wirtschaftlichen Druck auf das Land zu erhöhen, unterstützen die EU und USA die Bemühungen Kiews, die eigene Gasproduktion zu steigern und die Förderung von Schiefergas aufzunehmen. Der ukrainische EU-Botschafter Konstantin Jelisejew erklärte im Oktober: „Wir wollen uns in einen europäischen Energie-Hub verwandeln, ob dies Russland nun gefällt oder nicht“.
Der ukrainischer Kommentator Borys Kuschniruk hat darauf hingewiesen, dass das ukrainisch-europäische Assoziierungsabkommen auch im Interesse Chinas liege. Laut Kuschniruk wird China mit der Unterzeichnung des Abkommens „neue Möglichkeiten für die Entwicklung auf dem gesamteuropäischen Markt durch die Organisierung von Joint Ventures auf ukrainischem Territorium bekommen“.