Die Bundesregierung tritt immer offener als verlängerter Arm von Banken- und Konzerninteressen auf. Schon vor zwei Jahren hatte sie das Bankenrettungspaket weitgehend von den Bankvorständen, allen voran von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, ausarbeiten lassen. Vor wenigen Tagen erfüllte sie dann mit der Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke einen Herzenswunsch der großen Energiekonzerne. Und nun ist bekannt geworden, dass auch die Bestimmungen für die Zulassung neuer Arzneimittel direkt aus der Feder der Pharmalobby stammen.
Vor etwa einem halben Jahr hatte die schwarz-gelbe Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) das so genannte Arzneimittelsparpaket beschlossen. Es sah vor, dass ein gemeinsamer Bundesausschuss von Kassen und Ärzten die Rahmenbedingungen für die Nutzenanalyse von Medikamenten festlegt, die neu auf den Markt kommen. Nun haben die Koalitionsfraktionen von CDU und FDP beschlossen, dass die Bundesregierung die Kriterien per Verordnung bestimmt. Von den Kriterien hängt ab, ob und wie Medikamenten ein wichtiger Zusatznutzen bescheinigt wird, was höhere Preise rechtfertigt.
Die Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen sind nahezu identisch mit Vorschlägen des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller (VFA). Das beweisen Auszüge aus Unterlagen, die die Frankfurter Rundschau veröffentlicht hat. Danach hält es der VFA „angesichts der großen praktischen und wirtschaftlichen Auswirkungen“, die die Nutzenbewertung für die pharmazeutischen Unternehmen hat, für geboten, dass das Bundesministerium für Gesundheit die wesentlichen Grundsätze verbindlich festlegt. Das Papier des VFA schlägt konkrete Formulierungen für eine entsprechende Gesetzesänderung vor, die sich im Änderungsantrag der Koalition nahezu wörtlich wieder finden.
Der VFA will insbesondere, dass das Ministerium festlegt, „welche Grundsätze für die Bestimmung der Vergleichstherapie gelten, in welchen Fällen zusätzliche Nachweise notwendig sind, unter welchen Voraussetzungen Studien welcher Evidenzstufe zu verlangen sind sowie Übergangsregelungen für diejenigen Arzneimittel, mit denen bereits Studien begonnen oder abgeschlossen wurden.“ Auch das findet sich Wort für Wort im Änderungsantrag der Koalition wieder.
Die Regierungskoalition gab sich keine Mühe, den Grund für diese Änderung des ursprünglichen Gesetzesentwurfs zu verschleiern. Man müsse auch die Belange der Pharmaindustrie berücksichtigen, schließlich ginge es um 100.000 Arbeitsplätze, hieß es aus Koalitionskreisen. Auch dieses Argument stammt direkt von der Pharma-Lobby.
Als Gesundheitsminister Philip Rösler (FDP) Ende März ankündigte, das Arzneimittelsparpaket ringe den Herstellern zwei Milliarden Euro durch Preismoratorien und Rabatte ab, gingen die Pharmaverbände auf die Barrikaden. Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) und der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) empörten sich ebenso wie der VFA.
„Willkür“ und „Gift für den Standort Deutschland“ seien die Pläne, erklärte damals der VfA. Dessen Hauptgeschäftsführerin Cornelia Yzer drohte mit Arbeitsplatzabbau: „Die Politik nimmt damit einen Stellenabbau in Kauf und untergräbt den Patentschutz, der für die Unternehmen existenziell ist.“ Das Eckpunktepapier sei ein massiver Staatseingriff in den freien Wettbewerb – und das von einem FDP-geführten Ministerium.
Nun hat die Regierung klein beigegeben. Sie begründet dies mit der Sorge, dass sich im Bundesausschuss der Kassen und Ärzte die Krankenkassen mit einer reinen Kostenbetrachtung durchsetzen könnten. „Wir wollen, dass der Pharmastandort Deutschland attraktiv bleibt“, argumentierte Unions-Fraktionsvize Johannes Singhammer (CSU).
Geht es darum, die Leistungen für die Versicherten zu kürzen oder deren Beiträge zu erhöhen, argumentiert die Regierung stets mit einer „reinen Kostenbetrachtung“. Aber für die Pharmaindustrie gelten offensichtlich andere Maßstäbe.
Damit opfert die schwarz-gelbe Koalition das Arzneimittelsparpaket, das den Namen schon zuvor kaum verdient hatte, endgültig den Interessen der Pharmaindustrie. Diese kann die verordneten Rabatte für die Gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von zwei Milliarden Euro locker kompensieren. Denn „freier Wettbewerb“ besteht im Arzneimittelmarkt kaum.
In keinem anderen Land Europas sind wegen der politischen Rahmenbedingungen die Preise für Medikamente so hoch wie in Deutschland. Die Arzneimittelpreise sind allein im letzten Jahr um bis zu 25 Prozent gestiegen.
Laut dem neuen Arzneiverordnungsreport ließen sich über neun Milliarden Euro sparen, wenn Arznei hier nicht teuerer als beispielsweise in Schweden wäre. Der Herausgeber des Arzneiverordnungsreports Ulrich Schwabe berichtet, dass die 50 führenden patentgeschützten Arzneimittel in Deutschland im Schnitt 48 Prozent teurer sind als die entsprechenden Präparate in Schweden.
Bei den Generika, also den Präparaten mit abgelaufenem Patentschutz, sei die Preisdifferenz zum Ausland noch extremer. So habe das Magenmittel Omep in Deutschland bislang 60,46 Euro gekostet, in Schweden dagegen nur 9,36 Euro. Der deutsche Preis habe demnach 546 Prozent des schwedischen betragen. Insgesamt seien die 50 umsatzstärksten Generika im Durchschnitt fast doppelt so teuer wie in Schweden.
Der von Schwab genannte mögliche Einsparbetrag von 9,4 Milliarden Euro bedeutet ein Drittel des Umsatzes von Fertigarzneimitteln aller gesetzlichen Krankenkassen.
Während die Arzneiverordnungen in den letzten Jahren ständig gesunken sind, nahmen die Umsätze und Gewinne der Pharmakonzerne stetig zu. „Es sind nicht die Ärzte, die zu teuer verordnen, und auch nicht die Apotheker, die immer nur teure Arzneimittel verkaufen. Es sind auch nicht die Patienten, die immer nur teure Arzneimittel haben wollen“, stellte Schwab klar. „Es ist die Pharmaindustrie, die so hohe Preise verlangt.“
Im vergangenen Jahr stiegen die Ausgaben für verschreibungspflichtige Medikamente um 5,3 Prozent auf mehr als 32 Milliarden Euro. Bei patentgeschützten Medikamenten gab es sogar einen Zuwachs von fast neun Prozent. Insbesondere bei teuren Spezialmitteln sahnen die Konzerne ab. Sie werden zwar nur in zwei Prozent der Fälle verordnet, machten im vergangenen Jahr aber gut ein Viertel der Gesamtausgaben aus.
In der letzten Woche gab die Frankfurter Rundschau einen Überblick über die Arbeit der Pharmalobby in den letzten Jahren. Unter dem Titel „Im Auftrag der Industrie“ zeigte der Artikel auf, „wie die Pharmalobby die Parteien von der Linken bis zur FDP für ihre Ziele eingespannt hat“.
Dass die Bundesregierung jetzt die Regeln für die Bewertung des medizinischen Nutzens von Arzneimitteln ändern will, hält der Autor Daniel Baumann für einen „grandiosen Sieg, für den die Lobby geduldig gekämpft hat“. Baumann berichtet von einem Treffen am 14. Juli 2008 in einem Hotel am Berliner Gendarmenmarkt. Die Chefin des VFA Cornelia Yzer sprach dort über Gesundheitspolitik und kritisierte den Berliner Senat von SPD und Linkspartei. Berlin nehme die Standortinteressen im Bundesrat nicht wahr. „Schon tags darauf erklärt Berlins Wirtschaftssenator Harald Wolf (Die Linke), dass er sich bemühen werde, ‚Gesundheits- und Wirtschaftspolitik stärker miteinander zu verzahnen‘. Der Senat wird sich daran halten.“
Baumann schildert auch, wie sich der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) am 9. Oktober 2008 bei der Einweihung der neuen Deutschlandzentrale des Pharma-Multis Pfizer bei dessen Chef Andreas Penk in Berlin anbiederte. „Wowereit lobt die Vorzüge Berlins als Lobbystandort und bietet die Dienste des Senats als Vermittler zwischen Bundespolitik und Pharmaindustrie an“, so Baumann. Wowereit habe schon ein Treffen mit der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) arrangiert. „Es ist ein Kniefall.“
Der Kontakt zu Ulla Schmidt war den Pharmakonzernen wichtig. Denn sie hatte 2003 mit der Einrichtung des „Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ (IQWIG) eine, wenn auch harmlose, Kontrollinstanz eingerichtet. Der Mediziner Peter Sawicki untersuchte als Leiter des Instituts kritisch die Arzneimittelstudien und stufte schon schnell die ersten Präparate als nutzlos ein. Jetzt bangte die Industrie, so der Autor.
Er beschreibt dann, wie sich VFA-Chefin Yzer mit allen Mitteln für die Ablösung Sawickis einsetzte. Aber erst mit „ Wowereits Kniefall“ sei dem VFA der Durchbruch gelungen. Am 19. Juni 2009 äußerte die Wirtschaftsministerkonferenz der Länder, zu der damals auch Philip Rösler als niedersächsischer Wirtschaftsminister gehörte, die „Sorge, dass das bisherige Vorgehen des IQWIG zu erheblicher Verunsicherung in der pharmazeutischen Industrie geführt hat“. Die Methoden des Instituts müssten künftig auch volkswirtschaftliche Interessen berücksichtigen. Gemeint waren die Interessen der Pharmaindustrie.
Das geschah. Sawicki wurde auf Betreiben der Bundesregierung abgesetzt, sein Vertrag lief am 31. August aus. Philip Rösler, mittlerweile zum Bundesgesundheitsminister avanciert, setzt sich auch weiterhin ungeniert für die Interessen der Pharma-Industrie und jene der privaten Krankenkassen (PKV) ein.
Letzteren lässt er mit einer kürzlich angekündigten Gesetzesänderung laut Berechnungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eine Milliarde Euro zukommen, bei einem Gewinn der gesamten PKV von 300 Millionen Euro im letzten Jahr eine stolze Summe. Rund eine halbe Milliarde Euro bringt ihnen allein das Vorhaben, die Frist für einen Wechsel in eine Privatkasse, der ab einem monatlichen Brutto-Einkommen von 4.162,50 Euro möglich ist, von drei Jahren auf ein Jahr zu verkürzen.
Weitere 250 Millionen Euro sollen den PKV zufließen, weil die Regierung der gesetzlichen Krankenversicherung verbieten will, Zusatzleistungen in Form von Wahltarifen anzubieten. Da auch die PKV teilweise die Arzneimittel-Rabatte der GKV zugestanden bekommt, sparen die Privatversicherer zusätzliche 250 Millionen Euro. Ihr Mantra vom „freien Wettbewerb“ scheint die Regierung nicht bei den PKV und der Pharmaindustrie zu bemühen, sondern nur, um Kürzungen zu Lasten der Versicherten durchzusetzen.
Die zahlreichen Gesundheitsreformen der letzten Jahre, die meist im Namen des „Wettbewerbs“ erfolgten, haben die solidarische (einkommensabhängige) und paritätische (jeweils zur Hälfte durch Arbeitgeber und Beschäftigte) Finanzierung der Krankenversicherung, die bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht, schon weitgehend zerstört. Zum Gesamtetat der Gesetzlichen Krankenversicherung von 170 Milliarden Euro in diesem Jahr tragen die Unternehmen nur noch zu 38 Prozent bei. Den Großteil – 62 Prozent oder über 105 Milliarden Euro – zahlen die Versicherten.