Nach einwöchiger Unterbrechung wegen Verfahrensfragen wird gegenwärtig vor dem Oberlandesgericht (OLG) München der NSU-Prozess fortgesetzt. Am Dienstag wurde die 35-seitige Anklageschrift verlesen. Der Hauptangeklagten Beate Zschäpe wird Mittäterschaft bei allen Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) vorgeworfen.
Sie soll zusammen mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die sich nach ihrer Entdeckung angeblich selbst umbrachten, den NSU aufgebaut haben. Diese Terrororganisation soll zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2007 acht türkischstämmige Kleingewerbetreibende, einen griechischstämmigen Geschäftsmann und eine deutsche Polizistin ermordet haben.
Dem ehemaligen NPD-Funktionär Ralf Wohlleben sowie Carsten S. wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Sie sollen die Pistole besorgt haben, mit der neun der zehn Morde verübt wurden. André E. und Holger G. sind wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt.
Schon Monate vor Prozessbeginn führten Verfahrensfragen und das Verhalten des Gerichts zu heftigen Auseinandersetzungen. Obwohl es sich um das größte Strafverfahren gegen eine rassistische Mordserie in der Bundesrepublik handelt, das öffentliche Interesse sehr groß ist und neben der Generalbundesanwaltschaft rund 80 Nebenkläger aus den Reihen der Mordopfer und ihrer Angehörigen am Prozess beteiligt sind, besteht das Oberlandesgericht München auf der Durchführung des Prozesses in den begrenzten eigenen Räumen.
Das führte zu wochenlangen Auseinandersetzungen über die Vergabe der Medienplätze. Bei der ersten Akkreditierungsbewilligung waren türkische Medien vollständig ausgeschlossen worden, weil sie nicht so schnell wie die heimischen Redaktionen reagieren konnten. Heftige Proteste waren die Folge, weil acht der zehn Mordopfer ursprünglich aus der Türkei kamen.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht das Gericht verpflichtet hatte, eine „angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten“ zu vergeben, verschob das OLG den Prozessbeginn und organisierte eine Platzvergabe durch Losentscheid. Das führte erneut zu Auseinandersetzungen, weil nun kleine Provinzredaktionen einen Platz erhielten und große internationale Nachrichtenagenturen außen vor blieben.
Der verschobene Prozessbeginn und die anschließende einwöchige Unterbrechung stellten vor allem für die Angehörigen der Mordopfer und deren Nebenkläger eine außerordentliche zusätzliche Belastung dar. Viele von ihnen hatten für den ursprünglichen Prozessbeginn Urlaub genommen und mussten nach der Verschiebung entweder erneut anreisen oder eine teure Hotelunterkunft finanzieren.
Das bürokratische und teilweise provokative Vorgehen des Gerichts wurde in Medienberichten als „unsensibel“ und als Mangel an „politischem Fingerspitzengefühl“ (Süddeutsche Zeitung) charakterisiert. Doch es ist weit mehr als das. Das krampfhafte Festhalten am kleinen Gerichtssaal steht in direkten Zusammenhang mit dem Versuch, die politische Bedeutung des Prozesses herabzumindern und die gesellschaftlichen Hintergründe, vor allem die Verstrickung staatlicher Stellen in den rechten Terror, nicht zu thematisieren. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl betonte mehrmals, dass er den Prozess streng auf die unmittelbare strafrechtliche Verantwortung der fünf Angeklagten begrenzen wolle.
Die zentrale Frage, wie es möglich war, dass eine rechte Terrorgruppe unter den Augen staatlicher Sicherheitsbehörden, mit deren Duldung und zumindest indirekter Unterstützung jahrelang einen rassistischen Feldzug gegen Ausländer führen konnte, soll nicht thematisiert werden.
Mittlerweile ist aber bekannt, dass das Bundesamt (BfV) und die Landesämter für Verfassungsschutz (LfV), der Militärische Abschirmdienst (MAD) und das Berliner Landeskriminalamt (LKA) mindestens 24 V-Leute im direkten Umfeld des NSU platziert hatten.
Außerdem ist bekannt, dass das rechte Netzwerk „Thüringischer Heimatschutz“ (THS), in dem sich die Terrorgruppe um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in den neunziger Jahren entwickelte, von einem Informanten des Verfassungsschutzes (Tino Brandt) aufgebaut und – laut einem Bericht des Spiegel – vom thüringischen Landesamt für Verfassungsschutz mit sechsstelligen DM-Beträgen finanziert wurde.
Als im April 2006 in einem Kasseler Internetcafé der 21-jährige Halit Yozgat erschossen wurde, war ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes währende der Tatzeit anwesend und verließ – laut Wikipedia – das Internetcafé nur wenige Sekunden nach dem Mord.
Der Versuch, die Rolle des Verfassungsschutzes und anderer staatlicher Sicherheitsbehörden im Münchner NSU-Prozess nicht zu thematisieren und auszublenden, macht deutlich, dass der Prozess nicht der Aufklärung dient, sondern der Vertuschung.
Ein Blick auf die bisher bekannten Fakten über die Entstehung des NSU und den Tathergang der Mordserie zeigt, wie eng die Verbindung dieser rechten Mörderbande mit dem Verfassungsschutz war und wie systematisch die Sicherheitsbehörden versuchen, diese Verbindung zu leugnen und geheim zu halten.
Anfang 1995 hatte der Militärische Abschirmdienst (MAD) versucht, Uwe Mundlos als Mitarbeiter und Informant zu gewinnen. Nach Angaben des MAD lehnte Mundlos jedoch ab. Im November 1997 observierte das Landesamt für Verfassungsschutz Thüringen Mundlos und Böhnhardt beim Kauf möglicher Bombenbauteile. Zwei Monate später durchsuchte die Polizei eine von Beate Zschäpe gemietete Garage und fand eine Bombenwerkstatt mit vier funktionsfähigen Rohrbomben. Uwe Böhnhardt war anwesend und konnte sich ungehindert entfernen.
Später wurde bekannt, dass der Sprengstoff für die Rohrbomben, etwa 1,4 Kilogramm TNT, von Thomas Starke besorgt worden war, einem früheren Freund von Beate Zschäpe. Starke war V-Mann des Berliner Landeskriminalamts. Unter der Überschrift „NSU-Sprengstofflieferant war V-Mann der Berliner Polizei“ berichtete Spiegel Online im September vergangenen Jahres, dass „der Kontakt des LKA zur Quelle S.“ offenbar sehr intensiv war. Starke half dem Trio (Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt) anschließend bei der Suche nach einer konspirativen Wohnung in Chemnitz.
Ob auch Beate Zschäpe mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeitete, ist unklar. Im November 2011 schrieb Focus Online unter Berufung auf die Leipziger Volkszeitung: „Beate Zschäpe soll sehr wohl für den Geheimdienst in Thüringen gearbeitet haben.“ Der Hinweis stamme vom Landeskriminalamt Thüringen. Dem Bericht zufolge soll Zschäpe den Behörden Informationen über die rechte Szene verschafft haben, also als V-Frau gearbeitet haben. Dafür soll sie der Verfassungsschutz in Thüringen geschützt haben. In dieser Zeit habe Beate Zschäpe fünf Alias-Namen verwendet.
Der Thüringer Verfassungsschutz widersprach diesen Berichten. Es habe zwar Kontakt zu Beate Zschäpe gegeben und es sei erwogen worden, sie als V-Person anzuwerben, dies sei aber aufgrund ihrer Instabilität und ihres Drogenkonsums nicht möglich gewesen.
Viele Fakten liegen noch im Dunkeln, denn die Geheimdienste verweigern und blockieren nach wie vor wichtige Informationen. Unmittelbar nach Bekanntwerden der NSU-Mordserie wurden im November 2011 und in der Folgezeit Geheimdienstakten in großem Umfang vernichtet, die Auskunft über die enge Verbindung zwischen den Sicherheitsbehörden und dem Rechtsterrorismus gegeben hätten. Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang von bedauerlichen Routineentscheidungen, unzureichenden Informationen von Sachbearbeitern, Pannen und Fehlern gesprochen.
Doch das eigenmächtige und rechtswidrige Verhalten der Sicherheitsbehörden geht so weit, dass im vergangenen Jahr der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm und die Geheimdienstchefs von vier Landesämtern (Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Berlin) zurücktreten mussten.
Trotz dieser gravierenden Entwicklung wagt niemand in Politik und Medien, das Offensichtliche auszusprechen: Die NSU-Mordserie fand in enger Zusammenarbeit mit Teilen des Geheimdienstapparats statt. Der Verfassungsschutz unterstützt und schont die rechtsradikale Szene, weil er selbst ideologisch rechtslastig ist. Es zeigt sich, dass ein Staat im Staat existiert, der sich jeglicher parlamentarischer Kontrolle widersetzt und extrem rechte und rassistische Ziele verfolgt.
Dabei sind die braunen Seilschaften im deutschen Geheimdienst durchaus bekannt. Die gesamte Geschichte dieser gigantischen Behörde, die im Bundesamt und in 16 Landesämtern viele Tausend Mitarbeiter und V-Leute beschäftigt, durchzieht eine braune Spur. 1950 von den Alliierten als Werkzeug des Kalten Krieges gegründet, beschäftigte sie von Anfang an zahlreiche frühere Mitglieder des Naziregimes und der Gestapo.
Als die Regierung Adenauer 1955 die Kontrolle über den Verfassungsschutz von den Alliierten übernahm, setzte sie mit Hubert Schrübbers (CDU) für 17 Jahre einen Mann an seine Spitze, der dem Nazi-Regime als SA-Mitglied und Oberstaatsanwalt gedient hatte. Unter Schrübbers‘ Aufsicht „sollen auffällig viele hohe Positionen im Bundesamt mit ehemaligen SS- bzw. SD-Angehörigen besetzt worden sein“, heißt es in Wikipedia.
Stellvertreter des ersten Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz war Ernst Brückner, ein weiterer ehemaliger SA-Mann. Brückner war außerdem auch NSDAP-Mitglied und hatte von 1941 bis 1942 die Sicherheitspolizei in Tschenstochau im besetzten Polen geleitet, wo die Nazis einige ihrer schlimmsten Verbrechen verübten.
Diese rechten, rassistischen und zutiefst undemokratischen Traditionen des deutschen Staatsapparats, die sich in der engen Verbindung zwischen der NSU-Mordserie und dem Verfassungsschutz zeigen, sollen im Münchner OLG-Prozess ausgeblendet werden. Das prägt den bisherigen Verlauf der Verhandlungen.