Das Gipfeltreffen, zu dem sich die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union heute Abend in Brüssel versammeln, erinnert an eine belagerte Festung. Mehrere Teilnehmer befinden sich nur noch auf Abruf im Amt, weil ihnen die massive Opposition gegen den Sparkurs der Europäischen Union den Boden entzogen hat.
Italien wird durch Mario Monti vertreten, der im Dezember offiziell zurücktrat und in den anschließenden Wahlen massiv abgestraft wurde. Die Regierungen Rumäniens, Bulgariens und Sloweniens wurden durch Massenproteste aus dem Amt gejagt; wie Monti führen sie die Regierungsgeschäfte nur noch provisorisch.
Die Regierungen Portugals, Spaniens und Griechenlands sind fast täglich mit Massenprotesten und Streiks konfrontiert; die spanische Regierung von Mariano Rajoy ist zusätzlich durch einen Korruptionsskandal geschwächt. Die Popularität des französischen Präsidenten François Hollande ist seit seiner Wahl im Mai von 55 auf 30 Prozent gefallen – ein historischer Rekord.
Unter diesen Bedingungen bemüht sich die EU-Kommission in enger Zusammenarbeit mit der deutschen Regierung, die versammelten Staats- und Regierungschefs auf die Fortsetzung ihrer verheerenden Austeritätspolitik einzuschwören, weil sie sonst den Zusammenbruch der gemeinsamen Währung und der Europäischen Union selbst befürchtet.
In einem Schreiben an die Gipfelteilnehmer schrieb der Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompuy, die bisherigen Anstrengungen zur Wiederherstellung der Stabilität der europäischen Wirtschaft reichten nicht aus. „Deshalb müssen wir im Jahr 2013 mit den Strukturreformen fortfahren, welche die europäische Wettbewerbsfähigkeit steigern und das Vertrauen in die europäische Wirtschaft weiter stärken werden. Es kann und sollte noch mehr getan werden.“
Van Rompuy und sein Team haben auf dem Gipfel eine mehrstündige offene Diskussion geplant, in der sich die Staats- und Regierungschefs gegenseitig ihre Versäumnisse vorwerfen. Dem englischen Premier David Cameron soll vorgehalten werden, dass sein Land in diesem Jahr mehr neue Schulden aufnehme als Spanien oder Irland, dem französischen Präsidenten Hollande, dass die Arbeits- und Sozialkosten in seinem Land viel zu hoch seien.
Neben einer Rede von Kommissionspräsident José Manuel Barroso ist auch ein Auftritt des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi geplant. Beide werden den Gipfelteilnehmern die schlechte Wirtschaftslage Europas vor Augen führen, das sich in einer Rezession befindet, und sie zu neuen Angriffen auf Sozialausgaben und Arbeiterrechte ermutigen.
Die anhaltende Rezession und der erbitterte Widerstand gegen den Austeritätskurs der Europäischen Union haben scharfe Konflikte, insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich, ausgelöst. Dabei geht es nicht um die grundlegende Richtung der Politik, sondern lediglich um das Tempo. Alle sind sich einig, dass die Krise auf Kosten der Arbeiterklasse gelöst werden muss. Im Konflikt mit ihr, schließen sie ihre Reihen.
Während die französische Regierung in den Worten ihres Finanzministers Pierre Moscovici vor einem „Verlust des sozialen und politischen Vertrauens in ganz Europa“ warnt, Wachstumsimpulse fordert und erklärt: „Wir dürfen eine Rezession nicht durch Austerität verstärken“, besteht die deutsche Regierung auf der uneingeschränkten Einhaltung der Sparziele.
Die französische Regierung hat eingestanden, dass sie ihr Haushaltsziel für das Jahr 2013 nicht erreichen wird. Statt der angestrebten 3 Prozent wird die Neuverschuldung voraussichtlich 3,7 Prozent betragen. Sie wird auch keine zusätzlichen einschneidenden Sparmaßnahmen ergreifen, um die Rezession nicht noch weiter zu vertiefen. Schon jetzt ist jeder zehnte Erwachsene und fast jeder dritte Jugendliche in Frankreich arbeitslos.
Präsident Hollande hat aber betont, dass er grundsätzlich am Sparkurs festhalten wird. „Die richtige Wirtschaftsstrategie besteht darin, an der Haushaltskonsolidierung festzuhalten, ohne etwas zu tun, was das Wachstum schwächen kann”, sagte er während eines Auftritts in Dijon. „Das ist der Kern des Dialogs, den ich mit der Europäischen Union führe: auf Kurs bleiben, nichts mehr und nichts weniger.“
Trotzdem wurde er von der deutschen Regierung und Bundesbank heftig angegriffen. Bundesbankpräsident Jens Weidmann warf der französischen Regierung vor, ihr Reformkurs sei ins Stocken geraten. „Besonders in großen Ländern ist ein Signal wichtig, dass die Verpflichtungen aus dem Stabilitätspakt ernst genommen werden“, sagte er.
In Deutschland, wo im September Wahlen stattfinden, wetteifern die konservativen und liberalen Regierungsparteien mit der sozialdemokratischen und grünen Opposition darum, wer einen härteren Sparkurs vertritt.
Die SPD feierte kürzlich im Beisein von Alt-Kanzler Gerhard Schröder den zehnten Jahrestag seiner Agenda 2010, die einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen und das Lohnniveau massiv gesenkt hat. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier brüstete sich damit, dass Deutschland dadurch gegenüber Italien, Frankreich und Spanien einen gewaltigen Wettbewerbsvorteil gewonnen habe.
Laut einer Analyse der Bank JP Morgan ist der reale Wechselkurs Deutschlands aufgrund der niedrigen Löhne seit der Einführung des Euro um 16,4 Prozent gefallen, während der französische um 4,5 Prozent gestiegen ist. Das, so die Bank, erkläre den Erfolg der deutschen Exportindustrie.
Alle deutschen Parteien, die regierenden wie die oppositionellen, sind entschlossen, diesen zerstörerischen Wettbewerb auf dem Rücken der Arbeiterklasse fortzusetzen. Das ist die Ursache der wachsenden Spannungen innerhalb der Europäischen Union, während sich die Regierungen in ihren Angriffen auf die Arbeiterklasse weitgehend einig sind.
Die EU konnte ihren verheerenden Sparkurs bisher durchsetzen, weil die massive Opposition dagegen keinen politische Stimme findet. Die Verantwortung dafür tragen die Gewerkschaften und die angeblich linken und pseudolinken Parteien, die den sozialen Widerstand unterdrücken, in harmlose Kanäle lenken und – getarnt durch einige kritische Phrasen – den Sparkurs der Europäischen Union verteidigen.
So konnte in Italien die Fünf-Sterne-Bewegung des Komikers Beppe Grillo vom Widerstand gegen die Regierung Monti profitieren, weil die Nachfolgeorganisationen der Kommunistischen Partei ihn uneingeschränkt unterstützten. Grillo hatte Erfolg, weil er alle etablierten politischen Parteien und die EU heftig angriff. Gleichzeitig vertritt er aber ein äußerst reaktionäres Wirtschaftsprogramm. (Siehe: „Die politische Bedeutung der Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo“)
In anderen Ländern – wie Griechenland und Ungarn – gewinnen faschistische Bewegungen an Einfluss, weil die angebliche Linke die Europäische Union verteidigt und unterstützt.
Weder die Gewerkschaften noch diese pseudolinken Bewegungen können allerdings verhindern, dass sich die sozialen Spannungen in Europa weiter zuspitzen und explosive Ausmaße annehmen. Der Aufbau einer neuen revolutionären Partei, die dem Widerstand gegen den Sparkurs eine fortschrittliche Perspektive gibt und die Arbeiter Europas auf der Grundlage eines sozialistischen Programms vereint, ist jetzt die dringendste Aufgabe.