Große Koalition in den Niederlanden

Die Parlamentswahlen in den Niederlanden am Mittwoch haben überraschend den bisherigen Regierungschef Mark Rutte von der marktliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) in seinem Amt bestätigt. Die neue Regierung, an der sich höchstwahrscheinlich auch die Sozialdemokraten beteiligen werden, hat schon scharfe Angriffe auf die sozialen Rechte der Arbeiter angekündigt.

Die VVD erhielt 26,6 % der abgegebenen Stimmen und damit 41 Sitze in 150-köpfigen Zweiten Kammer, zehn mehr als bislang. Für die Sozialdemokraten der Partij van de Arbeid (PvdA) stimmten 24,8 %. Sie sind mit 39 Sitzen (plus neun) zweitstärkste Kraft. Der PvdA-Spitzenkandidat Diederik Samsom erklärte sich sofort bereit, mit Rutte und der VVD eine Regierungskoalition einzugehen. „Die Niederlande brauchen so bald wie möglich eine starke und stabile Regierung“, erklärte er, „und die Sozialdemokraten bieten da von heute an ihre Zusammenarbeit an.“

Die ausländerfeindliche PVV von Gert Wilders fiel von 24 auf 15 Sitze. Auch die Sozialistische Partei (SP), die noch wenige Wochen vor der Wahl die Umfragen anführte und deren Spitzenkandidat Emile Roemer gar als künftiger Premierminister gehandelt wurde, blieb unverändert bei 15 Sitzen.

Die Christdemokraten des CDA und ihr Spitzenkandidat Sybrand Buma erzielten mit nur noch 13 Sitzen acht weniger als bisher. Es ist das schlechteste Ergebnis in der Geschichte der Christdemokraten, die viele Jahrzehnte die Politik in den Niederlanden prägten. Die liberale Partei „Democraten 66“ (D66) gewann zwei Sitze hinzu und wird mit zwölf Sitzen im Parlament vertreten sein. Da es in den Niederlanden keine Prozent-Hürde gibt, ziehen fünf weitere Parteien ins Parlament ein, darunter die Grünen, die sieben Sitze verloren und nur noch drei Vertreter stellen. Die Piratenpartei, die ebenfalls antrat, verpasste klar den Einzug ins Parlament. Nur 0,3 % der Wähler stimmten für sie. Rund 74 % der zwölf Millionen aufgerufenen Wähler beteiligten sich an der Wahl.

Die VVD hatte bereits im Wahlkampf angekündigt, weitere brutale Kürzungen durchzusetzen. Allein im Gesundheitsbereich will die Partei sieben Milliarden Euro einsparen. Ihre wahrscheinliche Koalitionsparterin, die PvdA wird dieses Programm vorbehaltlos unterstützen. Im Wahlkampf war der einzige Unterschied zur VVD, dass die Sozialdemokraten die Kürzungen zeitlich etwas weiter strecken wollten.

Die neue Regierung wird zum Generalangriff auf die Rechte der niederländischen Arbeiter blasen. Massensteuern werden erhöht, die Gesundheitsversorgung zusammengestrichen, Renten gekürzt. Arbeitslose sollen über eine Reform der Arbeitslosenunterstützung nach dem Vorbild der deutschen rot-grünen Hartz-IV-Reform in Niedriglohnarbeit gezwungen werden. Die Pläne dazu liegen alle bereits in der Schublade.

Angesichts des massiven Widerstands der Bevölkerung gegen solche Maßnahmen ist es gut möglich, dass sich die beiden Parteien trotz ihrer Zehn-Stimmen-Mehrheit im Parlament entschließen, eine dritte Partei in die Regierung zu holen, um diese Angriffe durchzusetzen. Anwärter für den Juniorpartner gibt es zur Genüge. Topfavorit ist die Partei D66 mit ihren zwölf Abgeordneten.

D66 hatte schon einmal gemeinsam mit den beiden anderen Parteien in einer Regierung gestanden. Von 1994 bis 2002 hatte die so genannte „lila Koalition“ aus PvdA, VVD und D66 das alte europäische Sozialstaatsmodell geschliffen – im Land an der Nordsee Poldermodell genannt. Damals leitete der vormalige Gewerkschaftsführer Wim Kok für die PvdA die Regierung. Eine Neuauflage dieser Regierungskonstellation würde sich die Aufgabe stellen, die letzten Reste der sozialen Absicherung und Versorgung abzuschaffen, die Löhne zu senken und die Arbeitsbedingungen zu verschärfen.

Vor den Wahlen hatte die Regierung aus VVD und CDA unterstützt von der konservativen Christen-Uinion, den Grünen und D66 ein Sparpaket von 12,4 Milliarden Euro verabschiedet. Armut und Arbeitslosigkeit sind rasant gestiegen und die Finanzmärkte haben das Land ins Visier genommen. Die Neuverschuldung im letzten Jahr lag mit 4,7 Prozent des BIP deutlich über den Maastricht-Kriterien.

Angesichts dieser zum zerreißen gespannten sozialen Lage ist der Wahlsieg der Konservativen und Sozialdemokraten nicht mit ihrer eigenen Beliebtheit, sondern nur mit dem Fehlen einer ernsthaften Alternative zu erklären. In den Umfragen hatte die exmaoisitische Sozialistische Partei (SP) wenige Wochen vor der Wahl noch vorn gelegen, weil sie zumindest beschränkte Kritik am Fiskalpakt und den Sparzielen der VVD formuliert hatte.

VVD und PvdA reagierten darauf, indem sie – unterstützt von den Medien – die Wahl als Entscheidung für oder gegen Europa darstellten. Dabei malten sie einen möglich Austritt aus dem Euro in den schwärzesten Farben. Anfang September warb der Unternehmer- und Industriellenverband VNO-NCW im Fernsehen für den unbedingten Erhalt der EU. Die Niederlande würden durch die EU-Mitgliedschaft mit 180 Milliarden Euro pro Jahr profitieren. „Ohne Europa gäbe es keinen Schiphol Flughafen [bei Amsterdam] oder Rotterdamer Hafen“, sagte ein Unternehmer.

Während die VVD ihre Verteidigung der EU mit einer chauvinistischen Kampagne gegen Migranten verband, um den rechten Bodensatz der Gesellschaft, der zuvor für Wilders gestimmt hatte, zu mobilisieren, war Samsom bemüht, Illusionen über die Reformierbarkeit der EU zu schüren. Wie zuvor Francois Hollande behauptete er, man könne die Kürzungen zeitlich strecken und durch Wirtschaftsaufbauprogramme ergänzen.

Dieser Kampagne hatte die SP nichts entgegenzusetzen, weil sie selbst die rechten Positionen teilt und die Mitgliedschaft in der EU verteidigt. Sie fordert nicht nur einen Einwanderungsstopp, sondern sprach sich auch für Haushaltskürzungen und einen Ausbau der Polizeikräfte aus. Vor allem aber sprach sie sich für einen Verbleib in Euro und EU aus und schürte wie die PvdA Illusionen in die Möglichkeit, die europäischen Institutionen reformieren zu können.

Nur ein Bruchteil der Wähler hat dieser Formation schließlich ihre Stimme gegeben. Das Fehlen einer progressiven Alternative führte aber schließlich zur Wiederwahl der Regierung.

Insbesondere in Deutschland sorgte das Ergebnis für Erleichterung, weil die Regierung befürchtete bei einem Regierungswechsel einen Bündnispartner auf europäischer Ebene zu verlieren. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) gratulierte Rutte zum Wahlsieg. Der Wahlausgang sei eine Stärkung Europas. Aus Brüssel meldete sich EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) zu Wort. Er begrüßte den Wahlausgang als „großartiges Ergebnis für Europa“.

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