In vier Wochen, am 13. Mai, wird im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt. Soziale Fragen – die wachsende Armut und Arbeitslosigkeit, verfallende Städte – stehen im Zentrum des Wahlkampfs.
Mit einem parlamentarischen Manöver hatte die rot-grüne Minderheitsregierung unter Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) im März Neuwahlen durchgesetzt, um sich in einer stabileren Koalition auf die bevorstehenden sozialen Angriffe vorzubereiten, die gegen die Bevölkerung geführt werden sollen.
Schon jetzt ist das Land mit seinen achtzehn Millionen Einwohnern sozial tief gespalten. Reiche Regionen wie die Landeshauptstadt Düsseldorf und Teile anderer Großstädte stehen Armutsregionen gegenüber, die man bislang nur aus Berlin und den ostdeutschen Bundesländern kannte. In den verarmten Regionen steigen Armut und Arbeitslosigkeit dramatisch; betroffen sind vor allem die vielen Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende und Kinder. In NRW ist inzwischen jede zweite Alleinerziehende auf Hartz IV angewiesen.
Insbesondere im Ruhrgebiet, zwischen Duisburg im Westen und Dortmund im Osten, ist die Lage katastrophal. Die offizielle Arbeitslosenquote beträgt hier überall weit über zehn Prozent. Der so genannte „Sozialäquator“, nämlich die Autobahn A40, teilt das Revier in „arm und weniger arm“ (Süddeutsche Zeitung). Nördlich davon, in den ärmeren Städteregionen, findet man auch Quoten von dreißig, vierzig und mehr Prozent.
Als Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ende Februar in Berlin eine Studie zum Thema „Arme Kinder, arme Eltern: Familien in Hartz IV“ vorstellte, beschrieb er das Ruhrgebiet als „besondere Problemregion“.
Laut Schneider liegt die Hartz-IV-Quote von Kindern im Ruhrgebiet mit über 25 Prozent höher als in den ostdeutschen Bundesländern. In Gelsenkirchen liegt sie bei 34,4 Prozent und damit noch höher als in Berlin.
Der bereits angekündigte Arbeitsplatzabbau und die finanzielle Notlage der Kommunen werden diese Situation weiter verschärfen.
Schon jetzt weisen von 396 Kommunen in NRW gerade mal acht einen ausgeglichenen Haushalt auf. Die Kommunen leiden stark darunter, dass ihnen von Bund und Ländern immer mehr Kosten übertragen werden. Die Landesregierung von Kraft lehnt es aber ab, den kommunalen Anteil an den Steuereinnahmen des Landes zu erhöhen und so den Kommunen zu helfen.
Dafür verabschiedete die rot-grüne Landesregierung ihren „Stabilitätspakt Kommunalfinanzen“. Diese angebliche „Hilfe“ für die Kommunen findet im Stile der Griechenland-Rettungspakete statt. 34 überschuldeten Kommunen, viele davon im Ruhrgebiet, werden 350 Millionen Euro jährlich zugesagt, die jedoch nur gegen erzwungene Sparpakete in bis zu zweistelliger Millionenhöhe ausgezahlt werden. Den Städten ist es per Gesetz verboten, diese Art der Hilfe und die damit einhergehenden Sparpakete abzulehnen.
Die Folge sind weitere Sozialkürzungen und die wachsende Verwahrlosung der Infrastruktur. Hallenbäder, Bibliotheken, Theater, Schulen, Jugendzentren usw. werden geschlossen. In Oberhausen, der Stadt mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung in Deutschland, hat der sozialdemokratisch dominierte Stadtrat bislang vier Bäder geschlossen und nun angekündigt, auch das letzte städtische Jugendzentrum zu schließen.
Auch den jüngsten Tarifabschluss im öffentlichen Dienst nutzten alle Stadtregierungen, um weitere Kürzungen zu rechtfertigen. Der Dortmunder Stadtkämmerer Jörg Stüdemann (SPD) gedenkt die Mehrkosten der Stadt für die nächsten beiden Jahre mit der Erhöhung von Gebühren und Eintrittspreisen für städtische Einrichtungen hereinzuholen. Alle Städte äußerten sich ähnlich, viele kündigten auch einen Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst an. Die Gewerbesteuer zu erhöhen, schloss Stüdemann hingegen kategorisch aus.
Die desolate Entwicklung wird sich in den kommenden Monaten noch beschleunigen. Denn zahlreiche Betriebe stehen vor der Schließung oder vor einem massiven Arbeitsplatzabbau. Das traditionsreiche Opel-Werk in Bochum etwa, das nach dem Zechensterben 1962 aufgebaut wurde, und in dem zu Hochzeiten fast 25.000 Menschen Arbeit fanden, beschäftigt heute nur noch etwas über 3.000 Arbeiter. Nun steht es vor der Schließung.
Die Stilllegung des Werks hätte weit reichende soziale Konsequenzen für die ohnehin gebeutelte Region. An Opel hängen noch 15.000 Arbeitsplätze bei Zulieferfirmen. Der dadurch entstehende Kaufkraftverlust würde weitere Arbeitsplätze in Handel und Dienstleistungen gefährden. Helmut Diegel, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittleres Ruhrgebiet, erklärte: „40.000 Arbeitsplätze in unserem Kammerbezirk hängen an dem Werk.“
Alle Landtagsparteien mit Ausnahme der FDP haben sich öffentlich für einen Erhalt des Bochumer Werks ausgesprochen. Doch ihre Unterstützung gilt weniger den Beschäftigten als ihrer eigenen Wahlpropaganda. Außerdem unterstützen sie die Gewerkschaft und den Betriebsrat. Insbesondere SPD und Linkspartei stützen diese, damit sie die von den Konzernen wie General Motors geforderten Angriffe durchsetzen können.
So war Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im Bundestag, am Donnerstag in Bochum, um dem Betriebsrat seine Rückendeckung zuzusichern. Zuvor besuchte Gysi auf Einladung der IG Metall die von Schließung bedrohte Belegschaft der TSTG Schienentechnik in Duisburg. Ende des Jahres soll das seit 1894 bestehende Schienenwerk, das 1998 der österreichische Konzern Voest-Alpine von Thyssen übernahm, geschlossen werden. Mindestens 350 Arbeiter würden ihren Job verlieren.
Gysi las den versammelten TSTG-Arbeitern seinen Bittbrief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, in dem er vom Staat als Eigentümer des größten Kunden, der Deutschen Bahn AG, Unterstützung anmahnt. Die Linkspartei versucht verzweifelt, die Illusion aufzuwärmen, man könne CDU, SPD oder Grüne unter Druck setzen, damit diese die Interessen der arbeitenden Bevölkerung vertrete. Gysi erklärte in Bochum: „Von der Stärke der Linken hängt ab, wie die SPD sich entwickelt und wieder sozialdemokratisch wird.“
Frühere Regierungen, an denen die Linke beteiligt war, machten bereits deutlich, was von derartigen Vorstellungen zu halten ist. Dies gilt besonders für die SPD-Linken-Regierung in Berlin von 2001 bis 2011, wie auch die von der Linken tolerierte Minderheitsregierung in NRW in den letzten zwei Jahren. Im NRW-Haushalt 2011 etwa tolerierte die Linkspartei 620 Millionen Euro Einsparungen, und auch der gescheiterte Entwurf für 2012 sah eine „globale Minderausgabe“ von 750 Millionen Euro vor.
Doch die Pläne der Landesregierung gehen noch viel weiter. Die Schuldenbremse, die die große Koalition im Bund 2009 ins Grundgesetz geschrieben hat, verpflichtet die Bundesländer dazu, bis 2020 keine neuen Schulden mehr aufzunehmen. Im „SPD-Regierungsprogramm 2012-2017“ verpflichtet sich die SPD dazu, die Schuldenbremse einzuhalten.
Dass es der nordrhein-westfälischen SPD ernst damit ist, zeigt auch, dass sich Kraft sofort nach der Auflösung des Landtags und der Erzwingung von Neuwahlen für den Wahlkampf die Unterstützung von Ex-NRW-Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) gesichert hat. Als Bundesfinanzminister der großen Koalition mit der CDU hat dieser Verfechter der Haushaltskonsolidierung 2009 gemeinsam mit Bundeskanzlerin Merkel die Schuldenbremse selbst eingeführt.
Die Grünen-Spitzenkandidatin und bisherige Schulministerin Sylvia Löhrmann kündigte ebenfalls tiefere Einschnitte in den Haushalt an. Fast einstimmig verabschiedeten die Grünen Anfang April eine Fortschreibung ihres 2010 aufgestellten Wahlprogramms. Im Mittelpunkt steht dabei die Haushaltssanierung.
Die anderen Landtagsparteien CDU, FDP und Linkspartei unterstützen die von SPD und Grünen angestrebte Haushaltskonsolidierung. In ihrer zweijährigen Amtszeit konnte sich die rot-grüne Minderheitsregierung von Kraft stets auf die Linkspartei verlassen, die ihr schon bei den Haushalten 2010 und 2011 die Mehrheit gesichert hatte. Den Umfragen zufolge könnte die Linkspartei an der Fünfprozenthürde scheitert und dem neuen Landtag nicht mehr angehören. Bei der FDP gilt dies schon als sicher.
Mit besonderer medialer Aufmerksamkeit wird daher die Piratenpartei bedacht, die laut aktuellen Umfragen rund dreizehn Prozent der Stimmen und somit noch mehr als die Grünen erwarten kann. Die Piratenpartei hat ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit allen Parteien angekündigt. An diesem Wochenende will sie ihr Landtagswahlprogramm beschließen. Auch sie stellt die Haushaltskonsolidierung ins Zentrum ihres Wahlkampfs.
Einen Monat vor der NRW-Wahl ist klar, dass der Urnengang an Rhein und Ruhr auch dazu dient, die Karten der Bundespolitik neu zu mischen. Alle Parteien wetteifern über Sparpakete und Sozialabbau. Die Auseinandersetzungen drehen sich vor allem um die Frage, wie die politischen Weichen gestellt werden, um das Zusammenwirken von Politik, Gewerkschaften und Unternehmen so zu gestalten, dass die europäische Schuldenbremse und damit einhergehende Angriffe gegen die Bevölkerung durchgesetzt werden.