Washington und die europäischen Mächte versuchen unter dem Deckmantel ihrer Phrasen über Demokratie und die humanitäre Lage die öffentliche Meinung mit der Brutalität Gaddafis so zu beeinflussen, dass sie eine neokoloniale Intervention und die Absicherung der imperialistischen Kontrolle über die Erdölfelder des Landes akzeptiert.
Im Verlauf des Wochenendes wurde die Macht Gaddafis weiter untergraben. Noch mehr politische und militärische Personen wurden abtrünnig und die Opposition konnte noch mehr wichtige Städte erobern. Am bedeutsamsten war es, dass Zawiyah an die Rebellen fiel. Zawiyah liegt ungefähr 45 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripolis und ist ein Ölhafen und Raffineriestandort. Die Eroberung von Zawiyah zeigt an, dass die Rebellion, die sich bis dahin vor allem im Osten des Landes ausbreitete, inzwischen auch den Westen des Landes erfasst hat.
Obwohl Gaddafis Armee Zawiyah bis Montagfrüh noch eingekreist hatte, hat sie nicht versucht, die Stadt mit ihren 200.000 Einwohnern zurück zu erobern. Die vom Diktator noch kontrollierten Gebiete beschränken sich nach letzten Berichten auf Tripolis und Gaddafis Geburtsstadt Sirte.
Die schwindende Herrschaft Gaddafis hat die Bestrebungen der Imperialisten, auch mit militärischen Mitteln zu intervenieren, weiter angeheizt. Am Wochenende drang das britische Militär zweimal in die libysche Wüste ein, um britische Staatsbürger aus dem Land zu holen. Beim ersten Mal landeten SAS Spezialisten mit Hercules-Maschinen, um 150 Menschen, vor allem britische Erdölarbeiter, zu retten und sie nach Malta auszufliegen. Beim zweiten Mal, am Sonntag, flogen drei Flugzeuge der Royal Air Force weitere 150 Zivilisten aus.
Am Sonntag führte auch die deutsche Luftwaffe einen Einsatz durch. Zwei Militärflugzeuge landeten auf einem Privatflugplatz der Wintershall AG und evakuierten 22 Deutsche und 112 andere Staatsbürger und flogen sie nach Kreta aus.
Diese Kommandounternehmen markieren den Beginn des Einsatzes militärischer Mittel in der libyschen Krise, denen höchstwahrscheinlich aggressivere Maßnahmen folgen werden. In den USA und in Europa werden die Rufe nach der Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen immer lauter. Diese soll von US-Militärflugzeugen überwacht und durch militärische Hilfsaktionen für die Gegner Gaddafis ergänzt werden.
Die Hauptsorge Washingtons ist, dass es zu einem längeren Bürgerkrieg kommen könnte, durch den der Ölpreis noch weiter in die Höhe getrieben wird. Auch wird befürchtet, dass andere Öl produzierende Diktaturen in Nordafrika und im Nahen Osten, wie Saudi Arabien, destabilisiert werden könnten oder dass dort ein politisches Machtvakuum entstehen könnte, in dem die USA wenig Einfluss hätten.
Die New York Times veröffentlichte am Sonntag auf der ersten Seite einen Artikel mit der Schlagzeile "Das Vakuum nach Gaddafi". In dem Artikel heißt es, dass die USA über die libysche Armee sehr viel weniger Kontrolle hätten als über die ägyptische und die tunesische. Er schloss mit der Vermutung, dass unter dem Deckmantel humanitärer Argumente eine militärische Besetzung des Landes stattfinden könne.
"Einige Experten“, so die Times, "fragen sich, ob Libyen zum ersten Experiment für den Grundsatz der ‘Verantwortung zum Schutz’ werden könnte, worunter die Idee zu verstehen ist, eine Truppe der Vereinten Nationen einzusetzen, um im Fall zunehmender Gewaltexzesse den Tod von Zivilisten zu verhindern...
Da das Land jetzt in eine östliche und eine westliche Sphäre geteilt ist, würde der Einsatz einer Schutztruppe von außen Tripolis Zeit verschaffen, sich als Hauptstadt zu behaupten und die Kontrolle wieder zu gewinnen."
In den letzten Tagen wurde von den USA und Europa ein Bündel von Maßnahmen ergriffen, um Gaddafi zu isolieren und den Weg für eine größere militärische Intervention zu ebnen. Nachdem am Freitag die Schließung der US-Botschaft in Tripolis und die Verhängung einseitiger Sanktionen bekannt gegeben worden waren, rief Präsident Obama am Samstag Gaddafi erstmals auf zurückzutreten. Das Weiße Haus veröffentlichte einen Bericht über ein Telefongespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, in dem Obama forderte, Gaddafi solle " sein Amt sofort aufgeben".
Am Montag trifft Obama in Washington mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-Moon zusammen, um weitere Aktionen gegen das libysche Regime zu diskutieren. Außenministerin Hillary Clinton spricht in Genf vor dem UN Rat für Menschenrechte, der am Wochenende einstimmig den vorläufigen Ausschluss Libyens beschlossen hat.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschloss am Samstag einstimmig Wirtschaftssanktionen gegen Libyen und machte den Weg frei, um Gaddafi und seine wichtigsten Anhänger vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen.
Der Generalsekretär der Nato Anders Fogh Rasmussen, hielt am Freitag eine Dringlichkeitskonferenz der Nato-Botschafter ab, um die Möglichkeiten militärischer Hilfestellung bei der Evakuierung zu erörtern.
Die britische Zeitung The Guardian zitierte am Samstag nicht bestätigte Berichte, dass der frühere britische Premierminister Tony Blair mit Gaddafi telefoniert und ihn gewarnt habe, dass Nato-Truppen in sein Land geschickt werden könnten. Dies hatte Gaddafis Sohn Saadi in einem Telefoninterview aus Tripolis behauptet.
Die New York Times zitierte am Samstag Tom Malinowski, den Direktor des Washingtoner Büros von Human Rights Watch mit den Worten: "Auch wenn nicht explizit von Flugverbotszonen gesprochen wird, dann bedeutet das Treffen der Nato heute, dass sie mehr im Sinn hat als Diplomatie... Ich vermute, dass es um militärische Alternativen geht." Malinowski hat an Treffen im Weißen Haus zur libyschen Krise teilgenommen.
Die Financial Times schrieb am Samstag, dass Vertreter Europas die Möglichkeit bewaffneter Rettungsaktionen für die Tausenden Angehörigen europäischer Staaten erwägen, die immer noch in Libyen gestrandet sind. Die Zeitung zitierte einen "hohen EU-Politiker" mit den Worten: "Das ist eine der Möglichkeiten, an denen wir arbeiten. Wir sind in Kontakt mit den EU-Mitgliedsstaaten, um herauszufinden, ob sie über militärische oder zivile Kapazitäten verfügen, die dafür eingesetzt werden können."
In auf Band gesprochenen Interviews aus Kairo, die in den Fernsehtalkshows am Sonntagmorgen gesendet wurden, griffen der Republikanische Senator John McCain und der unabhängige Senator Joseph Lieberman – der in den Präsidentschaftswahlen von 2000 als Vizepräsident kandidierte – Obama an, weil er in Libyen nicht weit genug gehe. Sie forderten eine Flugverbotszone und Militärhilfe für die Opposition.
Die beiden monierten, dass die USA nur eine Fähre im Einsatz habe, während Großbritannien schon ein Kriegsschiff und Hercules-Maschinen geschickt habe.
Auch am Sonntag sagte US-Außenministerin Hillary Clinton, sie gehe davon aus, dass die US-Regierung zu solchen Maßnahmen bereit sei. Sie erklärte, dass sie den Oppositionsgruppen "die Hand ausstrecke" und bereit sei, Libyern, die das Regime stürzen wollten, "jede Art von Hilfe anzubieten".
Die Krokodilstränen, die die USA und ihre europäischen Verbündeten über die Brutalität Gaddafis gegen die Protestierenden vergießen, sind höchst zynisch. Tagelang schwiegen Obama und seine europäischen Kollegen über die Massaker Gaddafis in Bengasi, Tripolis und anderen Städten. Da sie in den letzten zehn Jahren engste Beziehungen zu diesem Regime aufgebaut hatten, das ihnen freie Hand ließ, die libyschen Ölvorräte auszubeuten, hofften sie, Gaddafi sei rasch in der Lage, den Aufstand niederzuwerfen und die Ordnung wiederherzustellen.
Erst als klar wurde, dass es anders lief und die Krise die Ölförderung ernsthaft zu beeinträchtigen und eine Panikreaktion bei den Weltmarktpreisen auszulösen begann, legten sie eine andere Gangart ein und verurteilten ihren bisherigen Verbündeten. Obama, Clinton, Sarkozy und Co. hatten den Diktator in den letzten Monaten alle hofiert, nachdem Tony Blair 2004 mit Gaddafi den "Vertrag in der Wüste" abgeschlossen und die Bush-Regierung 2008 wieder volle diplomatische Beziehungen mit dem Regime aufgenommen hatte.
Sie hatten geflissentlich die Frage von Gaddafis Rolle bei dem terroristischen Bombenanschlag auf den Pan Am Flug 103 von 1988 unter den Tisch fallen lassen, bei dem das Flugzeug auf das schottische Lockerbie stürzte und 270 Zivilisten, mehrheitlich Amerikaner, tötete. Der frühere "tolle Hund" und "Schurke" wurde zu einem "Verbündeten im Kampf gegen den Terror und Garanten der Stabilität in der Region". Gleichzeitig wurden dadurch der betrügerische Charakter des "Kriegs gegen den Terror" und seine Funktion als Deckmantel für die aggressive Verfolgung der Interessen des US-Imperialismus überall auf der Welt entlarvt.
Erst im November letzten Jahres gab der Internationale Währungsfonds einen begeisterten Bericht über Libyen heraus, weil das dortige Regime die neoliberalen Marktreformen energisch vorantreibe. Der IWF lobte Gaddafis "fortgesetzte Bestrebungen, seine Wirtschaft zu modernisieren und auf eine breitere Grundlage zu stellen." Besonders hervorgehoben wurden seine "Anstrengungen, die Rolle des privaten Sektors in der Wirtschaft zu fördern." Eben diese Politik führte zu immer größerer wirtschaftlicher Not für die Arbeiterklasse und die arme Landbevölkerung, was die Wut in der Gesellschaft ansteigen und in diesem Monat explodieren ließ.
Gaddafi ist ein Verbrecher, der vor Gericht gestellt zu werden verdient. Aber keine der augenblicklichen Führungspersönlichkeiten der Imperialisten, die ihn jetzt verurteilen, ist berechtigt, mit dem Finger auf ihn zu zeigen. Sie alle sind Komplizen in Aggressionskriegen und neokolonialistischen Besetzungen, bei denen Hunderttausende von Menschen im Irak und in Afghanistan getötet wurden. Sie sind in die damit einhergehenden Verbrechen verwickelt, in die Folterungen, ungesetzlichen Überstellungen und endlosen Inhaftierungen.
Die atemberaubende Scheinheiligkeit der US-Regierung findet ihren Höhepunkt in der Tatsache, dass Gaddafi vor den Internationalen Gerichtshof gebracht werden soll, sie selbst sich aber weigert, dessen Autorität über Amerikaner anzuerkennen. Vertretern der USA wird zugestanden, straflos Kriegsverbrechen zu begehen.
In der Resolution des UN Sicherheitsrates gegen Libyen, die am Samstag verabschiedet wurde, bestanden die USA auf einer Klausel, dass Bürger aus Staaten, die den Internationalen Gerichtshof nicht anerkennen, für Verbrechen bei den libyschen Angriffen nicht bestraft werden können. Vertreter Amerikas drangen darauf, diesen Paragraphen einzufügen, um zu verhindern, dass ein Präzedenzfall entsteht, durch den amerikanische Soldaten und Politiker strafrechtlich verfolgt werden könnten.