Die Protestbewegung der Arbeiter und Jugendlichen in Wisconsin gegen die Sparmaßnahmen und Angriffe auf Regierungsangestellte wuchs am Freitag weiter an, als Zehntausende Lehrer und Schüler ihre Klassenzimmer verließen. Gleichzeitig wurde die Großdemonstration in Madison unvermindert fortgesetzt.
Die am Montag mit einem unerwartet großen Marsch von 1.200 Studenten der Universität von Wisconsin gestartete Demonstration zog mittlerweile Hunderttausende zusätzlich in den Kampf. Die Menge rund um das Kapitol wuchs am Dienstag auf 13.000 bis 20.000 an und die Teilnehmerzahl an den Demonstrationen am Mittwoch, Donnerstag und Freitag wurde auf ca. 20.000 bis 30.000 geschätzt. Auch heute wird eine große Demonstration erwartet.
Freitag war bis jetzt wahrscheinlich die größte Demonstration. Busse brachten rund 11.000 Studenten und Arbeiter der Universität von Wisconsin von den Universitätsstandorten in Milwaukee, Eau Claire, La Crosse, Superior, River Falls, Green Bay, und Stout in die Bundeshauptstadt Madison während Lehrer und Regierungsangestellte weiterhin in großer Zahl hinzukamen.
Inspiriert durch die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo, die den Sturz des US-gestützten Diktators in Ägypten, Hosni Mubarak, brachten, haben Tausende von Besetzern, hauptsächlich Studenten, seit Dienstag das Kapitol-Gebäude kontinuierlich besetzt.
Obwohl die größte Demonstration in der Geschichte der Stadt Madison, und vielleicht sogar in der Geschichte des Bundesstaates Wisconsin, bisher friedlich verlief, gibt es eine große Polizei-Präsenz, und dazu die Drohung von Gouverneur Scott Walker, die Nationalgarde einzusetzen.
Die rechtsextremen Tea-Party Gruppierungen haben für Samstag zu einem Gegen-Protest in der Nähe des Kapitols in Madison aufgerufen. In einer Ankündigung der Tea-Party für die Kundgebung wurden die Unterstützer aufgefordert, "Reinigungsmittel zur Säuberung des Schweinestalls mitzubringen, der von den liberalen Gewerkschaften in UNSEREM Haus zurückgelassen wurde".
Der neu gewählte republikanische Gouverneur Walker versucht, eine Gesetzesvorlage durchzusetzen, die Regierungsangestellte zwingen würde, mehr als doppelt so hohe Beiträge für die Gesundheitsversorgung und die Pensionskasse aus ihren Taschen zu bezahlen, was nach unterschiedlichen Schätzungen einer Lohnkürzung zwischen acht und zwanzig Prozent entsprechen würde. Die Arbeiter würden zusätzlich das Recht verlieren, Tarifverhandlungen zu führen und Lohnerhöhungen würden auf die Teuerung oder noch weniger begrenzt. Die Maßnahme ermöglicht es dem neuen Gouverneur zudem, Arbeitnehmer zu entlassen, falls er den Notstand ausruft.
Weil das Gesetz eine explosive Konfrontation zwischen dem Gesetzgeber und dem breiten öffentlichen Widerstand gegen Walkers Kürzungen auslösen würde, sind die demokratischen Senatoren gestern aus Wisconsin geflohen, um eine Verzögerung bei der Verabschiedung des Gesetzes zu erreichen. Dieses Manöver beraubt die Republikaner der Drei-Fünftel-Anwesenheits-Mindestzahl für eine Beschlussfähigkeit im Parlament.
Das ist jedoch bloß Effekthascherei von den Demokraten, da sie zusammen mit den Gewerkschaften ähnlichen Sozialabbau in anderen Bundesstaaten, wie auch in Washington unterstützen. Präsident Barack Obama hat einen Haushalt eingebracht, der Kürzungen in Höhe von über einer Billion US-Dollar vorsieht, von denen überwiegend die Arbeiterklasse betroffen sein wird. Die Manöver der Demokraten zielen darauf ab, die politische Lage zu stabilisieren und es zu ermöglichen, die Verhandlungen zwischen den großen Wirtschaftsparteien und den Gewerkschaften fortzusetzen, um die Umsetzung des Sparkurses zu sichern.
Am Freitag jedoch schlossen sich zusätzlich Tausende Arbeiter und Jugendliche aus dem ganzen Bundesstaat einer wachsenden Welle von Arbeitsniederlegungen und Schulboykotten an, womit sie sich effektiv weigern, ihren Kampf aus der Hand zu geben und diesen der Demokratischen Partei oder der Gewerkschaft anzuvertrauen.
Am Freitag erzwang die Arbeitsverweigerung der Lehrer im Bundesstaat Wisconsin die Schließung der öffentlichen Schulen in Milwaukee, dem mit Abstand größten Bezirk im Bundesstaat. Noch vor Beginn des Schultages am Freitag hatten sich in dieser Stadt mit über 600.000 Einwohnern fast 600 Lehrer krank gemeldet, um an den Demonstrationen teilnehmen zu können, was die Schließung von über 200 Schulen in der Stadt erzwang. Nur einen Tag zuvor hatte der Schulrat Gregory Thornton gegenüber den Medien geprahlt, dass er die Bewegung erfolgreich daran gehindert habe, sich bis nach Milwaukee auszuweiten, indem er den Lehrern mit "disziplinarischen Strafmaßnahmen" gedroht hätte.
Den dritten Tag in Folge wurde Madison, der zweitgrößte Schulbezirk im Bundesstaat, wegen dem Lehrerstreik zur kompletten Schließung der öffentlichen Schulen gezwungen. Fünfzehn weitere Schulbezirke in dem Gebiet um Madison blieben ebenfalls geschlossen. Auch in Janesville legten Lehrer die Arbeit nieder, einer Industriestadt mit 60.000 Einwohnern, die im Jahre 2010 durch die Schließung eines traditionellen Montagewerks von General Motors schwer getroffen wurde. Dutzende von anderen Schulen waren wegen der Abwesenheit der Lehrer am Freitag ebenfalls geschlossen.
Bis heute gibt es keine veröffentlichte Liste aller Schulen, die durch diese quasi Streikwelle geschlossen wurden. Aber die Anzahl beläuft sich mindestens auf mehrere hundert Schulen: Allein in Milwaukee sind es über 200 Schulen. Die Aktion umfasst mehr als 10.000 Lehrer und mindestens 200.000 Schüler und Studenten sind davon betroffen.
Zur gleichen Zeit wuchs eine studentische Bewegung zum Unterrichtsboykott in den Städten, den Kleinstädten und in den Oberschulen (Colleges) im ganzen Bundesstaat stetig an. Dutzende Schulen sind bereits betroffen und Zehntausende von Studenten sind beteiligt. Wie es aussieht wurde die Bewegung für einen Unterrichtsboykott von den Studenten über Facebook und andere soziale Medien sowie über Mundpropaganda selbst organisiert.
Studenten an den Universitäten von Wisconsin, sowohl im Grund- als auch im Hauptstudium, haben eine wichtige Rolle bei den Demonstrationen gespielt. Graduierte, die in der Regel als Hilfslehrkräfte und Assistenten arbeiten, sind durch die Kürzungen ihrer verbilligten Gebühren und bei den Unterstützungsleistungen durch Walkers Sparmaßnahmen betroffen. Studierende und ihre Familien leiden unter dem Anstieg der Studiengebühren, der schon unter Jim Doyle, dem demokratischen Vorgänger Walkers, begann. Im nächsten Jahr könnten sie sich um bis zu 10 Prozent erhöhen.
Der Umfang und die Intensität der Bewegung der Arbeiter und Jugendlichen in Wisconsin hat die Aufmerksamkeit der nationalen Medien und der Obama-Regierung auf sich gezogen. Sie fürchten die rasche Ausbreitung von ähnlichen Demonstrationen und Streiks über die Staatsgrenzen von Wisconsin hinaus.
Es gibt Anzeichen dafür, dass dies bereits im Gange ist. Tausende von Regierungsangestellten haben sich in den letzten Tagen in Columbus im Bundesstaat Ohio zu Protesten gegen ein ähnlich reaktionäres Gesetz von Gouverneur John Kasich versammelt.
In Indiana haben sich bis zu 600 Stahlarbeiter zum Regierungssitz in Indianapolis begeben, um gegen ein so genanntes Gesetze für das "Recht auf Arbeit" zu protestieren, das in Wahrheit die Rechte der Arbeiter weiter einschränkt.
Über 100 Schüler der "High School" im Südosten von Detroit verließen gestern den Unterricht und protestierten gegen anhaltende Sparmaßnahmen bei der Förderung der schönen Künste.