Die Occupy-Bewegung, Identitätspolitik und die International Socialist Organization

Die Occupy Wall Street und ähnliche Protestbewegungen repräsentieren nach mehr als dreißig Jahren das Wiedererwachen sozialer Kämpfe im Zentrum des politischen Lebens in Amerika.

Trotz aller unausweichlichen Heterogenität und Verwirrung hat die Bewegung die Frage aller Fragen in Amerika und auf der ganzen Welt, d.h die nach sozialer Ungleichheit, aufgeworfen und sich die weit verbreitete Wut zu Nutze gemacht, die sich sowohl gegen die Parteien des Big Business als auch gegen deren Hintermänner in der Wirtschaft richtet. Umfragen weisen auf breite Unterstützung für die Slogans und allgemeinen Ziele der Proteste hin.

Die Enstehung der Occupy-Bewegung kann das politische und wirtschaftliche Establishment nur mit größter Unruhe erfüllen. Nicht so sehr wegen dem, was sie gegenwärtig ist, sondern wegen dem, was sie ankündigt: Eine Bewegung der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung gegen zunehmend unerträgliche soziale Zustände.

Vom Standpunkt der Mächtigen aus gesehen, ist eine der beunruhigendsten Eigenschaften der Proteste gegen die Wall Street, dass sie sich bedeutenden sozialen Fragen zuwenden und nicht bloß den kleinlichen Fragen kleinbürgerlicher „Identitätspolitik“. Diese ist eine Hauptstütze des politischen Lebens in Amerika geworden und die verschiedenen „Identitäts“-Wählerschichten: besser gestellte Afroamerikaner, Latinos, Frauen, Schwule und andere, spielten eine zentrale Rolle in der Funktionsweise der Demokratischen Partei, vor allem in den letzten Jahrzehnten. Eine kleine Minderheit profitierte von „positiver Diskriminierung“ und von anderen Maßnahmen, während die Arbeiterklasse im Ganzen einen verheerenden Zusammenbruch ihres Lebensstandards erlitt.

In der Tat wurde eine „linke Ausrichtung“ in den USA in den letzten Jahren fast ausschließlich mit diesen privilegierten Gruppierungen in Verbindung gebracht, die von einer tiefgreifenden Feindseligkeit gegenüber jeder politischen Bewegung der Arbeiterklasse, die sich ihrer erstickenden Kontrolle entziehen könnte, charakterisiert sind.

Angesichts des offensichtlichen Versagens des globalen Kapitalismus als gesellschaftliches System, löst sich nun der Griff dieser rückschrittlichen „Identitäts“-Bewegungen. Vor allem viele Jugendliche wenden sich einer anderen, gesünderen Richtung zu.

Dies erregt wiederum Besorgnis bei der International Socialist Organization (ISO) und anderen pseudolinken Tendenzen, die seit Jahrzehnten von Politik, die sich auf Geschlechterfragen und Ethnien bezieht, lebten und gestärkt wurden. Das ist nicht bloß eine ideologische Frage. Diese Art gesellschaftlicher Aktivität ist eine eigene Branche, die mit Instituten an Universitäten, Werbefirmen, Magazinen und andere Publikationen, Think Tanks und Forschungsbetrieben, etc. verbunden ist. Viele Millionen Dollar stehen dabei auf dem Spiel.

Die Unterstützung der Occupy-Bewegung seitens der ISO lief von Anfang darauf hinaus, die Proteste erbarmungslos in die Hände der reaktionären Gewerkschaftsbürokratie und ins Milieu der Identitätspolitik zu treiben. Dies geschah im Namen einer „Verbreiterung“ des Protests.

Das ist die wesentliche Bedeutung des Artikels „Aufbau einer bunten Occupy-Bewegung“ von Keeanga-Yamahtta Taylor auf socialistworker.org, der Onlinepublikation der ISO.

Nachdem sie den Occupy Wall Street Protesten gegen die wirtschaftliche Ungleichheit hohlen Tribut zollte, behauptet Taylor (und sie kommt auf dieses Thema mehrmals zurück), dass sich diese Ungleichheit „häufig mit Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe und ethnischer Ungleichheit überschneidet“. Das Ziel dieses Arguments ist es, die Unterschiede nach Hautfarbe und nach Klassenzugehörigkeit als gleichwertige und koexistierende soziale Realitäten darzustellen, die Arbeiterklasse zu spalten und die Existenz spezieller Organisationen für Minderheiten zu rechtfertigen, die (vorgeblich) die Interessen der Schwarzen, Latinos und anderer Minderheiten vertreten.

Dies entspricht der Logik der Sichtweise, die sich nach „Hautfarbe, Klasse, Geschlecht“ richtet und die an Universitäten so modern ist. Diese Linse verzerrt jedoch auf dramatische Weise die Realität. Rassismus und andere Formen von Diskriminierung und gesellschaftlicher Rückständigkeit entspringen aus der Klassengesellschaft und der zugehörigen sozialen Ungleichheit und dienen dazu, die Herrschaft der Kapitalisten aufrechtzuerhalten. Sozialisten kämpfen mit aller Kraft für die Vereinigung aller Teile der Arbeiterklasse, ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihrer Ethnie oder ihres Geschlechts, während die herrschende Elite und ihre Behörden kontinuierlich versuchen Arbeiter, insbesondere durch ethnische und nationale Abgrenzung, gegeneinander auszuspielen. Die einzig fortschrittliche Methode, um Rassismus und andere ideologische Gifte zu bekämpfen, liegt im revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus.

Taylor schreibt, dass „Fragen nach der Verpflichtung der Occupy-Bewegung zu Vielfältigkeit, Einbeziehung und Anti-Rassismus aufgekommen sind“. Taylor weist Kritik dieser Art von Seiten der Mainstream-Medien zurück und fährt dann fort: „Aber Kenyon Farrow, der für American Prospect schreibt, wurde wesentlich mehr Gehör geschenkt, nachdem er einen hetzerischen Artikel über das 'Rassenproblem der Occupy Wall Street' geschrieben hatte, der die Bewegung pauschal als rassistisch und ratlos abtat.“

Nachdem man Farrows Artikel gelesen hat, stellt man sich die Frage, wer Farrow „wesentlich mehr Gehör“ schenkt? Sein Beitrag stellt einen extrem rechten und feindseligen Standpunkt gegenüber der aufkommenden Opposition der Bevölkerung gegen die soziale Ungleichheit dar. Farrow vergleicht die Demonstranten, die gegen die Wall Street protestieren, mit dem Erzkonservativen Rush Limbaugh auf verleumderische Weise und verurteilt sie dafür, dass sie es wagen, die enorme wirtschaftliche Last der arbeitenden Bevölkerung eine Form der „Sklaverei“ zu nennen. (Ob er jemals von „Lohnsklaverei“ gehört hat, die erstmals im späten 18. Jahrhundert erkannt wurde?) Der American Prospect, in dem Farrow seine Abhandlung veröffentlicht, ist eine durch und durch etablierte Publikation, die der Demokratischen Partei nahe steht und 1990 gegründet wurde. Zwei ihrer Mitbegründer, Robert Kuttner und Robert Reich, stehen schon lange mit der Demokratischen Partei (und Demokratischen Regierungen) oder mit den Mainstream-Medien oder mit beiden in Verbindung.

Obwohl Taylor Kritik übt, verleiht sie Farrows widerlichem Artikel Glaubwürdigkeit, indem sie so verfährt, als sei dies ein seriöser Beitrag zu einer „linken“ Debatte. Sie lehnt seine Argumente nicht von vornherein ab, sondern entgegnet lediglich, dass Farrows Kommentare „ziemlich unfair gegenüber einer Bewegung sind, die gerade einmal über einen Monat existiert.“

Und als Reaktion auf die Behauptung, dass die Bewegung „zu weiß“ sei, beeilt sich Taylor zu beteuern, dass die Bewegung sich „aktiv damit beschäftigt, wie man die gesamten 99 Prozent einbezieht“. Sie unterstützt die „Occupy the Hood“-Bewegung, eine Gruppe, die aus schwarzen Nationalisten und Befürwortern des Kapitalismus besteht und in ihren Leitsätzen beklagt, dass „die fragwürdigen, unethischen Aktivitäten im Zentrum Manhattans … und im Amerika der Konzerne, unsere wirtschaftlichen Anstrengungen und die Zukunft aller geschäftlichen und persönlichen Bestrebungen direkt beeinflussen“.

Sie macht Reklame für die Bemühungen der Occupy-Bewegung mit „gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern“ zusammenzuarbeiten und merkt an, dass „die Wahrscheinlichkeit, dass schwarze und aus Lateinamerika stammende Arbeiter Gewerkschaftsmitglieder sind, überproportional höher ist – insbesondere in den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, die derzeit vor allem angegriffen werden.“ In Wirklichkeit sind Taylor und die ISO über das Schicksal der schwarzen und lateinamerikanischen Gewerkschaftsfunktionäre besorgt, mit denen sie einen prinzipienlosen Umgang pflegen.

Zum Abschluss dringt Taylor zu Themen vor, die sie als „Vernichtung farbiger gesellschaftlicher Gruppen“ darstellt. Sie schlägt Demonstrationen zu Institutionen vor, „die für die Zustände in schwarzen und braunen Stadtvierteln verantwortlich sind“. Neben Demonstrationen zu Polizeirevieren, schlägt sie Märsche „zu den lokalen Bildungsausschüssen [vor], falls diese planen … mehr Schulen in schwarzen Bezirken zu schließen, zu den vielen Banken, die für Unmengen von Zwangsvollstreckungen in schwarzen Stadtteilen verantwortlich sind, oder zum Hauptpostamt in ihrer Stadt, um gegen geplante Massenentlassungen der Postangestellten zu protestieren, von denen eine große Zahl schwarz ist oder anderen Minderheiten angehört.“

Und was ist mit allen anderen? Scheinbar sollen sie zur Hölle fahren. Oder sollten „weiße“ Organisationen Märsche zu Firmen oder Institutionen vorschlagen, die eine große Zahl von „Weißen“ entlassen wollen? Die Logik ist unheimlich und führt in die Richtung eines Krieges zwischen Bevölkerungsgruppen. Was ist, wenn das fragliche Hauptpostamt oder die lokalen Bildungsausschüsse den Protesten tatsächlich Beachtung schenken würden und sich dazu entschließen, Arbeiter einer anderen Hautfarbe oder ethnischen Gruppe zu entlassen oder Schulen in einer anderen Gemeinde zu schließen? Was würde Taylor dann vorschlagen?

Das ist vergiftetes, spalterisches Zeug, das in einer Publikation erscheint, die sich selbst „sozialistisch“ nennt. Taylor schreibt weiter, dass die Bewegung „Aufmerksamkeit auf die Art und Weise richten sollte, in der sich Ungerechtigkeit und Ungleichheit in wirtschaftlichen Fragen und aufgrund von Hautfarbe überschneiden, sie solle sich für „positive Diskriminierung einsetzen und die Bevorzugung von Afroamerikanern und Latinos in der Hochschulbildung sowie bei Jobs und Wohnungsbauprogrammen fordern.“

Taylor und die ISO teilen die Auffassung nicht, dass angemessene Arbeit, Bildung und Wohnraum unabhängig von Hautfarbe oder Ethnie für alle verfügbar sein müssen, da dies soziale Rechte sind! Noch einmal: Das ist unter den Gegebenheiten der Wirtschaftskrise ein Rezept für ein soziales Desaster. Diese Organisation lehnt den Kapitalismus nicht ab. Sie will angenehmere Zustände für ihre eigenen Wählerschichten und spielt dadurch mit dem Feuer.

Als Taylor an den Punkt kommt, die Occupy-Bewegung wegen der Tatsache fertig zu machen, dass „deren Hauptorganisatoren in vielen Städten zu oft … junge weiße Männer sind“, möchte man nur noch die Augen abwenden.

Dies ist die Politik des „Feilschens um Privilegien“, wie Lenin sie beschrieb. Es ist das Bemühung von elitären Schichten in den verschiedenen Wählerschichten, für die Ethnie und Geschlecht besonders wichtig sind, nach einem größeren Anteil des verfügbaren Wohlstands zum Nachteil anderer Gruppen zu greifen.

Bestimmte Schlüsselbegriffe tauchen in Taylors Artikel überhaupt nicht auf: Barack Obama, Demokratische Partei, Sozialismus, Kapitalismus. Das Weglassen ist nicht zufällig. Taylor und die ISO navigieren im bestehenden politischen Rahmen, bei den Demokraten und um sie herum sowie bei der Kampagne zur Wiederwahl Obamas. Taylor gibt vor, Sozialistin zu sein, lehnt jedoch sozialistische Traditionen und Prinzipien gänzlich ab. Ihre Anmaßung und die der gesamten ISO muss entlarvt werden.

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