Perspektive

Der Zerfall der Europäischen Union

Noch vor einem Jahr erschienen das Ende des Euro und das Auseinanderbrechen der Europäischen Union vielen als undenkbar. Nun sind sie zum beherrschenden Thema in Politik und Medien geworden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte vor dem Bundestag: „Scheitert der Euro, scheitert Europa.“ Ähnlich äußerte sich der französische Präsident Nicolas Sarkozy. Neben der notorisch euroskeptischen britischen Presse schließen mittlerweile auch betont pro-europäische Medien, wie die französische Le Monde und die deutsche Zeit, ein Ende des Euro nicht mehr aus.

Jose Manuel Barroso hat in dramatischen Worten vor den ökonomischen Folgen einer solchen Entwicklung gewarnt. Das Scheitern der Eurozone würde einen Wirtschaftszusammenbruch auslösen, den halben Wert der europäischen Wirtschaft zerstören und den Kontinent in eine Depression stürzen, die so tief ist wie jene der 1930er Jahre, sagte der Präsident der EU-Kommission.

Doch das Rezept, das Merkel, Sarkozy und Barroso zur Vermeidung einer solchen Katastrophe vorschlagen, ist nicht weniger schlimm. Es läuft auf die Errichtung einer Diktatur der Finanzmärkte über sämtliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens hinaus. Die jüngsten Ereignisse in Griechenland und Italien bestätigen das. In beiden Ländern übernimmt eine von der EU ausgewählte Expertenregierung die Macht, die über keine demokratische Legitimation verfügt und die Aufgabe hat, den Lebensstandard der Bevölkerung durch beispiellose Sparmaßnahmen zu dezimieren.

In Wirklichkeit sind die „Rettung“ des Euro durch Austerität und das Zerbrechen Europas keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben politischen Strategie. Der jüngste EU-Gipfel in Brüssel hat die Weichen für beides gestellt. Er diktierte Griechenland und Italien drakonische Sparmaßnahmen und unterstellte die griechische Haushaltspolitik der Aufsicht der Troika aus EU, IWF und EZB. Gleichzeitig schloss er ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone nicht mehr aus.

„Wir sind gewappnet“, antwortete Merkel auf entsprechende Fragen. Im Kanzleramt werden die Folgen eines derartigen Schritts bereits durchgerechnet. Scheidet aber ein Land aus dem Währungsverband aus, wäre eine kaum mehr zu stoppende Kettenreaktion die Folge.

Auch eine weitere Bruchlinie innerhalb der Europäischen Union hat der Brüsseler Gipfel vertieft. Mit der Entscheidung, die Finanz- und Wirtschaftspolitik der 17 Euro-Mitglieder enger zu koordinieren und eine Art Wirtschaftsregierung zu bilden, drängte er die zehn EU-Mitglieder an den Rand, die der Währungsunion nicht angehören. Die Spaltung Europas in einen von Deutschland und Frankreich dominierten Kern und eine machtlose Peripherie rückt damit ein großes Stück näher. Vor allem in London ist dies auf heftigen Protest gestoßen.

Die Europäische Union steht vor einem unlösbaren Dilemma. Scheitert der Euro, zerbricht auch die EU. Wird der Euro dagegen durch die Bildung eines Kerneuropas unter deutscher oder deutsch-französischer Vorherrschaft am Leben erhalten, sprengt dies Europa ebenfalls. Die Balkanisierung des Kontinents und der Rückfall in nationale Konflikte wäre in beiden Fällen die Folge.

Marxisten haben das Scheitern der Europäischen Union lange vorausgesehen. Leo Trotzki, der die Vereinigung Europas als dringend notwendig erachtete, hatte der Frage schon in den 1920er Jahren zahlreiche Artikel gewidmet. Er hielt eine Einigung auf kapitalistischer Grundlage für unmöglich, weil das kapitalistische Eigentum untrennbar mit dem Nationalstaat verbunden ist. Die Bourgeoisie, die im Konflikt mit der Arbeiterklasse und in Konkurrenz zu ihren internationalen Rivalen steht, kann nicht auf den Nationalstaat verzichten, weil sie ihn zur Verteidigung ihrer Klasseninteressen braucht.

1923 schrieb Trotzki in der Prawda, der Kontinent könne sich innerhalb der staatlichen Schranken nicht wirtschaftlich entwickeln. „Er muss diese Grenzen sprengen, wenn er dem ökonomischen Ruin entgehen will. Aber die Methoden, die die regierende Bourgeoisie anwendet, um die von ihr selbst geschaffenen Grenzen zu überwinden, vergrößern noch das Chaos und den Zerfall.“

Als 1989 die stalinistischen Regime in Osteuropa wankten und überall Illusionen in ein blühendes kapitalistisches Europa geschürt wurden, schrieb das Internationale Komitee der Vierten Internationale in seinem Manifest zur Europawahl: „Der Europäische Binnenmarkt bedeutet nicht die Einheit Europas; im Gegenteil, er schafft lediglich die Arena, in der die mächtigsten europäischen Konzerne, die in diesem Jahrhundert bereits zwei Weltkriege gegeneinander führten, erneut um die Vorherrschaft über Europa kämpfen. Er ist mit einer, neuen mächtigen Welle der Kapitalkonzentration und Monopolbildung verbunden und treibt alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze auf die Spitze.“

Die jüngsten Ereignisse haben diese Einschätzung in vollem Umfang bestätigt.

Die Fortschritte, die Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei der wirtschaftlichen Integration erzielte, waren das Ergebnis außergewöhnlicher historischer Umstände – der Unterdrückung des Klassenkampfs durch Stalinismus und Sozialdemokratie und der wirtschaftlichen Stärke der USA. Mit dem Dollar als Weltwährung und dem Marshallplan schufen die USA die Voraussetzung für die Wiederbelebung der kriegszerstörten europäischen Wirtschaft. Die gemeinsame Front gegen die Sowjetunion schweißte die westeuropäischen Mächte zusätzlich zusammen.

Aber selbst damals konnte der wirtschaftlich mächtigste Nationalstaat keinen dauernden und tragfähigen Rahmen für eine fortschrittliche Entwicklung der Weltwirtschaft schaffen. Der Versuch der USA, den internationalen Kapitalismus unter ihrer Vorherrschaft wieder aufzubauen, schuf die Voraussetzungen für den Aufstieg mächtiger Rivalen in Europa und Asien und für ihren eigenen Niedergang.

Die widerstreitenden nationalen Interessen wurden nie überwunden. Vielmehr entsprach der europäische Integrationsprozess dem damaligen nationalen Interesse aller Beteiligten: Deutschland verschaffte er leichteren Zugang zu seinen Exportmärkten, Frankreich versprach sich eine bessere Kontrolle über seinen traditionellen deutschen Rivalen, und Britannien erhielt nach dem Zusammenbruch seines Kolonialreichs Zutritt zum europäischen Markt, ohne dass es die Sonderstellung der City of London jemals aufgab. Nun lassen der wirtschaftliche Niedergang der USA und die internationale Finanzkrise die nationalen Gegensätze in Europa wieder aufbrechen.

Die Befürworter einer Vereinigung Europas unter dem Dach der Europäischen Union haben ihr Projekt oft mit den USA verglichen. Aber die Vereinigten Staaten von Amerika sind das Ergebnis zweier Revolutionen – des Unabhängigkeitskriegs im 18. und des Bürgerkriegs im 19. Jahrhundert. Beide wurden von fortschrittlichen Ideen geleitet, die Millionen Menschen in ihren Bann zogen – Volkssouveränität und Abschaffung der Sklaverei.

Das EU-Projekt hatte dagegen nie mehr als die freie Zirkulation von Waren und Kapital zum Ziel. Es begann als Gemeinschaft für Kohle und Stahl und gipfelte im Binnenmarkt und der gemeinsamen Währung. Seine fehlende Verankerung in der Bevölkerung wurde spätestens 2005 deutlich, als die französischen und niederländischen Wähler den Entwurf einer Europäischen Verfassung wegen seines neoliberalen Inhalts ablehnten.

Die internationale Finanzkrise hat die Unvereinbarkeit des heutigen Europa mit den grundlegenden Interessen seiner Einwohner für jeden sichtbar ans Licht gebracht. Die Europäische Union lässt keinen Raum für demokratische und fortschrittliche Alternativen. Die Wahl zwischen Euro und nationaler Währung, zwischen EU und nationaler Souveränität ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera – zwischen der direkten Diktatur der Finanzmärkte und der indirekten durch die Balkanisierung des Kontinents.

Die wirkliche Alternative lautet: kapitalistisches oder sozialistisches Europa. Die gegenwärtige Krise stellt die Alternative: Gesellschaftliche Revolution oder Depression, Diktatur und Krieg.

Ohne den Würgegriff der Finanzmärkte zu brechen, die Banken, Konzerne und großen Vermögen zu enteignen und in den Dienst der ganzen Gesellschaft zu stellen, gibt es keinen Ausweg. Die Trennlinie in Europa verläuft nicht zwischen Griechen und Deutschen, zwischen Portugiesen und Franzosen oder zwischen Iren und Briten. Sie verläuft zwischen der Arbeiterklasse, die für die Krise bezahlt, und der Finanzaristokratie, die sich daran bereichert, sowie ihren Handlangern in der EU, den nationalen Regierungen und allen etablierten politischen Parteien.

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