Bewahrheiten sich die Umfragen, wird die Sozialistische Partei (SP) am 12. September die niederländischen Parlamentswahlen gewinnen.
Die jüngsten Erhebungen geben der aus einer maoistischen Gruppierung hervorgegangenen Partei 36 Sitze in der 150-köpfigen Zweiten Kammer. Sie würde damit die Zahl ihrer derzeit 15 Abgeordneten mehr als verdoppeln und läge vor den zweitplatzierten Rechtsliberalen (VVD) des amtierenden Regierungschefs Mark Rutte, die wie bisher auf 31 Sitze kommen.
Die Sozialdemokraten (PvdA) liegen in den Umfragen lediglich bei 16 (bisher 30) und die Christdemokraten (CDA) bei 14 (bisher 21) Mandaten. Die beiden Parteien, die die niederländische Politik über Jahrzehnte hinweg dominiert haben, sind damit auch zusammen schwächer als die Sozialistische Partei.
Die rechtspopulistische Freiheitspartei (PVV) des Antiislamisten Geert Wilders verzeichnet ebenfalls Einbußen. Die Umfragen geben ihr noch 18 statt bisher 24 Sitze.
Beobachter schließen nicht aus, dass Emile Roemer, der Spitzenkandidat der Sozialistischen Partei, nächster niederländischer Regierungschef wird. Der 50-jährige Lehrer müsste dafür allerdings mehrere Koalitionspartner finden. Im niederländischen Parlament sind derzeit zehn und nach der Wahl voraussichtlich zwölf Parteien vertreten.
Der politische Umbruch, der sich in den Umfragen abzeichnet, ist eine direkte Folge der Eurokrise, deren politischen Schockwellen auch die fünftgrößte Volkswirtschaft der Eurozone erfasst haben. Um seine tieferen Ursachen zu verstehen, muss man allerdings 30 Jahre zurückgehen.
Ende 1982 hatten Gewerkschaften und Unternehmerverbände den „Vertrag von Wassenaar“ unterzeichnet. Er legte die Grundlage für das so genannte „Polder-Modell“, in dessen Rahmen die „Sozialpartner“ und die Regierung eng zusammen arbeiteten, um die Löhne und die Sozialausgaben zu senken, den Arbeitsmarkt zu deregulieren und auf diese Weise die globale Konkurrenzfähigkeit der niederländischen Wirtschaft zu stärken.
Richtig in Fahrt kam das „Polder-Modell“ in den 1990er Jahren, als der Sozialdemokrat und bisherige Gewerkschaftsführer Wim Kok Regierungschef wurde. Kok nahm vieles vorweg, was Tony Blair in Großbritannien später unter dem Namen „New Labour“ und Gerhard Schröder in Deutschland als „Agenda 2010“ verwirklichten. (Siehe: „Wie Regierung, Gewerkschaften und Unternehmer die Umverteilung hinter den Deichen organisieren“)
Die Folge war eine starke Polarisierung der bisher relativ egalitären niederländischen Gesellschaft. Laut OECD stieg die relative Armut im Laufe der 1990er Jahre in keinem anderen Land so stark wie in den Niederlanden und in Irland. Minderheiten wurden ausgegrenzt, die Mieten in den Städten explodierten, die jahrelange Umverteilung von unten nach oben erschütterte auch das politische System.
Weil Sozialdemokraten und Gewerkschaften mit dem „Polder-Modell“ identifiziert wurden, profitierten rechts-populistische Parteien von den sozialen Spannungen. Pim Fortuyn – und nach dessen Ermordung Geert Wilders – verknüpften klassische rechtsextreme Kampagnen gegen Ausländer und Muslime mit der Verteidigung von Homosexuellen und anderen Themen der Identitätspolitik. Sie erzielten damit zum einen in sozialen Brennpunkten und zum anderen unter aufsteigenden Mittelschichten beträchtliche Wahlerfolge. 2010 wurde Wilders’ PVV hinter den Rechtsliberalen und den Sozialdemokraten drittstärkste Partei.
Nach langen, erfolglosen Regierungsverhandlungen beschloss Wilders damals, eine Minderheitsregierung unter Mark Rutte zu tolerieren. Doch deren neoliberaler, bankenfreundlicher Kurs entlarvte schnell die populistische Demagogie der PVV. Als Rutte dann im Frühjahr 2012 ein Sparpaket von 16 Milliarden Euro vorlegte, um die Defizitkriterien der Europäischen Union zu erfüllen, zog Wilders die Reißleine. Er zog die Unterstützung der Regierung mit der Begründung zurück, er lasse „nicht wegen des Brüsseler Diktats unsere Pensionen ausbluten“, und stellte damit die Weichen für vorgezogene Neuwahlen. Es handelt sich bereits um die vierte Wahl innerhalb von zehn Jahren.
Unter diesen Umständen allgemeiner sozialer und politischer Instabilität bietet sich die Sozialistische Partei als scheinbar unverbrauchte Kraft an, den niederländischen Kapitalismus zu retten.
1972 als maoistische Gruppierung gegründet, hatte sich die SP schnell nach rechts entwickelt. Sie gab ihren – wie sie es selbst nennt – „Flirt mit dem Maoismus“ nach kurzer Zeit wieder auf und konzentrierte sich auf den „praktischen Kampf“ im Umfeld der Gewerkschaften. 2000 erklärte sie dann einen „Durchbruch ins Parlament“ zum „vorrangigen strategischen Ziel“.
Der „Sozialismus“ der SP beschränkt sich auf ein wolkiges Bekenntnis zum „Respekt für Menschenwürde, Gleichheit und Solidarität“. Soweit sie die bestehenden Verhältnisse kritisiert, tut sie dies im Namen einer verklärten Vergangenheit, in der sich die Menschen gegenseitig vertrauten und über gesellschaftliche Schranken hinweg zusammenarbeiteten.
So erklärte Emile Roemer während der Parlamentsdebatte über den Haushalt der Regierung Rutte: „Die Gesellschaft kann ohne Vertrauen nicht funktionieren. Vertrauen zwischen Ladenbesitzer und Kunden, zwischen Unternehmer und Arbeiter, zwischen Arzt und Patienten, zwischen Anwalt und Mandanten. In den letzten zwanzig Jahren ist dieses Vertrauen, zum Teil wegen der Regierungspolitik, unter Druck geraten, und die Politik dieser Regierung wird dies sicher nicht zum Besseren wenden.“
Dabei gibt sich die SP keine Mühe, ihren Nationalismus, ihre Staatstreue und ihre Feindschaft gegen eine unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse zu verbergen. Wenn es um die Abschottung der niederländischen Grenzen gegen Immigranten geht, steht sie Wilders’ PVV kaum nach.
Schon in den 1980er Jahren hatte sie in der Schrift „Gastarbeit und Kapital“ gefordert, Gastarbeiter müssten sich an Sprache und Sitten des Landes anpassen oder wieder auswandern – mit der Begründung, die Existenz ungebildeter Gastarbeiter erleichtere es „dem Kapital“, Arbeiter nach dem Prinzip „teile und herrsche“ zu spalten.
Jetzt steht auf ihrer Website unter „Standpunkte“ zum Thema „Ausländer“, solange noch Hunderttausende Menschen im Abseits stünden, sei es „ungewünscht, Arbeitnehmer aus dem Ausland zu holen“.
Das Wahlprogramm der SP schlägt in die gleiche Kerbe. „Wo es möglich ist, werden Asylsuchende in der eigenen Region abgefangen“, heißt es unter der zynischen Überschrift „Eine gemeinsame Zukunft“. Schließlich werde der „Asylstrom“ verringert, wenn man die Missstände an ihrem Ursprung aufgreife. Um „für beherrschbare Migration zu sorgen“, will die SP auch die Hilfe für Länder außerhalb der EU-Grenzen intensivieren.
Die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung stellt die SP nicht in Frage. „Man kann nicht ständig mehr ausgeben, als man einnimmt. Das ist so, und deshalb bin ich für Einsparungen“, erklärt Roemer auf der offiziellen Website der SP. Er will sie lediglich zeitlich etwas anders staffeln und gewichten als die gegenwärtige Regierung, weil „zu tiefe und zu schnelle Kürzungen verheerend für die Wirtschaft und die Beschäftigung sind“.
Selbst Angriffe auf Rentner, die Wilders’ PVV zum Rückzug aus der Regierung bewogen, versucht die SP als fortschrittlich darzustellen. Sie will zwar das Renteneintrittsalter bei 65 Jahren belassen, zugleich aber längeres Arbeiten im Alter „attraktiver“ machen: „Die Sozialpartner machen bindende Absprachen darüber, wie Über-65-Jährige weiter arbeiten können, um das Arbeitspotential zu vergrößern und den Druck auf das soziale System zu verringern.“
2005 war die SP gegen die europäische Verfassung aufgetreten, die dann von den niederländischen Wählern mit großer Mehrheit abgelehnt wurde. Doch ihre Opposition gegen die EU darf wie viele andere Standpunkte nicht wörtlich genommen werden. Roemer gibt sich euroskeptisch, „ohne seine nicht eben experimentierfreudigen Anhänger gleich mit dem Vorschlag zu verschrecken, aus der EU oder der Eurozone auszutreten“, kommentierte dies die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Schon vor einem Jahr hatte Roemer in einer Parlamentsdebatte für kosmetische Reformen der EU plädiert, und nicht für einen Ausritt oder deren Abschaffung. „Wir brauchen ein Europa, das weniger auf die multinationalen Konzerne und mehr auf die Bürger hört, eine europäische Entwicklung, die auf die Leute Rücksicht nimmt“, sagte er.
Sollte die SP in die Regierung eintreten, wären ihre Vorbehalte gegen die EU und ihr Spardiktat völlig vom Tisch. Sie würde sich ihrer „Verantwortung“ stellen, heißt es auf der Website der Partei: „Die SP anerkennt die besondere Verantwortung, die eine Regierungsbeteiligung mit sich bringt. Sie hat damit auf lokaler Ebene bereits Erfahrung gesammelt. Finanzmanagement in einem politischen Rahmen, der sich aus Kompromissen mit anderen Parteien ergibt, die Entscheidung, wann man Kompromisse schließen oder standhaft bleiben muss, … nichts davon ist einfach für eine Partei, die die Niederlande und die Welt verändern will.“
Dabei lässt die SP keine Zweifel an ihrer Bereitschaft, mit allen anderen Partien zu koalieren, um an die Regierung zu gelangen. Zum Wahlauftakt der SP in Arnheim rief Roemer vor 2.500 Anhängern zu „einem gesellschaftlichen Bündnis von gleichgesinnten politischen Parteien, Arbeitern, Unternehmern und gesellschaftlichen Organisationen“ auf. Jeder, der sich „zu den Zielen von weniger Armut, geringerer sozialer Unterschiede, mehr gegenseitigem Respekt und Vertrauen“ bekenne, sei nach dem 12. September aufgerufen, „Hand in Hand mit uns zu arbeiten“.
Mit den Sozialdemokraten und den Grünen, die Rutte nach dem Absprung der Freiheitspartei bei der Verabschiedung seines Sparprogramms unterstützten, ist die SP sogar eine Listenverbindung eingegangen.
Sollte es noch Zweifel an der Staatstreue der SP geben, zerstört sie diese mit ihrem Eintreten für eine massive Aufrüstung des Staatsapparats. „Mehr Polizei auf der Straße führt zu mehr Sicherheit in der Nachbarschaft“, behauptet sie. Polizisten gehörten „vor allem auf die Straße und nicht hinter einen Schreibtisch“.
Auch die Arbeit der Justiz will die SP effektiver gestalten – freilich nicht, um kriminelle Finanzspekulanten zu verfolgen, sondern um für Ruhe und Ordnung im öffentlichen Leben zu sorgen: „Tatkräftig auftretende Richter und schnelle Ausführung der auferlegten Strafen helfen das Vertrauen in den Justizapparat zu vergrößern.“
Das ist eine Sprache, wie man sie nach den Jugendunruhen in Großbritannien im Sommer 2011 vor allem aus wohlhabenden Schichten des Kleinbürgertums hörte, die um die Sicherheit ihrer Besitztümer und ihren persönlichen Wohlstand fürchteten. Auf den Ausbruch der über Jahre angestauten Wut von Arbeitern und Jugendlichen haben sie mit dem Ruf nach einer starken Hand reagiert.
Es ist kein Zufall, dass gerade die SP solchen Stimmungen eine politische Stimme verleiht. Nicht von ungefähr hat sie ihre Basis vor allem im provinziellen Süden der Niederlande und nicht in den großen Städten. Ihre Appelle an Heimatgefühle verschleiern die eigentlichen Ursachen der weltweiten Krise und lenken die Angst des Kleinbürgertums vor dem gesellschaftlichen Abstieg gegen die schwächsten Teile der Gesellschaft.