Das Auswärtige Amt im Dritten Reich: „Eine verbrecherische Organisation“

Die Historikerkommission, die fünf Jahre lang die Geschichte des Auswärtigen Amtes (AA) in der Zeit des Nationalsozialismus und danach untersucht hat, kommt zu einem vernichtenden Urteil über dessen Mitwirkung bei den Verbrechen der Nazis. „Es war, man kann es gar nicht anders sagen, in diesem Sinne auch eine verbrecherische Organisation“, erklärte das Mitglied der 2005 vom damaligen Außenminister Joschka Fischer berufenen Unabhängigen Historikerkommission Eckart Conze.

Das Auswärtige Amt hatte sich seit 1933 aktiv an der Gewaltpolitik des Nationalsozialismus beteiligt und sich nach seiner Neugründung in der Bundesrepublik zu einem sicheren Hort für belastete Alt-Nazis entwickelt. An dem Netzwerk der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden hatte es zum Teil federführend mitgewirkt.

Die vier Historiker, Conze, Norbert Frei, Moshe Zimmermann (Israel) und Peter Hayes (USA) – der ursprünglich ebenfalls beteiligte Historiker Klaus Hildebrandt schied aus Krankheitsgründen aus – haben ihre Forschungsergebnisse in dem fast 900 Seiten starken Buch „Das Amt und die Vergangenheit“ (1) zusammengefasst, das am 25. Oktober im Blessing Verlag erschienen ist. Sie räumen darin mit der vor allem in der Nachkriegszeit gepflegten Legendenbildung auf, das Auswärtige Amt sei ein Hort des Widerstands gewesen. Sie decken in vielen Details auf, wie zahlreiche hochrangige Angehörige des Diplomatischen Dienstes ihre im Nazireich begonnene Karriere in der Bundesrepublik nahtlos fortsetzen konnten.

Die Kommission war 2005 von Außenminister Fischer eingesetzt worden, nachdem es im Auswärtigen Amt (AA) Streit über die Nachrufpraxis verstorbener Mitarbeiter und Diplomaten gegeben hatte. Fischer hatte die Ehrung ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Amts-internen Mitteilungsblatt eingestellt. Daraufhin wurde ihm vorgeworfen, er verweigere pauschal verdienten Diplomaten das „ehrenvolle Andenken“, das seit der Bismarckzeit in diesem Amt üblich war.

Die Historiker werteten in den fünf Jahren umfangreiches Quellen- und Archivmaterial aus – darunter die Aktenbestände, Personalakten und das politische Archiv des Auswärtigen Amts – und führten zwei große Zeitzeugenbefragungen durch. Sie konnten dadurch zahlreiche, schon früher publizierte Fakten bestätigen. Einige ältere Studien über das AA hatten zwar zum Teil mehrere Auflagen erlebt, wurden jedoch nur beschränkt wahrgenommen, weil in Justiz, Staatsapparat und teilweise auch in den Medien kein Interesse daran bestand. Man hätte zu deutlich die personelle Kontinuität des Dritten Reichs in der Bundesrepublik erkennen können.

Franz Nüßlein

Zur Auseinandersetzung um die Praxis des Auswärtigen Amtes, verstorbene Mitarbeiter mit einem Nachruf in der Hauszeitschrift AAintern zu ehren, war es nach dem Tode des Generalkonsuls Franz Nüßlein gekommen. Die pensionierte Übersetzerin und Sachbearbeiterin Marga Henseler, die über Nüßleins Nazi-Vergangenheit Bescheid wusste, hatte zunächst Außenminister Fischer einen Brief geschrieben, in dem sie den von Auslassungen und Verfälschungen geprägten Lebenslauf beanstandete.

Als Henseler aus Fischers Ministerium nur eine unbefriedigende Antwort erhielt, wandte sie sich an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Fischer ordnete daraufhin an, die Nachrufpraxis des „ehrenden Angedenkens“ zu ändern und nur noch über den Tod der betreffenden Person zu informieren.

Über Nüßleins Vergangenheit war zu diesem Zeitpunkt durch frühere historische Recherchen bereits Einiges bekannt. Als Staatsanwalt der Sondergerichte Brünn und Prag in der besetzten Tschechoslowakei war er wegen seiner „entschlossenen Bekämpfung von Reichsfeinden“ bevorzugt befördert worden. Er vollzog die Befehle von Reinhard Heydrich und Martin Bormann und soll auch mitverantwortlich für die Vergeltungsmaßnahmen nach dem Attentat auf Heydrich gewesen sein. Damals wurden die männliche Bevölkerung der Dörfer Lidice und Le‌áky getötet, die Frauen und Kinder ins KZ verschleppt und die Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Nüßlein hatte an rund 900 Todesurteilen mitgewirkt und in seiner Zuständigkeit für Gnadengesuche der zum Tode Verurteilten 95 Prozent abschlägig beschieden. All dies war in Prager Archiven einsehbar.

Die Amerikaner hatten Nüßlein nach dem Krieg an die Tschechoslowakei ausgeliefert, wo er 1948 als Kriegsverbrecher zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, von denen er jedoch nur sieben verbüßte. 1955 wurde er im Zuge der Entlassung von deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion als „nicht amnestierter Kriegsverbrecher“ in die Bundesrepublik abgeschoben. Dort gelang es ihm, sich als „Spätheimkehrer“ zu tarnen und in den diplomatischen Dienst einzutreten. Im Auswärtigen Amt landete Nüßlein dann in der Rechtsabteilung, in der sich, so belegen die Quellen, zahlreiche Alt-Nazis tummelten und im Sinne der Karriere der Kollegen von früher wirksam wurden.

Henseler hatte in ihrem Brief vor allem angeprangert, dass Nüßleins Verurteilung als Kriegsverbrecher im Nachruf verschwiegen wurde. Sie wusste davon, weil Verwandte Nüßlein kannten und weil sie die Erforschung der Geschichte des Auswärtigen Amtes seit Jahren aufmerksam verfolgt hatte. Sie hatte auch Dr. Hans-Jürgen Döscher kennen gelernt, der bereits 1988 ein Buch über das Auswärtige Amt und seine Altnazi-Seilschaften geschrieben hatte.

Außerdem war Henseler mit dem 1965 von der DDR herausgegebenen „Braunbuch“ vertraut, das die SS-Dienstränge und NS-Parteiämter von 1.800 Wirtschaftsführern, Politikern und führenden Beamten der Bundesrepublik auflistete, darunter auch die von Nüßlein und anderen Vertretern des Auswärtigen Amts. Das „Braunbuch“ wurde zwar damals von der Regierung Kiesinger (selbst ein ehemaliges NSDAP-Mitglied) als „kommunistisches Propagandawerk“ verurteilt und auf der Frankfurter Buchmesse beschlagnahmt, die Unabhängige Historikerkommission hat nun aber bestätigt, dass die Angaben in dem Buch „zum allergrößen Teil“ zutreffen. (S. 18)

Vieles war schon seit langem bekannt

Viele Einzelheiten über die braune Vergangenheit des Amtes waren in der Tat seit langem bekannt.

So hatte die 1978 erschienene Dissertation des US-Historikers Christopher Browning vieles über die Verstrickung der Deutschen Diplomatie in die Verbrechen des Nazis aufgedeckt. Bezeichnenderweise ist aber Brownings Buch erst mit dreißigjähriger Verspätung in deutscher Übersetzung erschienen. (2)

Auch Der Spiegel hatte bereits 1971 über eine umfängliche Schrift mit dem Titel „Beitrag zur Geschichte der Entstehung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland“ berichtet, die unter dem damaligen Außenminister Walter Scheel vom AA finanziert, aber nur einem ausgesuchten Kreis von Interessenten zugänglich gemacht worden war.

Im Vorwort dieser Schrift aus der Feder des Personalchefs des Amtes unter Konrad Adenauer, Wilhelm Haas, hieß es: „Kein anderer Zweig der Reichsverwaltung hat der Gleichschaltung durch den Nationalsozialismus so zähen Widerstand entgegengesetzt wie der Auswärtige Dienst.“ Laut Haas hätten die Diplomaten des Ministeriums „in ihrer überwiegenden Mehrheit frühzeitig die Gefahren des nationalsozialistischen Machtanspruchs“ erkannt, seien „gegenüber dem neuen Regime von Beginn an von Misstrauen erfüllt“ gewesen und hätten „instinktartig“ inneren Widerstand geleistet.

Diese Legende war seit Anfang der 1950er Jahre kontinuierlich verbreitet worden. Haas hatte schon am 20. April 1950 auf einer Pressekonferenz der Dienststelle für Auswärtige Angelegenheiten – dass AA gab es damals noch nicht – verkündet, dass von den 31 höheren Beamten der Dienstelle „nur 14“ Parteigenossen gewesen seien.

Der Spiegel kommentierte dies 1971 mit den Worten: „Den Nazis muss das [die Widerstandsarbeit im AA] wahrhaftig entgangen sein. AA-Herren nahmen – am 20. Januar 1942 – an der Wannseekonferenz über die ‘endgültige Bereinigung der Judenfrage’ (Endlösung) ebenso teil wie – neun Tage darauf – an einer Besprechung über den Entwurf eines Erlasses, in dem die Vokabel ‘Jude’ für die besetzten Ostgebiete definiert werden sollte. AA-Herren regelten direkt mit dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich die Unterbringung von Himmlers Polizeiattachés in den deutschen Auslandsvertretungen; sie bereiteten Hitlers Kriege diplomatisch vor und begleiteten Sonderkommandos, die in den besetzten Gebieten Kunstgegenstände ‘beschlagnahmten’. Sie wurden amtlich über jede Judendeportation, über jede Maßnahme Adolf Eichmanns unterrichtet, und sie erteilten fachmännischen Rat.“

Mit dem weiteren Ausbau des Auswärtigen Amtes stieg der Anteil von Ex-Nazis unter den 75 Ministerialdirektoren, -dirigenten und Referatsleitern auf 65 Prozent. Als der SPD-Abgeordnete Fritz Erler sich im Bundestag darüber aufregte, antwortete ihm Adenauer: „Wenn Sie sich die Dinge einmal in Ruhe überlegen, dann werden Sie nicht sagen können, dass man anders hätte verfahren können. Man kann doch ein Auswärtiges Amt nicht aufbauen, wenn man nicht wenigstens zunächst an den leitenden Stellen Leute hat, die von der Geschichte von früher her etwas verstehen.“ Er meinte dann weiter unter dem Beifall der Regierungsparteien CDU und FDP: „Wir sollten jetzt mit der Naziriecherei Schluss machen.“

Sicher war es kein Zufall, dass in den 1950er Jahren aus den Personalakten des AA etliche entlarvende Dokumente verschwanden, war doch die Personalabteilung des Amtes fest in der Hand ehemaliger Nazis und SS-Leute. Besonders übel agierte die Rechtschutzstelle des AA, in der u. a. auch der Jurist Dr. Nüßlein tätig war. Sie sorgte dafür, dass polizeilich gesuchte Kriegsverbrecher nicht versehentlich in Länder reisten, in denen sie Gefahr liefen, verhaftet zu werden.

Die Alliierten, denen die Besetzung der Posten im neuen, zunächst von Kanzler Adenauer selbst geführten AA mitgeteilt werden musste, wussten über all das Bescheid und billigten die Einstellungen im Rahmen ihrer Strategie des Kalten Krieges. Als Stellvertreter Adenauers im AA fungierte sein Vertrauter Herbert Blankenhorn, der seit 1929 nahtlos – auch während der Nazizeit – im AA tätig gewesen war. Blankenhorn hatte dem amerikanischen Geheimdienst 1945 sein Insiderwissen angedient und sich, obwohl er als aktiver Nazi und aggressiver Propagandist einschätzt worden war, zum Widerstandskämpfer stilisiert.

Als Leiter der Politischen Abteilung verhinderte Blankenhorn dann erfolgreich die Wiedereinstellung des angeblichen „Vaterlandsverräters“ Fritz Kolbe. Kolbe, der über die nationalsozialistischen Verbrechen schockiert war, hatte den Amerikanern seit 1943 unter Lebensgefahr Informationen geliefert, ohne dafür bezahlt zu werden. Er informierte u.a. über den Rückzug der deutschen Truppen in der Ukraine, Rohstofflieferungen via Spanien, die Dechiffrierung des amerikanischen Geheimcodes, Judendeportationen, das V-Waffenprogramm, die japanischen Pläne in Südostasien und NS-Spione.

Franz Rademacher

Beispielhaft für die enge Verflechtung von NSDAP, SS und Auswärtigem Amt war der Diplomat Franz Rademacher, dessen Biografie ebenfalls schon vor dem Erscheinen der Historikerstudie ziemlich gut bekannt war.

Rademacher war ehemaliger Angehöriger der rechtsradikalen Brigade Ehrhard, Jurist, SA-Mann, NSDAP-Mitglied seit 1933 und seit 1940 Leiter des Judenreferats im Auswärtigen Amt. Seine Hauptarbeit bestand darin, außenpolitisch dafür zu sorgen, dass Europa judenfrei wurde.

So hieß es in einer von Rademacher verfassten und von Martin Luther unterzeichneten Vortragsnotiz für Ernst von Weizsäcker vom 4. Dezember 1941: „Die Gelegenheit dieses Krieges muss benutzt werden, in Europa die Judenfrage endgültig zu bereinigen. Die zweckmäßigste Lösung hierfür wäre, alle europäischen Staaten dazu zu bringen, die deutschen Judengesetze bei sich einzuführen und zuzustimmen, dass die Juden unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit den Maßnahmen des Aufenthaltslandes unterworfen werden, während das Vermögen der Juden für die Endlösung zur Verfügung gestellt werden sollte.“

Rademacher arbeitete gleichzeitig wie Adolf Eichmann an dem so genannten Madagaskar-Plan, der vorsah, die Juden aus Deutschland, die man nicht anderweitig loswurde, in die damalige französische Kolonie im Indischen Ozean auszusiedeln. Im Frühjahr 1940 hielten die Spitzen des Naziregimes diesen Plan für brauchbar, weil sie durch einen baldigen Sieg über Frankreich und Großbritannien mit der Verfügungsgewalt über afrikanische Kolonien rechneten. Der Referatsleiter für „Judenfragen“ im Auswärtigen Amt wurde von Hitler mit der Umsetzung entsprechender Pläne des SS-Führers Heinrich Himmler beauftragt. Rademacher entwickelte daraufhin detaillierte Entwürfe und Vorschläge, an deren Verwirklichung man andere europäische Länder zu beteiligen beabsichtigte.

Anfang 1938, kurz vor dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, wurde Adolf Eichmann mit der Sammlung von Material für eine „außenpolitische Lösung der Judenfrage“ beauftragt. Rademacher arbeitete ihm zu.

Im Herbst 1941 war Rademacher direkt in das erste große Massaker an Juden in Serbien verwickelt, wo er im Auftrag seines Amtes eine endgültige Lösung der Judenfrage herbeiführen sollte. 1.300 Juden wurden dort erschossen. Den Zweck seiner Reise gab er auf seiner Reisekostenabrechnung mit „Liquidation von Juden in Belgrad“ an. Dass Rademacher nicht versuchte, den Zweck seiner Reise zu vertuschen, ist ein deutliches Indiz, dass der mörderische Charakter der „Endlösung“ im AA entgegen späterer Legendenbildung bereits damals allgemein bekannt war.

1942 war dann Rademachers Referat im Rahmen der auf der Wannseekonferenz beschlossenen „Endlösung der Judenfrage“ vor allem dafür zuständig, die möglichen außenpolitischen Verwicklungen zu minimieren. In zwei an die Unterstaatssekretäre Martin Luther, Friedrich Gaus und Ernst Woermann sowie an den Staatssekretär Ernst von Weizsäcker gerichteten Schreiben vom 7. März und vom 11. Juni 1942 informierte Rademacher diese über „Künftige Maßnahmen gegen Mischlinge I. und II. Grades” und die „Frage der Sterilisierung der 70.000 Mischlinge”.

Nach Kriegsende konnte Rademacher zunächst wie viele andere führende Nazis erfolgreich untertauchen, wurde jedoch 1947 von den Amerikanern aufgespürt und verhaftet. Zusammen mit Ernst von Weizsäcker und anderen leitenden Angehörigen des AA sollte Rademacher im so genannten Wilhelmstraßen-Prozess angeklagt werden, wurde jedoch merkwürdigerweise wieder von der Liste der Angeklagten gestrichen. Kurz darauf wurde er „irrtümlich“ freigelassen. Erst im März 1952 wurde ihm vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth ein Prozess gemacht, in dem er wegen Beihilfe zum „Totschlag“ an 1.300 Juden zu drei Jahren und fünf Monaten Haft verurteilt, aber bereits im Juli vorläufig wieder freigelassen wurde.

Mit Hilfe von Neonazis gelang ihm unter falschem Namen die Flucht nach Syrien, wo er erst 1963 wegen „Spionage“ verhaftet, aber wegen Krankheit 1965 wieder entlassen wurde. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde ihm im Mai 1969 vor dem Landgericht Bamberg erneut der Prozess gemacht, die dort verhängte Strafe galt aber als bereits verbüßt. Zu einem weiteren Prozess vor dem Bundesgerichtshof kam es nicht mehr, weil Rademacher im März 1973 starb.

Ernst von Weizsäcker

Ernst von Weizsäcker, der Vater des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, war Marineoffizier und seit 1920 für das Auswärtige Amt tätig. Weizsäcker war nicht nur eine Schlüsselfigur des AA in der Nazizeit. Seine und seines Sohnes Richards Versuche, die Mitwirkung bei den Verbrechen des Amtes als notwendige Tarnung für seine geheime Widerstandstätigkeit darzustellen, spielten eine Schlüsselrolle dabei, das Amt als Hort des Widerstand zu definieren.

Der Marineoffizier von Weizsäcker war ein typischer Vertreter der nationalistisch gesinnten, bürgerlichen Eliten, die zwar gewisse Vorbehalte gegen die Nationalsozialisten hatten, aber in vielen wesentlichen Fragen mit ihnen übereinstimmten. Ihr Dünkel hinderte sie in der Regel nicht daran, eng mit den Nazis zusammenzuarbeiten. So notierte Weizsäcker bezüglich des Boykotts jüdischer Geschäfte 1933: „Die anti-jüdische Aktion zu begreifen, fällt dem Ausland besonders schwer, denn es hat diese Judenüberschwemmung eben nicht am eigenen Leibe verspürt.“ Demokratie war für ihn ein „Krebsschaden“, und für Hitlers Reden war er voll des Lobes.

Seit September 1933 als Gesandter in der Schweiz, sprach sich Weizsäcker im Mai 1936 in einem Brief an das AA für die Ausbürgerung des Schriftstellers Thomas Mann aus. Dieser hatte in einem Offen Brief an den Redakteur Eduard Korrodi in der Neuen Zürcher Zeitung erklärt, „dass aus der gegenwärtigen deutschen Herrschaft nichts Gutes kommen kann, für Deutschland nicht und für die Welt nicht“. Mann habe, so kommentierte von Weizsäcker, „den bisherigen Langmut der deutschen Behörden gegenüber seiner Person mit höhnischen Bemerkungen bedacht“ und sich der „feindseligen Propaganda gegen das Reich im Ausland“ schuldig gemacht.

Mitte 1936 wurde Weizsäcker die vorläufige Leitung der Politischen Abteilung des AA übertragen, im April 1938 trat er in die NSDAP ein. Im gleichen Monat wurde er zum SS-Oberführer befördert und dem persönlichen Stab Himmlers zugeteilt. Vermutlich auf Wunsch des Führers wurde er 1937 Ministerialdirektor und 1938 erster Staatssekretär des AA. Damit war er nach Außenminister Ribbentrop der zweitwichtigste Mann. In dieser Funktion war er maßgeblich an der Ausarbeitung des Münchner Abkommens beteiligt, was er später damit rechtfertigen sollte, er habe auf diese Weise den Frieden erhalten wollen.

Weizsäcker spielte auch eine Rolle bei der Deportation von Juden, was der Bericht der Historikerkommission erneut bestätigt. Bei Deportationen aus besetzten oder verbündeten Staaten musste das AA seine Zustimmung geben, was es in der Regel auch tat. So äußerste Weizsäcker „keinen Einspruch“, als Adolf Eichmann 1942 6.000 Juden aus Paris nach Auschwitz transportieren wollte. Auch einen Erlass zur Deportation von 90.000 Juden aus Belgien, Holland und Frankreich zeichnete er ab.

Nach dem Krieg rechtfertigte sich Weizsäcker mit der Behauptung, er habe nicht gewusst, dass hinter Begriffen wie „Endlösung“ und „Arbeitseinsatz im Osten“ staatlicher Massenmord stehe. Angesichts der Tatsache, dass mit Unterstaatssekretär Martin Luther ein hochrangiger Mitarbeiter seines Hauses an der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 teilnahm, ist das unglaubwürdig. Luther hat ihm mit Sicherheit über den Plan berichtet, elf Millionen Juden in osteuropäische Lager zu deportieren und umzubringen, den Heydrich dort bekannt gab. Viele diesbezügliche Antworten auf Anfragen zur Deportation trugen seine Unterschrift oder Paraphe.

Ernst von Weizsäcker wurde im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess (benannt nach dem Sitz des AA in Berlin) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Verfolgung von Juden – und Verbrechen gegen den Frieden zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Verteidigt wurde er unter anderem von seinem Sohn Richard von Weizsäcker, Bundespräsident von 1984 bis 1994, der die Legenden über den angeblichen Widerstand seines Vaters auch nach der Veröffentlichung des Berichts der Historikerkommission aufrechterhält. Sein Vater habe sich dem Amt nur zur Verfügung gestellt, um den Ausbruch eines Krieges zu verhindern.

Vor Gericht hatte Ernst von Weizsäcker seine Mitwirkung bei den Judendeportationen mit dem Argument verteidigt, die in Frage kommenden Juden seien bereits interniert und in Gefahr gewesen. Daher habe man zum Schluss gelangen können, sie würden bei der Deportation nach Osten weniger Gefahr laufen als an ihrem derzeitigen Aufenthaltsort. Zu jener Zeit habe der Name Auschwitz für niemanden etwas Besonderes bedeutet. Die Richter äußerten allerdings Zweifel an dieser Darstellung.

In einem Interview mit der FAZ (3) vom 25. Oktober wiederholt Richard von Weizsäcker jetzt die Rechtfertigungsversuche seines Vaters. Auf eine Äußerung seines Vaters aus dem Jahr 1938 angesprochen, die Juden müssten Deutschland verlassen, „sonst gingen sie eben über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen“, antwortete er, es habe sich um eine Warnung und nicht um eine Drohung gehandelt.

Auch den Einsatz seines Vaters für das Münchener Abkommen, das das Ende der Tschechoslowakei besiegelte und Hitler den Weg nach Osten ebnete, verteidigte Weizsäcker: „Damals war klar genug zu erkennen, dass Hitler nicht vor einem Krieg zurückschrecken würde. Mein Vater dagegen wollte bei allen Veränderungen der europäischen Situation unbedingt den Frieden bewahren. Für dieses Ziel hat er sich eingesetzt, persönlich und in der Konspiration mit anderen. Im geheimen Zusammenwirken mit dem britischen Botschafter Henderson, mit dem Schweizer Völkerbundskommissar Burckhardt und dem italienischen Botschafter Attolico gelang es ihm, das Münchner Abkommen zu ermöglichen. Das war nur zunächst eine friedliche Lösung mit der Unterschrift Hitlers. Hitler hat später im Krieg diese Unterschrift, die wenigstens damals den Frieden sicherte, als seinen größten außenpolitischen Fehler bezeichnet.“

Auf die Frage nach der persönlichen Schuld zitierte Weizsäcker die Schlussworte des Vaters beim Wilhelmstraßenprozess: „Mein Ziel war der Frieden, der Friede für meine Heimat. Ich diente ihm zuerst mit Erfolg, danach erfolglos. Die Gefahr, von beiden Seiten missverstanden zu werden, ließ sich nicht vermeiden. Erfolg und Verstandenwerden sind nicht die letzten Kriterien des Handelns. Stünde ich heute noch einmal vor derselben Entscheidung, müsste ich sie wieder so fällen.“

Das Urteil von sieben Jahren Gefängnis, das später auf fünf Jahre verkürzt wurde, bezeichnet Sohn Richard auch heute noch als „historisch und moralisch ungerecht“. Die Geschichtsklitterung geht also weiter.

Doch auch wenn von Weizsäcker behauptet, der Bericht der Historikerkommission sei „kein Buch über meinen Vater“, versetzt der einem breiten Publikum zugängliche Bericht der Mythenbildung um Vater Weizsäcker einen empfindlichen Schlag. Der Historikerbericht zeichnet detailliert nach, wie die politische Elite im Auswärtigen Amt unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme einen Prozess der „Selbstgleichschaltung“ vollzog. Auch wenn sie gewisse Vorbehalte gegenüber den Nazis hatten, stimmten die meisten führenden Diplomaten in den wesentlichen politischen Zielen mit ihnen überein – der Großmacht- und Expansionspolitik, der Verachtung für die Weimarer Demokratie und dem Antisemitismus.

Der „Sieg der ‚nationalen Bewegung’ über die Republik“ galt ihnen „als Grundvoraussetzung für einen Wiederaufstieg Deutschlands“ und für die Wiederherstellung des Deutschen Reichs als Großmacht, wie die Autoren schreiben. „Ihre Ablehnung der Weimarer Demokratie machte sie empfänglich für die Versprechungen eines autoritären Machtstaats, der die Politik gegen Versailles zunehmend forcierte.“ (S. 65, 39)

Ernst von Weizsäcker war der „Inbegriff“ und die „paradigmatische Figur für das moralische Versagen der deutschen Oberschicht im Nationalsozialismus“, wie Mitautor Eckart Conze bei der Vorstellung des Berichts in Berlin bemerkte. Schon zwei Monate nach Hitlers Machtübernahme, am 30. März 1933 hatte er notiert: „Unsereiner muss die neue Ära stützen. Denn was käme denn nach ihr, wenn sie versagte!“

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Anmerkungen

1) Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit .Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. 880 Seiten.

2) Christopher R. Browning: The Final Solution and the German Foreign Office. A Study of Referat D III of Abteilung Deutschland 1940-43. Holmes & Meier, New York/London 1978. Deutsch: Die „Endlösung“ und das Auswärtige Amt. Das Referat D III der Abteilung Deutschland 1940-1943. WBG, Darmstadt 2010.

3) http://www.faz.net/s/RubB8A1F85C9BA549618318CE82246337B9/Doc~EFAA0DA10419D47BD80C8021665E3453E~ATpl~Ecommon~Scontent.html

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