Italien: Freibrief für staatliche Gewalt

Zweites "Schandurteil" um den G8-Gipfel 2001 in Genua

Auch der zweite Prozess in Genua um die schweren Polizeiübergriffe während des G8-Gipfels 2001 endete mit Freisprüchen und milden Urteilen.

Am 13. November wurde nach dreijährigen Verhandlungen das Urteil im Prozess um die Razzia in der Schule Armando Diaz gesprochen. Dort hatten im Juli 2001, während des G8-Gipfels von Genua, 150 Polizisten schlafende Globalisierungsgegner überfallen und über sechzig von ihnen krankenhausreif geprügelt.

Mehr als die Hälfte der 29 Angeklagten sind jetzt freigesprochen worden, unter ihnen alle hochrangigen Offiziere. Die damaligen Verantwortlichen, die heute durchwegs hohe Positionen im Staatsdienst bekleiden, konnten das Gericht als freie Männer verlassen.

Die übrigen dreizehn Angeklagten - Bereitschaftspolizisten und Zugführer, die unmittelbar an der Razzia beteiligt waren, sowie zwei Polizisten, die falsche Beweise konstruiert hatten - wurden zu Freiheitsstrafen von einem Monat bis vier Jahren verurteilt. Keiner von ihnen wird seine Strafe absitzen müssen. Die Urteile sind großenteils "zur Bewährung" ausgesetzt, und die übrigen Strafen werden als verjährt gelten, sobald das neue Amnestiegesetz der Regierung Berlusconi im Januar 2009 in Kraft tritt. Die Staatsanwaltschaft hatte für 28 Angeklagte insgesamt 108 Jahre Haft gefordert.

Die Opfer und ihre Familienangehörigen, die als Nebenkläger auftraten, wie auch zahlreiche Prozessbeobachter riefen "Schande, Schande", als das Urteil verkündet wurde. Viele von ihnen kündigten an, vor dem europäischen Gerichtshof in Berufung zu gehen.

Die Razzia in der Diaz-Schule war Teil der Auseinandersetzungen um den G8-Gipfel 2001 in Genua, zu dem damals Silvio Berlusconi kurz nach seinem Amtsantritt eingeladen hatte. Eine Viertelmillion Menschen kamen in die norditalienische Hafenstadt, um gegen die Politik der versammelten Staatsoberhäupter zu protestieren.

Am Rande der dreitägigen Aktionen kam es zu bürgerkriegsähnlichen Szenen, als ein dubioser "Schwarzer Block" einfiel und wahllos Schaufenster zertrümmerte, Autos in Brand steckte und eine Spur der Verwüstung hinterließ. Die Gewalttäter handelten offensichtlich im Einvernehmen mit den Staatsorganen, die sich auffällig passiv verhielten. Anschließend ging die Polizei mit Knüppeleinsatz, Tränengas und Wasserwerfern gegen friedliche Demonstranten vor. Das Ergebnis lautete: Ein toter Jugendlicher, 500 Verletzte und über 300 Verhaftete.

Mithilfe zahlreicher Augenzeugenberichte, Filmaufnahmen und Beweismittel sind während der letzten sieben Jahre die Vorgänge in Genua minutiös rekonstruiert worden. (Siehe zum Beispiel: "Gipfelstürmer. Die Blutigen Tage von Genua", Dokumentation des WDR von 2002, http://video.google.de/videoplay?docid=-8876259762606192748).

Was die Razzia in der Diaz-Schule betrifft, so liegt der Sachverhalt heute klar zutage. Es handelte sich um einen unprovozierten Überfall der Staatsmacht auf völlig wehrlose Unbewaffnete. Die Prügelorgie bildete Höhepunkt und Abschluss der Polizeigewalt von Genua. Die Rechtfertigungsversuche der Polizei haben sich seither als haltlos und konstruiert erwiesen, wie zum Beispiel die Behauptung, es seien zwei Molotowcocktails in der Schule gefunden worden: Eben jene Molotowcocktails waren erwiesenermaßen vor ihrer "Entdeckung" von zwei Polizisten selbst platziert worden.

Die Razzia betraf zwei Schulgebäude, die Pertini- und die Pascoli-Schule, die beide zum Komplex Armando Diaz gehören. Die Stadt Genua hatte sie dem Genueser Social Forum, dem Koordinator der Proteste, zur Verfügung gestellt. In der Pascoli-Schule waren Medienräume und das Sanitätszentrum untergebracht, während die Pertini-Schule vor allem als Übernachtungsort diente. Hier befanden sich am letzten Abend noch etwa hundert Globalisierungskritiker, als die meisten Teilnehmer schon auf der Heimreise waren.

Fast alle lagen schon im Schlafsack, als gegen Mitternacht 150 vermummte, behelmte Polizisten eindrangen. Ohne Ankündigung begannen sie mit einer systematischen, andauernden Prügelorgie, der niemand entgehen konnte. Ein Zeuge, ein älterer Mann, sagte später dem Gericht: "Als ich den Lärm hörte, dachte ich, das seien die so genannten ‚black blocks’. Es war aber unsere Staatspolizei." Der Sechzigjährige erlitt einen Beinbruch, einen Armbruch und zehn gebrochene Rippen. 61 Personen wurden verletzt, zum Teil sehr schwer. 93 Menschen wurden festgenommen, aber alle später wieder freigelassen, da ihnen nichts nachgewiesen werden konnte.

Auch in der Pascoli-Schule fand eine Razzia statt; hier wurden Rechner zerstört und die Festplatten von Anwälten beschlagnahmt, auf denen bereits Anzeigen von Demonstranten gespeichert waren. Reporter und Sanitäter wurden in einem Raum zusammengetrieben und festgehalten. Als sie sich endlich wieder frei bewegen konnten, begutachteten sie die Zerstörung im Nachbarhaus: In den Räumen der Pertini-Schule trafen sie keinen Menschen mehr an, nur noch Blutlachen und Spuren sinnloser Gewalt.

Ein Genueser Arzt sagte vor Gericht aus, er habe noch gesehen, wie beim Abzug der Polizei Verletzte auf Bahren heraus getragen worden seien. Als er die Schule endlich betreten konnte, sei sie leer gewesen. "Selbstverständlich kann Blut mich nicht beeindrucken", sagte der Arzt, "aber jener Teppich aus blutgetränkten Alltagsgegenständen - Schlafsäcken, Zahnbürsten, Unterwäsche, Papiermaterial - hat mich doch schockiert."

Das bestätigte eine Krankenschwester, die das Pertini-Gebäude nach der Razzia als eine der ersten betrat: "Überall war Blut, so viel Blut. Ich nahm sofort einen Blutgeruch wahr, der sich mit dem von Kot und Urin mischte", sagte sie. Die Krankenschwester, die sich damals freiwillig am Sanitätsdienst des Social Forums beteiligte, berichtete, sie habe eigentlich gedacht, in Genua "würden wir es hauptsächlich mit hitzebedingten Problemen zu tun bekommen. ... Die Ereignisse haben dann einen ganz anderen Lauf genommen. Das Sanitätspersonal musste sich um eine hohe Zahl von Verletzten kümmern: Es waren vor allem Verletzungen an den Unterarmen und gebrochene Finger, also Verletzungen, die bei der Abwehr von Schlägen entstehen."

Heute finden sich buchstäblich Hunderte von Augenzeugenberichten auf dem Internet. Eine wertvolle Aussage vor Gericht war jene eines Polizeioffiziers. Michelangelo Fournier war damals als Chef eines schnellen mobilen Einsatzkommandos in der Schule und später Mitangeklagter im Prozess. Fournier bezeichnete das Vorgehen der Staatsmacht als "blindwütigen Einsatz", der ein erschreckendes "Massaker" hinterlassen habe. Fournier selbst wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Mark Covell, ein Journalist, der für die BBC und Indymedia arbeitet, wurde vor dem Schulkomplex auf der Straße von Polizisten überfallen. Obwohl er seinen Presseausweis zeigte, wurde er von fünf Polizisten zusammengeschlagen, auf den Boden geworfen und weiter traktiert, bis er das Bewusstsein verlor. Er erlitt mehrere Rippenbrüche, eine Verletzung seines linken Lungenflügels, eine Rückgratsverletzung, einen Knochenbruch an der linken Hand und den Verlust von zwölf Zähnen.

Die Urteile um die Genueser Ereignisse vom Juli 2001 haben mit sachlicher Rechtsprechung wenig zu tun. Sie tragen Züge einer Polizeistaatsjustiz. Das Verfahren gegen den Polizisten, der am 20. Juli 2001 den 23-jährigen Carlo Giuliano in Genua erschossen hatte, wurde 2003 eingestellt. Vor einem Jahr endete ein Prozess gegen 24 jugendliche Demonstranten mit teilweise sehr hohen Gefängnisstrafen (bis zu elf Jahren Haft).

Ein weiterer Prozess, der die Exzesse in der Polizeikaserne Bolzaneto behandelte, endete im Juli 2008 mit Freisprüchen und sehr milden Strafen für die Staatsbeamten.

Die Lehren aus den Genua-Prozessen

Die Prozesse kommen einem Freibrief für künftige Übergriffe der Staatsorgane gleich. Die Vorgänge um den G8-Gipfel 2001 werfen insgesamt schwerwiegende Fragen auf, die keiner der bisherigen Prozesse beantwortet hat. Wer war tatsächlich für die Gewaltexzesse verantwortlich? Und welche Schlüsse sind daraus für heute zu ziehen?

Heute existiert in Italien eine Situation, in der derselbe Silvio Berlusconi, der damals an der Spitze des Staates stand, wieder Regierungschef ist. Er ist mit einer wachsenden Protestbewegung der Schüler und Studenten konfrontiert, denen sich immer größere Arbeiterschichten anschließen. Im kommenden Jahr muss der Ministerpräsident erneut einen G8-Gipfel in Italien ausrichten.

Vor wenigen Tagen äußerte Berlusconi in Bezug auf die demonstrierenden Schüler und Studenten, er werde dem Innenminister "genaue Anweisungen geben, wie er mit den Sicherheitskräften eingreifen muss, damit solche Sachen nicht passieren". Dazu äußerte sich ein weiterer einflussreicher Staatsmann, der Christdemokrat Francesco Cossiga, mit Worten, die aufhorchen lassen.

Cossiga ist Senator auf Lebenszeit und vormaliger Innenminister, Premierminister und Staatspräsident. In einem Interview mit dem rechten Quotidiano Nazionale erklärte er zu Berlusconis Äußerungen: "Ich bedaure nur, dass seinen Worten keine Taten folgen", und gab der Regierung den Rat, zu tun, was er selbst, Cossiga, bereits als Innenminister getan habe: "Die Polizei von den Straßen und Universitäten abziehen, die Bewegung mit Agents provocateurs infiltrieren, die zu allem bereit sind, und den Demonstranten etwa zehn Tage lang freie Hand lassen, um Schaufenster einzuschlagen, Autos in Brand zu stecken und die Stadt zu verwüsten."

Dadurch könne man die öffentliche Meinung für sich gewinnen, um "ohne Mitleid" gegen die Demonstranten vorzugehen. Man müsse sie alle krankenhausreif schlagen, auch die jungen Lehrerinnen, denn sie ermutigten die Kinder, auf der Straße zu demonstrieren, und das sei "kriminell". Das habe nichts mit einer Rückkehr von Faschismus nach Italien zu tun, sondern es sei "der demokratische Weg: Man muss die Flamme austreten, ehe sich das Feuer ausbreitet."

Wer sich die Worte Cossigas durch den Kopf gehen lässt, und dann die Berichte über die Vorgänge um den G8-Gipfel von 2001 liest, der muss zwangsläufig zum Schluss kommen: Was Cossiga vorschlägt, ist damals in Genua passiert.

Gleichzeitig gibt es zurzeit keine politische Partei in Italien, die Jugendliche und Arbeiter vor einem solchen Vorgehen des Staates warnen und sie darauf vorbereiten würde - auch nicht Rifondazione Comunista, und schon gar nicht die oppositionelle Demokratische Partei PD von Walter Veltroni.

Kurz nach Beginn der Genua-Prozesse 2005 kam die Regierung von Romano Prodi ins Amt, an der sich Rifondazione Comunista beteiligte. Aber die so genannte "Linksregierung" unternahm nichts, um die Vorgänge von Genua aufzuklären, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und eine Wiederholung für die Zukunft auszuschließen.

Der nationale Polizeichef von 2001, Gianni di Gennaro, blieb bis Ende 2007 im Amt und wurde auch nach seiner Absetzung nicht vor Gericht gestellt, sondern zum Müll-Sonderkommissar in Neapel ernannt. Unter Prodi ist Italien nicht einmal der Anti-Folter-Konvention der UNO beigetreten.

Noch im Jahr 2001 hatte Rifondazione Comunista gemeinsam mit den Social Forums, den Grünen und vielen bürgerlich liberalen Kräften die Einsetzung einer internationalen, unabhängigen Untersuchungskommission gefordert, um europaweit Zeugen zu hören und die Ereignisse lückenlos aufzuklären. Kaum war Rifondazione an der Macht beteiligt, kaum hatte sie die Möglichkeit, das Vorhaben in die Tat umzusetzen, ließ sie die Forderung fallen.

Das feige Zurückweichen der "Linken" spielt eine wesentliche Rolle dabei, die rechtesten Elemente in Staat und Regierung zu stärken und zu ermutigen. Es unterstreicht, wie dringend nötig es ist, in Italien eine neue Arbeiterpartei aufzubauen, die vom Staat und von sämtlichen etablierten Parteien unabhängig ist.

Siehe auch:
Urteil im Bolzaneto-Prozess: Staatliche Gewaltorgie beim G8-Gipfel von Genua bleibt ungesühnt
(25. Juli 2008)
Italien: Studentenstreik weitet sich aus - Cossiga fordert Einsatz von Agents provocateurs
( 18. November 2008)
Der Preis des Opportunismus: Zum Kollaps von Rifondazione Comunista in Italien
( 24. April 2008)
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