Vor fast sechs Monaten beschafften sich die USA und ihre Nato-Verbündeten eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, die sie ermächtigte, in Libyen eine Flugverbotszone einzurichten. Die Resolution erlaubte ihnen „alle notwendigen Maßnahmen (…), um die Zivilbevölkerung und zivile Wohngebiete vor Angriffen zu schützen“. Jetzt jedoch sind die beteiligten Länder, – allesamt ehemalige Kolonialmächte –, drauf und dran, ein größeres Ballungsgebiet zu erstürmen, eine Aktion, die massenhaft zivile Opfer fordern könnte.
Währenddessen trommeln die westlichen Medien lauthals zur „letzten Schlacht“, um das eigentliche Ziel der USA und der Nato, nämlich den Regimewechsel in Libyen, zu erreichen. Nur wenige Journalisten machen sich überhaupt noch die Mühe, zu vertuschen, dass die imperialistischen Großmächte genau das anrichten, was ihre Intervention namentlich verhindern sollte.
Damals wurde der Welt weisgemacht, Gaddafis Truppen marschierten auf Bengasi zu, und nur eine „humanitäre“ Intervention der Nato könne die unschuldige Zivilbevölkerung retten. Jetzt schließen die „Rebellen“ den Kreis um Sirte. Dabei werden sie von Spezialkräften aus Großbritannien und Katar, Geheimagenten und privaten Söldnern unterstützt, während Nato-Bombenjäger die Zivilbevölkerung aus der Luft unter Beschuss nehmen. Jeder Nachschub an Nahrung und Treibstoff wird abgeschnitten.
Dass die USA und die westeuropäischen Mächte eine solche Verachtung für das Recht und die Meinung der Welt an den Tag legen, verschlägt einem die Sprache. Der Vorwand, die Nato handle nach Vorgaben der UN-Resolution, die als Feigenblatt für die Intervention dient, ist nicht mehr nur absurd, er ist ohne Scham.
Man muss an die Verbrechen denken, die die faschistischen Mächte in den 1930er und -vierziger Jahren begangen haben; dort findet man Parallelen einer solchen Belagerung: Die Bombardierung von Guernica im spanischen Bürgerkrieg, die Belagerung von Leningrad und das Warschauer Ghetto.
Nato-Kampfflugzeuge fliegen seit einigen Tagen immer wieder Angriffe auf Sirte, die weiter westlich gelegene Stadt Bani Walid und die Straße zwischen beiden Städten. Aus Sirte gibt es keine unabhängige Berichterstattung, aber der Sprecher des Gaddafi-Regimes, Moussa Ibrahim, berichtete, die andauernden Bombenangriffe hätten bereits tausend Einwohner getötet und viele weitere verletzt.
Der brutale Angriff zielt zum Teil darauf ab, Oberst Muammar Gaddafi zu töten, der sich angeblich in der Stadt oder ihrem Umland versteckt hält. Westliche Spezialkräfte sollen sich auf der Jagd nach Gaddafi befinden, und mehrere amerikanische Spionageflugzeuge arbeiten fieberhaft daran, ihn zu lokalisieren.
Die Rebellen haben auf Anweisung der Nato westlich und östlich von Sirte Stellung an der Küstenautobahn bezogen. Sie sollen dort abwarten, bis der Nato-Luftkrieg die Verteidigung der Stadt ausreichend geschwächt hat.
Der Nationale Übergangsrat (NTC) hat der Stadt ein eindeutiges Ultimatum gestellt: Wenn sie sich bis Samstag nicht ergeben habe, werde die Stadt angegriffen. Der NTC, dieses selbsternannte Gremium aus ehemaligen Gaddafi-Ministern, westlichen Geheimagenten, Islamisten und Stammesführern, wird von den Großmächten als rechtmäßige libysche Regierung anerkannt.
„Es gibt keine Anzeichen für die Bereitschaft zur friedlichen Kapitulation“, sagte Oberst Ahmed Omar Bani, militärischer Sprecher des Übergangsrats NTC, auf einer Pressekonferenz in Bengasi. „Wir versuchen weiterhin, eine friedliche Lösung zu erreichen, aber am Samstag werden wir gegen diese Kriminellen auf andere Weise vorgehen.“
Der stellvertretende NTC-Vorsitzende, Ali Tarhouni, sagte dazu: „Manchmal muss man Blut vergießen, um ein Blutbad zu verhindern. Und je schneller wir das tun, desto weniger Blut wird fließen.“
Die westlichen Medien sind dabei, das Blutbad zu rechtfertigen, noch ehe es begonnen hat. Sie schreiben, die „Rebellen“ hätten in Sirte noch „eine Aufgabe zu erledigen“ oder „eine Rechnung zu begleichen“. Angeblich befänden sich hier Armeeeinheiten, die an den Angriffen auf Misrata und Bengasi teilgenommen hätten. Sirte ist außerdem Gaddafis Heimatstatt und ein Zentrum seines Stammes, der Gaddafifahs.
Die Verbrechermethoden, welche die Nato und ihre „Rebellen“-Marionetten einsetzen – Bombenangriffe auf Städte, Attentatsversuche, Massaker und Lynchmorde an schwarzafrikanischen Wanderarbeitern – entsprechen voll und ganz dem Ziel dieses Krieges: Es ist ein imperialistischer Eroberungskrieg.
Anfang des Jahres hatten die USA und die Nato die Diktaturen von Zine El Abidine Ben Ali in Tunesien und von Hosni Mubarak in Ägypten bis zum letzten Moment gegen Massenrevolten verteidigt. Darauf entschlossen sie sich, in Libyen zu intervenieren, das strategisch zwischen diesen beiden Ländern liegt. Als im Februar auch gegen Gaddafi protestiert wurde, übernahmen die Westmächte sofort die Kontrolle über die Demonstrationen und schürten einen Bürgerkrieg, um einen Vorwand für eine direkte Nato-Intervention zu schaffen. Zu diesem Zweck wurden britische und französische Spezialeinheiten schon in Libyen eingesetzt, ehe eine UN-Resolution überhaupt im Gespräch war.
Es ging niemals um den Schutz der Zivilbevölkerung. Auf fünfzigtausend Todesopfer schätzte ein NTC-Sprecher die Gesamtzahl der zivilen und militärischen Opfer der letzten sechs Monate. Wer tatsächlich geglaubt hat, die Nato führe diesen Krieg zum Schutz von Menschenleben, muss zugeben, dass sie kläglich versagt hat.
Die Nato will mit diesem Krieg in Tripolis ein Marionettenregime installieren, das den westlichen Regierungen und Energiekonzernen besser Folge leistet. Den herrschenden Kreisen in Washington, London, Paris und Rom läuft schon das Wasser im Mund zusammen, wenn sie sich vorstellen, dass sie die Zeit um 42 Jahre zurückdrehen könnten. Damals erlaubte der korrupte König Idris dem Konzern Standard Oil, die Ölgesetze des Landes zu schreiben, und die USA und Großbritannien durften eigene Militärbasen im Land unterhalten.
Um die neokolonialen Ziele durchzusetzen, wir zweifellos noch mehr Blut fließen, denn dazu wird man den Widerstand des libyschen Volkes brechen müssen.
Die Verbrechen, die am libyschen Volk begangen werden, und die Gefahr weiterer Kriege, die aus den Spannungen zwischen den Imperialisten um den Ölreichtum des Landes entstehen, erfordern dringend eine Antwort. Die Arbeiterklasse muss die Antikriegsbewegung auf der Grundlage einer sozialistischen Perspektive neu beleben.
Der Kampf gegen Krieg muss sich mit dem Kampf um Arbeitsplätze, den Lebensstandard und soziale und demokratische Grundrechte vereinen, die in nahezu allen Ländern der Welt unter Angriff stehen. Er muss sich bewusst gegen die Quelle richten, aus der sowohl Militarismus als auch die soziale Konterrevolution kommen: das kapitalistische Profitsystem.