„Nein, in dieser Form haben wir uns das nicht ausgerechnet“, antwortet der Spitzenkandidat der Piratenpartei zu den Berliner Abgeordnetenhauswahlen, Andreas Baum, der Berliner Morgenpost auf die Frage, ob er mit dem Erfolg seiner Partei bei den jüngsten Wahlumfragen gerechnet habe. Die Partei rangierte zuletzt zwischen vier und fünf Prozent. Verantwortlich für das Wachstum der potentiellen Wählerstimmen macht Baum neben Mund-zu-Mund-Propaganda vor allem die Berichterstattung in den Medien.
Noch vor einigen Wochen hatte es so ausgesehen, als ob die Piraten schon wieder auf dem absteigenden Ast seien. Nachdem sich die Partei in ihrem Bundesprogramm nicht nur uneingeschränkt zum Grundgesetz, sondern auch zur Marktwirtschaft bekannt und zunehmend verkrachte Existenzen aus den etablierten Parteien (von CDU und FDP bis zur WASG) aufgenommen hatte, war die Mitgliederentwicklung der Vereinigung 2011 erstmals rückläufig. Die Partei war 2006 zunächst von jungen IT-Beschäftigten gegründet worden und hatte sich gegen Überwachung und für freien Zugang zu digitaler Kultur eingesetzt.
Der derzeitige Bundesvorsitzende, Sebastian Nerz, der bis ins Jahr 2004 Mitglied der CDU war, und sein Stellvertreter Bernd Schlömer, seinerseits akademischer Direktor im Bundesverteidigungsministerium und erklärter Anhänger des ehemaligen Innenministers Gerhard Baum (FDP) sowie des Altkanzlers Helmut Schmidt (SPD), sprechen sich dafür aus, die Piraten als liberale Partei zu positionieren. Mögen die Piraten am Anfang noch eine gewisse Dynamik in der Jugend repräsentiert haben, haben sie sich längst auf die klassische Basis des Liberalismus orientiert: auf wohlhabende Schichten des Kleinbürgertums.
Schon beim Parteitag der Piraten im Herbst 2010 hatte sich die Mehrheit der Delegierten gegen ein umfassendes Sozialprogramm entschieden, insbesondere gegen einen Mindestlohn und ein bedingungsloses Grundeinkommen. In der Debatte wurden solche Forderungen mit DDR-Verhältnissen assoziiert und als „Grabenkampf aus dem 20. Jahrhundert“ bezeichnet. Während sich die Partei zunächst als jung und aufrührerisch gab, zeichnete sich immer klarer ab, dass es sich bei dem Projekt um einen Versuch handelt, dem gründlich diskreditierten Liberalismus in Deutschland neues Leben einzuhauchen.
Der Berliner Landesverband ist da keine Ausnahme. Allerdings haben die Piraten in der Hauptstadt diskutiert, dass sie in dem Bundesland mit der höchsten Arbeitslosigkeit und den bitteren Erfahrungen des Sozialkahlschlags durch den rot-roten Senat mit bloß liberalen Forderungen keine Chance haben werden, ins Abgeordnetenhaus einzuziehen. Sie mussten sich bei aller Liebe zur Marktwirtschaft zumindest den Schein eines Störtebekers geben. Dazu griffen sie tief in die Trickkiste: Während sie die Stadt mit Plakaten überzogen, die Säkularismus, Mindestlohn und Grundeinkommen fordern, entkernen sie diese Begriffe in ihrem Wahlprogramm vollständig.
Zwar steht in dem Programm zu lesen, dass sich die Partei „kurzfristig für einen bundesweiten gesetzlichen Mindestlohn“ einsetzen wolle, doch ist keine einzige konkrete Angabe zu seiner ungefähren Höhe zu finden. Die Forderung wäre also auch bei einem Mindestlohn von zwei bis drei Euro in der Stunde erfüllt.
Ähnlich karg gibt sich die Partei bei der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, das die Piraten „mittelfristig“ umsetzen wollen. Langfristig soll es „existenzsichernd“ sein und den Mindestlohn ersetzen. Auch hier schweigt sich das Programm sowohl über eine konkrete Höhe als auch über die Finanzierung aus.
Letztere ist allerdings der springende Punkt beim Grundeinkommen. Neben progressiven Ansätzen, wie jenem der Partei für Soziale Gleichheit, die ein Grundeinkommen von 1.500 Euro über die Besteuerung der Reichen finanzieren will, gibt es auch extrem reaktionäre Ansätze, die mit einem Grundeinkommen die Sozialsysteme schleifen wollen und es mit einer Flat-Tax koppeln.
Dass die Piraten diesem Lager nicht fern stehen, macht ein Positionspapier zum Grundeinkommen klar, das die Arbeitsgruppe ReSET in der Partei erarbeitet hat. Darin wird erklärt, dass man das Grundeinkommen auch als Lösungsansatz für die Finanzierungsprobleme der Renten- und Pflegeversicherung verstehe.
In der Kleinparteienrunde des RBB bestätigte Spitzenkandidat Baum auf die Sozialpolitik angesprochen, dass die Piraten „kein Vollprogramm“ hätten. „Wir sagen nur zu den Themen etwas, in die wir uns eingelesen haben... das ist im Bereich Wirtschaft noch ausbaufähig.“
Was in der Wirtschaftspolitik zu erwarten ist, zeigt ein Blick auf die Themen, in die sich der Landesvorstand eingelesen hat: Demokratie und Transparenz.
Während auf Plakaten zu lesen steht „Wahlrecht für alle unabhängig von Herkunft und Alter“, geht aus dem Wahlprogramm hervor, dass die Piraten dies nur für die recht unbedeutenden Kommunalwahlen fordern, während sie für das Abgeordnetenhaus nach wie vor Menschen ohne deutschen Pass ausschließen und eine Drei-Prozent Hürde einführen wollen. Außerdem sollen Wähler die Möglichkeit erhalten, einzelne Listenkandidaten zu wählen und ihre Stimme aufzuteilen.
Auch die Transparenz bezieht sich im Wesentlichen auf unwichtige Sitzungen und Entscheidungen. Zwar fordert die Partei einen besseren Zugang zu Dokumenten und Verträgen des Senats und die Öffnung vieler Sitzungen für die Öffentlichkeit, doch Baum hat gegenüber der Berliner Morgenpost auch erklärt, dass diese Transparenz dort an ihre Grenzen stoße, wo es um Geschäftsinteressen gehe. Auf Verhandlungen mit potentiellen Investoren angesprochen sagte er: „Natürlich muss es die Möglichkeit geben, auch nicht öffentlich zu tagen.“
Im gleichen Interview bezeichnete der Spitzenkandidat die Geheimverträge zur Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe, die den Investoren Veolia und RWE auf Kosten der Verbraucher Milliardengewinne garantierten und zu dem ersten erfolgreichen Volksentscheid der Hauptstadt führten, nicht als Skandal oder Verbrechen, sondern als „Unfall“.
Aus dieser Positionierung heraus ergibt sich auch, weshalb sich die Piraten im Berliner Wahlkampf selbst zu den Themen nicht konkret geäußert haben, die angeblich zu ihren Kompetenzen gehören. So findet sich auf der Website weder eine Bemerkung zu den Jugendrevolten in Großbritannien, in deren Zuge demokratische Rechte torpediert wurden wie selten zuvor, noch zu der Serie von Brandanschlägen auf Autos in Berlin, die von CDU bis Linkspartei genutzt wurden, um stärkere Überwachung und schärfere Gesetze zu fordern. Die Piratenpartei weicht allen konkreten Fragen aus.
Erst recht liest oder hört man bei den Piraten nichts über die Wirtschaftskrise. Selbst konservative Kommentatoren erklären mittlerweile, dass angesichts des unmittelbaren Diktats der Banken über die nationale Haushaltspolitik aller europäischen Länder nicht mehr von einer Demokratie im eigentlichen Sinne gesprochen werden könne. Gerade der rot-rote Senat in Berlin hat gezeigt, dass auch eine nominell linke Regierung dieses Diktat gegen die Bevölkerung durchsetzt.
Alles Gerede von Transparenz und Demokratie, das die Kandidaten der Piraten gebetsmühlenartig wiederholen, ist völlig abstrakt und inhaltsleer, wenn es nicht von dieser politischen Situation ausgeht. Transparenz bei bedeutungslosen Verhandlungen und Demokratie auf unwichtigen Ebenen wird an dem Diktat der Banken nicht das Geringste ändern. Das versteht auch der Zweitplatzierte auf der Landesliste, Philipp Magalski, wenn er als Hauptziel der Piraten lediglich einen neuen Politikstil benennt. Ähnlich den Grünen wolle er das Parteiensystem bereichern, erklärt er auf seiner Website.
Damit hat Magalski den Kern des Piraten-Hypes erfasst. In einer Situation, in der sich große Teile der Bevölkerung vom offiziellen Politikbetrieb abwenden, weil sie verstehen, dass alle Parteien nur das Diktat der Banken umsetzen, bieten sich die Piraten an, die Fassade der „Demokratie“ zu renovieren und gleichzeitig den Kapitalismus zu verteidigen. Durch frisches und unkonventionelles Auftreten wollen sie gerade Jugendliche wieder an ein System binden, das ihnen keinerlei Zukunftsperspektive und erst recht keine demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten bietet.
Das ist der Grund, weshalb die Piratenpartei derartig von den Medien hofiert wird, dass sich selbst ihr Spitzenkandidat darüber wundert. Was allgemein als Schwäche gelten würde, ist im Sinne der herrschenden Elite der wichtigste Vorteil der Piraten: Sie haben kein Programm und beziehen zu keiner der brennenden Fragen Stellung, sondern stützen sich in ihrem Wahlkampf auf eine reine PR-Kampagne, die nur darauf ausgerichtet ist, Illusionen in die sterbende Demokratie zu wecken.
Wirkliche Demokratie ist untrennbar mit gesellschaftlicher Teilhabe verbunden. Nur wenn die Masse der Bevölkerung dem Diktat der Banken entgegentritt, sie enteignet und unter demokratische Kontrolle stellt, ist eine fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft denkbar. Diese Perspektive vertritt bei den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin die Partei für Soziale Gleichheit (PSG).