Mitte Mai 1944, nach dem Durchbruch der Allierten bei Cassino, beschleunigte sich die Rückzugsbewegung der deutschen Truppen nach Norditalien. Dabei wurden sie durch verstärkte Aktivitäten von Partisanen, vor allem durch Sabotagehandlungen gegen die Infrastruktur, die Zerstörung von Nachrichtenverbindungen, Verkehrswegen und Transportmitteln sowie durch Überfälle auf Nachschubtransporte ernsthaft gefährdet und behindert.
Die Reaktion der deutschen Wehrmacht war erneut hart und brutal. In einem "Aufruf an die italienische Bevölkerung" heißt es: "Verbrecherische Elemente haben in den letzten Tagen in Zivil aus dem Hinterhalt wiederholt auf deutsche Soldaten geschossen. Zur Sühne dieses Verbrechens sind verschiedene Ortschaften niedergebrannt und eine Anzahl männlicher Einwohner dieser Ortschaften standrechtlich erschossen worden." Des weiteren wurden die Bewohner einer jeden Gemeinde in ihrer Gesamtheit dafür in Haftung genommen, dass keine weiteren Sabotage-Akte oder Überfälle auf einzelne deutsche Soldaten verübt werden.
Aber alle Drohgebärden und Repressalien nutzten nichts, sondern erreichten das Gegenteil. Die feindselige Haltung der Bevölkerung und ihre Unterstützung für die Widerstandskämpfer nahm zu. Daraufhin verfügte Feldmarschall Kesselring am 17. Juni 1944 eine "Neuregelung in der Bandenbekämpfung". Neben einer genauen Auflistung von Verantwortlichkeiten enthält diese Neuregelung auch die unmissverständliche Sanktionierung des deutschen Vergeltungsterrors.
Friedrich Andrae*) kommentiert dies mit den Worten: "Für die Bekämpfung der Partisanen erhalten die Einsatzführer faktisch freie Hand, vorausgesetzt sie lassen es an größter Schärfe nicht fehlen; Fehlgriffe bei der Wahl der einzusetzenden Mittel sind,immer noch besser, als Unterlassung und Nachlässigkeit', deshalb werde er jeden Führer decken, der in der Wahl und Schärfe des Mittels bei der Bekämpfung der Banden über das bei uns übliche zurückhaltende Maß hinausgeht'; für Straf- und Abschreckungsmaßnahmen ist,nur sofortiges schärfstes Eingreifen' geeignet, die,Banden sind anzugreifen und zu vernichten'. Eine fast gleich lautende carte blanche hatte der SS-Oberführer und Oberst der Polizei wenige Tage zuvor in einem Befehl an seine Polizeieinheiten ausgegeben."
Später stellt Andrae noch einmal ausdrücklich fest: "Der,Bandenbefehl' setzt für den militärischen Bereich Recht und Gesetz außer Kraft, wie es nach dem Röhm-Putsch 1934, nach den Judenpogromen im November 1938 und seit Beginn des Unternehmens Barbarossa 1941 die politische Praxis der Herren im Großdeutschen Reich war." Das deutsche Kriegsrecht verweigerte den italienischen Partisanen die Anerkennung als kriegsführende Partei. Sie galten als rechtlos und wurden als "Banditen" kriminalisiert. Banditen aber waren laut Führerbefehl auszurotten und zu vernichten.
Nach der Befreiung Roms Anfang Juni 1944 versuchten sich die deutschen Truppen auf die sogenannte Gotenlinie zurück zu ziehen, diese zu befestigen und so lange wie möglich zu halten. Die Gotenlinie sollte entlang des Apennin-Hauptkammes verlaufen und die italienische Halbinsel quer durchziehen. Bereits seit Herbst 1943 war geplant, sie festungsmäßig auszubauen. Bei der Umsetzung dieses Plans stießen die deutschen Truppen aber auf erhebliche Schwierigkeiten. Eine der größten bestand darin, genügend Zwangsarbeiter aus der italienischen Bevölkerung zu rekrutieren. Immer mehr Zwangsarbeiter schlugen sich auf die Seite der Partisanen und verschwanden in die Wälder und Berge, anstatt die deutsche Verteidigungslinie zu bauen. Sie wurde nie fertig gestellt und konnte nur wenige Monate gehalten werden.
Widerstand von Arbeitern
Als die deutschen Truppen und SS-Einheiten Rom Anfang Juni fluchtartig verließen, hinterließen sie auf dem Rückzug nach Norden eine Spur der Verwüstung. Täglich wurden Dörfer, Gemeinden und Einzelpersonen Opfer deutscher Rache- und "Sühnemaßnahmen". In der Toskana fielen an einzelnen Tagen achtzig und mehr Personen deutschen Vergeltungsmaßnahmen zum Opfer.
Als Beispiel sei hier der Kampf der Bergarbeiter von Niccioleta geschildert, den Andrae in seinem Buch dokumentiert.
In dem zwischen Siena und dem Meer gelegenen Bergarbeiterdorf Niccioleta ist eine Pyrit-Mine der einzige Arbeitgeber. "Die Minenarbeiter," schreibt Andrea, "sind überwiegend Antifaschisten aus alter sozialistischer Tradition. Von hier aus wurde 1894 der erste Streik in den Minen der Gegend organisiert, hier opponierten die Arbeiter schon 1926 und 1932 aktiv gegen das faschistische Regime, und auch jetzt macht ein Teil von ihnen in der Resistenza mit. Die leitenden Ingenieure dagegen gelten als deutschfreundlich, der eine oder andere gehört auch jetzt noch zu den Schwarzhemden."
Als sich die Front Niccioleta nähert, bereiten Einheiten der 162. (turkmenischen) Infanteriedivision im Rahmen der Politik der "verbrannten Erde" die Zerstörung der Mine vor. Um dies zu verhindern und die Lebensgrundlage von 150 Familien zu retten, wird die Mine am 9. Juni von Partisanen und Minenarbeitern besetzt. Drei Tage später ziehen die Partisanen wieder ab, SS- und mit den deutschen kollaborierende italienische Einheiten stürmen das Dorf, durchkämmen Haus für Haus und nehmen alle 150 Minenarbeiter fest.
Fünf werden auf der Stelle erschossen, die anderen zu einem deutschen Befehlsstand gebracht. Dort werden 77 wegen der Zusammenabeit mit den Partisanen mit Maschinengewehren niedergemäht, 25 als Zwangsarbeiter deportiert und 50, meist ältere Arbeiter, entlassen.
Wenige Tage später finden in der Gemeinde Civitella Val di Chiana und Umgebung weitere schreckliche Massaker statt. Anlass war der Versuch einer Partisanengruppe, am 18. Juni betrunkene deutsche Soldaten zu entwaffnen. Dabei sterben zwei Deutsche, die übrigen können fliehen. Die Dorfbewohner verlassen aus Angst vor "Sühnemaßnahmen" noch in derselben Nacht ihre Häuser, kehren aber nach einigen Tagen zurück, nachdem nichts passiert ist. Am 29. Juni, einem Feiertag, stürmen dann schwer bewaffnete deutsche Truppen mit Panzern die Ortschaft, besetzen die Kirche und erschießen alle Männer einschließlich des Pfarrers vor den Augen der Frauen und Kinder. In einer Aktion, die sich über Stunden hinzieht, werden sie in Gruppen zu je fünf per Genickschuss umgebracht.
Am gleichen Tag findet in der Nähe ein weiteres Blutbad statt, nachdem es zwei Tage vorher in dieser Gegend eine Auseinandersetzung zwischen deutschen Soldaten und Partisanen gegeben hat. Insgesamt fallen in Civitella und Umgebung an diesem Tag zweihundertfünfzig Menschen im Alter von einem bis 84 Jahren dem Morden zum Opfer - nur zwei Wochen bevor die britische 8. Armee Civitella befreit.
Diese Blut- und Verwüstungsspur setzt sich den gesamten Juli und August über fort. Am 3. August 1944 räumen die deutschen Truppen Florenz. Am Abend dieses Tages dringt ein Trupp deutscher Soldaten in das etwas außerhalb der Stadt gelegene Haus von Robert Einstein ein, dem Bruder des berühmten Physikers. Robert Einstein war mit seiner Familie aus Deutschland nach Italien geflohen. Er ist zur Zeit des Überfalls nicht zu Hause. Die Soldaten ermorden seine Frau und seine zwei Töchter.
Eskalation der Gewalt
Das im ersten Teil dieser Serie geschilderte Massaker in Sant' Anna die Stazzema reiht sich in die hier auszugsweise geschilderten Kriegsverbrechen ein. Diese wurden umso schlimmer, je haltloser die Situation der deutschen Besatzungstruppen in Italien war und je näher die Niederlage und der Untergang des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland rückte.
Besonders schwer betroffen von dem Wüten deutscher SS-Einheiten unter der Führung des berüchtigten Majors Reder sowie von Wehrmachtseinheiten war im September/Oktober 1944 die Gemeinde Marzobotto. Die Racheorgie der deutschen Einheiten, die sich zuvor schwere Gefechte mit starken Partisanenverbänden geliefert und diese entweder zerstört oder zerstreut hatten, schien kein Ende zu nehmen.
Laut einem Bericht, den Vito Nerozzi, der Bürgermeister der Gemeinde, im Herbst 1945 für die Alliierten verfasste, hatten die Orte der Gemeinde zwischen dem 29. September und dem 1. Oktober folgende zivile Opferzahlen (die Partisanen nicht eingerechnet) zu verzeichnen: "Caprara 184, Casaglia 195, Cadotto 104, Sperticano 111, Villa Ignano 95, S. Martino 560; insgesamt 1249 Personen. So viel ich erfahren habe, liegen noch 421 Tote unbegraben in den Bergen."
Die Inschrift der Gedenkstätte in Marzabotto lautet: "Von den 771 unschuldigen, bis jetzt hier begrabenen Opfern des Massakers und anderer Kriegsursachen sind: 315 Frauen, 189 Kinder unter 12 Jahren, 30 Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren, 161 Männer zwischen 18 und 60 Jahren, 76 alte Menschen über 60 Jahre. Die übrigen Opfer liegen auf den Friedhöfen der Gemeinden Grizzana, Monzuno und Marzabotto, weitere müssen als unauffindbar gelten."
Die deutschen Kriegsverbrechen gingen bis zum letzten Tag des Krieges weiter. Gerhard Schreiber zieht am Ende seines Buches folgende Bilanz: "Insgesamt starben zwischen dem 8. September 1943 und dem 8. Mai 1945 auf direkte oder indirekte Weise durch deutsche Hand ca. 46.000 Militärinternierte und Kriegsgefangene, 37.000 politisch Deportierte und 16.600 zivile italienische Staatsbürger, darunter rund 7.400 Juden. Das bedeutet, dass im statistischen Mittel - ohne die gefallenen Partisanen und regulären Soldaten - täglich 165 Kinder, Frauen und Männer jeden Alters ihr Leben verloren."
Parallelen zu heute
Studiert man diese unbeschreiblichen Verbrechen, die sie vorbereitende ideologische Kampagne sowie die Befehle und Anweisungen der Nazi- und Wehrmachtsführer, drängen sich unweigerlich Parallelen zur Praxis der Bush-Regierung im mittleren Osten auf: zum Massaker an Hunderten Kriegsgefangenen im afghanischen Masar-i-Scharif im November 2001, zum unprovozierten Angriffskrieg gegen den Irak im letzten Jahr und der seither andauernden Besatzung des Landes, zur Belagerung und Bombardierung von Falludscha und Nadschaf mit Hunderten von zivilen Opfern, zur systematischen Folter und Erniedrigung in den Gefängnissen von Abu Ghraib, Bagram und Guantanomo Bay und zur Einstufung von Widerstandskämpfern als "gesetzlose Kombattanten" - um nur die bekanntesten zu nennen.
Die ausdrückliche Zurückweisung der Genfer Konvention und des Internationalen Strafgerichtshofs sowie die Billigung der Anwendung von Folter auf höchster Ebene im sogenannten "Krieg gegen den Terrorismus" erinnern an die schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden einige Hauptverantwortliche des Nazi-Regimes in Nürnberg vor ein internationales Gericht gestellt und als Kriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen. Doch das Interesse an einer weiteren Verfolgung der Nazi-Verbrechen kühlte schon kurze Zeit später wieder ab. Der Grund dafür lag vor allem in dem beginnenden Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, bei dem die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland als Bündnispartner im Rahmen der Nato eine wichtige Rolle zu spielen hatte.
Viele, die sich in der Wehrmacht, im Verwaltungsapparat, in der Justiz und in der Wirtschaft die Finger schmutzig gemacht und an Verbrechen beteiligt hatten, wurden wieder gebraucht. Und eine Abrechnung der Arbeiterklasse mit dem gesellschaftlichen Nährboden des Naziregimes, dem kapitalistischen System, sollte unter allen Umständen verhindert werden. Insbesondere die deutsche Justiz hatte kein Interesse an der Aufarbeitung der Verbrechen der der Nazizeit, da viele der damals Verantwortlichen ihre Karrieren in der Bundesrepublik bruchlos fortgesetzt hatten.
Aber auch in Italien gab es - mit Ausnahme einiger Militärtribunale in der unmittelbaren Nachkriegszeit - kein allzu großes Interesse an der Strafverfolgung der nationalsozialistischen und faschistischen Verbrechen. Im April dieses Jahres schrieb die Frankfurter Rundschau anlässlich der Eröffnung des Prozesses in La Spezia: "Denn nicht nur in Deutschland mahlen die Mühlen der Justiz langsam, auch in Italien ließ man die Verfahren zu zahllosen Massakern deutscher Truppen gegen die Zivilbevölkerung in der Endphase des Zweiten Weltkriegs weitgehend versanden. Zu Anfang der fünfziger Jahre, als die Erinnerung noch frisch war und viele Täter - deutsche Soldaten und oft italienische Faschisten - noch greifbar gewesen wären, wurden viele Aktendeckel geschlossen."
Neben der Tatsache, dass die Bundesrepublik und Italien Bündnispartner in der Nato wurden, spielte auch die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorläufer der EU eine Rolle. Noch entscheidender war die Sorge der herrschenden Kreisen um das labile soziale Gleichgewicht und die Absicherung der bürgerlichen Herrschaft in Italien selbst. Denn auch in Italien wurde die Arbeiterklasse an einer wirklichen Abrechnung mit dem Faschismus und Kapitalismus gehindert.
Die zentrale Verantwortung dafür trägt die stalinistische Kommunistische Partei unter ihrem damaligen Führer Palmiro Togliatti. Togliatti hatte 18 Jahre im Exil, davon die längste Zeit in Moskau als enger Vertrauter Stalins verbracht, bevor er 1944 nach Italien zurückkehrte. Während viele Mitglieder und Unterstützer der Kommunistischen Partei in der Widerstandsbewegung gegen den Faschismus und die deutsche Besatzung kämpften, trat Togliatti als Vertreter der Kommunistischen Partei der bürgerlichen Koalitionsregierung in Rom bei, um das Überleben des Kapitalismus in Italien zu sichern. Er übernahm das Amt des Justizministers und des stellvertretenden Ministerpräsidenten.
Ende
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*) Diese Artikelserie stützt sich auf zwei in den neunziger Jahren erschienenen Büchern: Friedrich Andrae, "Auch gegen Frauen und Kinder - Der Krieg der deutschen Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung in Italien 1943-1945" (erschienen im Piper-Verlag München Zürich, 1994) sowie Gerhard Schreiber, "Deutsche Kriegsverbrechen in Italien - Täter, Opfer, Strafverfolgung" (Beck'sche Reihe, Verlag C.H. Beck, München, 1996).