Fahrzeugtechnik Dessau verlangt 48-Stunden-Woche und Lohnkürzungen

Wer geglaubt hat, Arbeitsbedingungen wie in Osteuropa oder den USA seien in der von Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung geprägten deutschen Metallindustrie nicht möglich, wird durch ein Ereignis im sachsen-anhaltinischen Dessau eines Besseren belehrt.

Die in der Bauhaus-Stadt ansässige Fahrzeugtechnik Dessau GmbH (FTD) hat die Arbeitsverträge ihrer 130 Beschäftigten mit sofortiger Wirkung aufgelöst und ihnen den Entwurf eines Knebelvertrags vorgelegt. Er sieht die Erhöhung der Wochenarbeitszeit von 38 auf 48 Stunden, die Einführung eines Drei-Schicht-Systems, die Verkürzung des jährlichen Urlaubs von 30 auf 24 Tage und drastische Lohnsenkungen vor.

Zuschläge und die Anerkennung von Berufsjahren gibt es in den neuen Verträgen nicht mehr. Zudem sind die Verträge bis Ende des Jahres befristet. Das Unternehmen behält sich außerdem vor, die individuell vereinbarten Gehälter je nach Kassenlage zu zahlen. Eine weitere Vertragsklausel hält fest, dass Arbeiter mit bis zu 50 Prozent ihres Gehalts für Produktionsfehler haften.

Als sich die Betroffenen weigerten, die neuen Verträge zu unterschreiben, warf ihnen FTD-Geschäftsführer Stefan Movila Sabotage und Arbeitsverweigerung vor. Die Belegschaft protestierte daraufhin am 26. Oktober vor dem Werkstor.

Doch so empörend die von der FTD diktierten Arbeitsbedingungen sind, von der IG Metall haben die Betroffenen nur wenig Unterstützung zu erwarten. Die Gewerkschaft sieht ihre Aufgabe darin, zwischen Belegschaft und Geschäftsführung zu vermitteln und letzterer auf halbem Weg entgegenzukommen.

Der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Dessau Manfred Pettche klagte, der Geschäftsführer gehe mit seinem Vorwurf, die Beschäftigten verweigerten die Arbeit, „entschieden zu weit“. Die IG Metall erwarte, dass er seine Aussagen zurücknehme und ein langfristiges Konzept zur Standort- und Beschäftigungssicherung vorlege. „Die IG Metall versucht nun auf dem Verhandlungsweg gemeinsam mit dem Betriebsrat und Vertretern der Stadt Dessau den Chef zur Vernunft zu bringen“, schreibt die Gewerkschaft.

Der Oberbürgermeister von Dessau berief zu diesem Zweck am Donnerstag einen Runden Tisch ein, an dem Vertreter von IG Metall, Betriebsrat, Industrie- und Handelskammer (IHK), Arbeitsagentur und FTD-Geschäftsführer Movila teilnahmen. Die IG Metall bot Verhandlungen über einen Haustarifvertrag auf der Basis des Metalltarifvertrags für Sachsen-Anhalt an.

Die FTD baut Waggons, Schienenfahrzeuge und -komponenten. Nach einer Insolvenz im März 2008 hatte das rumänische Unternehmen Compania de Transport Feroviar Bucuresti S. A. (CTF) den Dessauer Betrieb übernommen. Als Geschäftsführer setzte das Unternehmen Stefan Movila ein, dessen Familie zu diesem Zeitpunkt noch Miteigentümer der CTF war.

Die IG Metall versucht nun, das provokative Tarifangebot als Laune des arroganten rumänischen Geschäftsführers abzutun, der sich weigere, die deutschen Gepflogenheiten zu achten und mit der Gewerkschaft zusammenzuarbeiten. Tatsächlich nutzt Movila nur die Voraussetzungen aus, die von der IG Metall selbst geschaffen wurden.

Mit der Einführung von Haustarifverträgen, betrieblichen Sonderregelungen und Niedrigtarifen in den neuen Bundesländern hat sie den Einheitstarifvertrag systematisch unterhöhlt. Nicht zufällig ist auch Peter Hartz IG-Metall-Mitglied, nach dessen Plänen in Deutschland ein riesiger Niedriglohnsektor entstanden ist. Die IG-Metall-Funktionäre und Betriebsräte haben zudem die Strategie der großen Konzerne unterstützt, große Teile der Zulieferindustrie nach Osteuropa auszulagern, wo noch weit schlechtere Arbeitsbedingungen herrschen, als sie Movila nun bei FTD durchsetzen will.

Bis auf die Klausel, dass Arbeiter mit 50 Prozent ihres Lohns für Fehler haften, sind die Forderungen des Geschäftsführers auch mit deutschem Recht vereinbar – die 48-Stunden-Woche genauso wie 24 Tage Jahresurlaub, Drei-Schicht-System und individuell verhandelbare Löhne.

Die Fahrzeugtechnik Dessau ist ein Musterbeispiel dafür, wie die IG Metall durch schrittweise Zugeständnisse mitgeholfen hat, einen Großbetrieb herunterzufahren.

1990 waren auf Beschluss der Volkskammer alle volkseigenen Betriebe der DDR in Kapitalgesellschaften umgewandelt worden. Der Dessauer Betrieb des Kombinats Schienenfahrzeugbau, in dem zu Spitzenzeiten 6.000 Männer und Frauen arbeiteten, wurde zur Waggonbau Dessau GmbH. Tausende verloren in den folgenden Jahren ihre Arbeit.

Ende 1994 verkaufte die Treuhandanstalt die Muttergesellschaft Deutsche Waggonbau Aktiengesellschaft (DWA) an die amerikanische Investmentgesellschaft Advent. Das Dessauer Werk mit seinen verbliebenen 700 Beschäftigten schied aus der DWA aus und sollte „abgewickelt“, also geschlossen werden.

Doch der von der Treuhandanstalt eingesetzte Insolvenzverwalter Joachim Pfannmüller wickelte nicht ab, sondern schwang sich zum neuen Geschäftsführer des Dessauer Werks auf, das nun als Fahrzeugtechnik Dessau (FTD) firmierte. Gemeinsam mit dem Betriebsrat entwickelte er ein Konzept für eine Restbelegschaft von 180 Arbeitern.

Der große Teil der alten Belegschaft wurde mit Unterstützung der Gewerkschaft in eine Qualifizierungsgesellschaft abgeschoben. Die ehemaligen Schienenfahrzeugbauer pflegten nun das weite Industrie-Areal. Damals lag die Arbeitslosenquote in Dessau, wo seit 1990 neun von zehn Industriearbeitsplätzen vernichtet worden sind, bei 25 Prozent.

Die FTD sollte laut Pfannmüller der „Porsche unter den Schienenfahrzeugproduzenten“ werden. Der erste Großauftrag der FTD war die Fertigung des so genannten „Metropolitan“, eines Luxuszugs für Geschäftsleute (viel Leder, Holz und dicker Teppich). Die Deutsche Bahn wollte damit dem Flugzeug Konkurrenz machen.

Das Startkapital erhielt Pfannmüller von den Beschäftigten. Gemeinsam mit dem damaligen Betriebsratsvorsitzenden Horst Heinze (inzwischen Zweiter Bevollmächtigter der IG Metall Dessau) überredete er die Beschäftigten, jeweils 5.000 DM einzuzahlen.

Das Unternehmen war so zu 63 Prozent im Besitz der Belegschaft, 37 Prozent der Aktien gehörten der Geschäftsleitung, vor allem Pfannmüller. Um an Geld für neue Investitionen zu gelangen, wurde die FTD 1999 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Als dann im Mai 2006 die russische ZAO Transmashholding bei FTD einstieg, erhoffte sich Pfannmüller „Synergieeffekte“. Die russische Holding, die einem milliardenschweren Oligarchen gehört, ist das größte Unternehmen auf dem russischen Schienenfahrzeugmarkt.

Doch die erhofften Synergien blieben aus. Der Metropolitan floppte schon früh, er wurde nur wenige Jahre auf der Strecke Berlin-Hamburg eingesetzt. Das gesamte Konzept wurde 2004 begraben. Der „Protos“, ein selbst entwickelter Regionalzug, konnte lediglich in die Niederlande verkauft werden und führte die Firma in den Ruin. Im März 2008 war die FTD pleite.

Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten noch 168 Menschen dort. Der neue Insolvenzverwalter Volkhard Frenzel sorgte mit einem Sanierungskonzept nochmals für massive Kostensenkungen auf dem Rücken der Beschäftigten. 50 der insgesamt 168 Arbeiter wurden in eine von der Gewerkschaft unterstützte Transfergesellschaft entlassen. Die Arbeitsproduktivität wurde stark erhöht. Am Ende stand eine rund 35-prozentige Kostenreduzierung.

Im Dezember 2008 kaufte dann die rumänische CTF das so sanierte Unternehmen und setzte den heutigen Geschäftsführer Movila ein. Etwa zur gleichen Zeit wurde die CFT selbst von der US-amerikanischen Kapitalgesellschaft Econo Pacific aufgekauft.

Mit Landesmitteln, also Steuergeldern, investierte CTF in Dessau rund 10 Millionen Euro. Bis im Februar dieses Jahres gingen die Geschäfte aber mehr recht als schlecht. Zuletzt waren viele der Beschäftigten in Kurzarbeit, der Betrieb kämpfte ums Überleben. Doch im Februar vermeldete Movila den Durchbruch. „Wir werden kurzfristig etwa 50 Leute einstellen und in drei Schichten sowie Sonnabend und Sonntag arbeiten müssen“, verkündete er.

Der Grund für die Euphorie waren angekündigte Millionen-Aufträge aus Russland und der Ukraine. Pro Tag sollten vier Güter-Waggons produziert werden. Auch mit Israel sei man in Verhandlungen, und 15 Züge des „Protos“ sollten schon bald in den Iran verkauft werden.

„Der Schienen-Porsche ist Geschichte“, kommentierte Betriebsratschef Jörg Werner. „Wir können auch Güter-Waggons.“ Er unterstützte die strategische Neuausrichtung der Firma. „Wir standen an dem Punkt, wo wir weiter hätten rumkleckern können oder anfangen mussten zu klotzen und Aufträge ran zu holen“, sagte er der Mitteldeutschen Zeitung. Mit der rumänischen Muttergesellschaft und Movila habe man 2011 auf bessere Zeiten gehofft. Daher habe man „sich immer um Verständigung, um ein Miteinander bemüht“.

Geschäftsführer Movila nutzte dies offensichtlich aus. Er kalkulierte, dass er mit dem schweren Geschütz der neuen Arbeitsverträge erhebliche Zugeständnisse erreichen könne. „Wer verhandelt, verlangt erst einmal das Höchste, um sich dann in der Mitte zu treffen“, zitiert ihn die regionale Presse. Die Kündigungen nahm er schon vor dem Treffen am Donnerstag wieder zurück. Er berief sich auf Missverständnisse bei der Übersetzung vom Rumänischen ins Deutsche. Prinzipiell sei alles verhandelbar.

Er beharrte aber weiterhin auf massive Zugeständnisse. „Ich musste reagieren“, erklärte Movila. Das Unternehmen brauche eine leistungsgerechtere Bezahlung und eine Möglichkeit, auf Fehler zu reagieren. Im vergangenen Jahr seien Verluste in Höhe von 400.000 Euro entstanden. Im Jahr 2011 seien in keinem Monat die geplanten Produktionsvorgaben erfüllt worden. Im Oktober sei nur ein Drittel der Aufträge im Wert von 777.000 Euro abgearbeitet worden. Kein Investor sei aber in der Lage, langfristig rote Zahlen zu schreiben.

Das ist die Sprache, die Gewerkschaft und Betriebsrat verstehen – und akzeptieren werden. Nach dem Runden Tisch vom Donnerstag werden sie gemeinsam mit Movila dafür sorgen, dass das Unternehmen wieder „schwarze Zahlen“ schreibt - zu Lasten der Beschäftigten.

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